Indira Jackson

Rayan - Zwischen zwei Welten


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hoffte, dass ein leerer Akku der einzige Grund der nun erstorbenen Verbindung war.

      Bereits einen Kilometer vorher hielten sie an und gingen zu Fuß weiter. Etwa zweihundert Meter vor dem vermeintlichen Ziel fanden sie hinter einem Schuppen ein geparktes Auto. Dem Kennzeichen nach einem Mietwagen. Das Fahrzeug sah aus, als stünde es schon länger an der gleichen Stelle. Jassims Auto? Rayan knackte kurzerhand das Schloss und fand im Handschuhfach einen Vertrag, der auf den Namen seiner Firma ausgestellt war. Als Fahrername war Jassim eingetragen - also doch. Hanif und er überlegten, ob dies nun eine gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Aber auf jeden Fall hatten sie auf diese Weise einen zweiten Wagen, für den Fall, dass Jassim den Schlüssel noch haben sollte. Wo auch immer er sich befand.

      Ein Stück weiter kamen sie an ein altes Steinhaus, wie so viele hier in der Gegend. Es musste in seiner besten Zeit ein Bauernhof gewesen sein, umstehende Gebäude waren eindeutig als heruntergekommene, verwaiste Stallungen erkennbar. Auch das Haupthaus selbst hatte offenbar das Ende seiner Nutzung vor Längerem gesehen. Die Fenster waren trüb und standen vor Schmutz.

      Rayan wäre niemals etwas Besonderes an dem Bau aufgefallen, aber genau hier hatten sie die Koordinaten, die ihnen Cho genannt hatte, erreicht.

      Da das GPS auf fünf Meter genau war, konnte ihr Freund ihnen auch sagen, dass das Telefon nicht innerhalb des Gebäudes sein konnte. Sie kamen zu einer Buschgruppe, die genau zwischen dem Auto und dem Haus lag. Hier fanden sie schließlich das gesuchte Handy. Wie vermutet, war der Akku inzwischen leer.

      Rayan stand eine Weile still und analysierte, was hier vermutlich passiert war. „Jassim muss auf etwas gestoßen sein. Er ist vom Schloss kommend zunächst vorbei gefahren, hat sein Auto dort drüben abgestellt und ist anschließend bis hierher zu Fuß zurückgelaufen. Genau an dieser Stelle muss ihn dann jemand überrascht haben. Er hat das Handy fallen lassen. Vielleicht sogar absichtlich, damit wir ihn lokalisieren können. Er weiß schließlich, dass der Sender darin ist. Im Haus würde der nicht funktionieren. Oder er hat es unabsichtlich fallen lassen, weil er niedergeschlagen wurde. Auf jeden Fall ist es demjenigen nicht aufgefallen, oder es war ihm egal. Hätte er Angreifer das Satellitentelefon mit ins Haus genommen, hätten wir keinerlei Daten mehr bekommen, ohne freie Verbindung zum Himmel …“

      Lautlos schlichen sie als Nächstes zum Haus. Nachdem aus dem alten Schornstein oben am Dach Rauch kam, musste jemand den Ofen entzündet haben. Kein Wunder bei diesen Temperaturen. Hanifs anfängliche Begeisterung für den Regen hatte sich schnell gelegt. Inzwischen verfluchte auch er die Nässe, die einem bis in die Knochen vorzudringen schien. Vor allem zwei Männern, die sonst die Hitze und Trockenheit der Wüste kannten. Beide waren daher froh, dass es im Moment nur bedeckt war und endlich einmal aufgehört hatte zu nieseln.

      Sie zogen sich langsam am Fenster empor und versuchten, ins Innere zu blicken. Aufgrund des Zustands der Fenster kein einfaches Unterfangen. Aber sie konnten zumindest erkennen, dass etwa drei bis vier Männer im Haus sein mussten.

      Diese alten Bauernhäuser hatten in der Regel nur wenige Räume und so schien auch dieses Gebäude neben dem Hauptraum nur noch einen kleinen Zweitraum zu haben, etwas größer als ein großer Kleiderschrank. Wenn Jassim nicht völlig zusammengestaucht war, würde er dort wohl kaum hineinpassen. Eher unwahrscheinlich. Aber wo konnte er dann sein?

      Da sich die Männer völlig sicher fühlten, fiel es Hanif und Rayan leicht, komplett ums Haus zu schleichen, um es von allen Seiten in Augenschein zu nehmen. Dabei entdeckten sie eine Tür, die nach unten zu führen schein. Eventuell ein alter Kartoffel- oder Kohlenkeller. Schon wahrscheinlicher, dass Jassim dort war! Rayan hoffte inständig, dass er noch am Leben war und sie dort unten nicht nur seinen Leichnam finden würden.

      Sie zogen sich etwas weiter vom Haus zurück, um eine Weile ihre Optionen zu analysieren. Sollten Sie sofort handeln? Doch dann kamen sie zum Schluss, dass es zu gefährlich war, Jassim jetzt von hier zu befreien. Wenn es auch nur einem der Männer gelingen sollte, im Schloss Alarm zu schlagen, war es um Tahsin geschehen.

      Also beschlossen sie, sich aufzuteilen. Das würde nicht leicht werden, weil sie zeitlich genau abgestimmt agieren mussten.

      Hanif war ein hervorragender Kämpfer, der es mit vier Männern leicht aufnehmen konnte. Die Anzahl von Rayans Gegner konnten sie nicht vorhersehen, doch hofften sie, dass es ausreichte, wenn Rayan überraschend Tahsin aus dem Internat einfach mitnahm. Die Idee war, dass der Spion, der Tahsin im Auge behielt, erst zu spät merkte, was gespielt wurde, und Rayan mit Tahsin unbehelligt davonfahren konnte.

      Rayan wollte zunächst um zwölf Uhr den Termin mit dem Direktor wie geplant besuchen. Dann aber spätestens um 12 Uhr 15 Tahsin wie besprochen am Pool treffen.

      Er verabschiedete sich für den Moment von Hanif und ließ ihn dann zurück, um nach Eston Castle zu fahren.

      Der große Schwachpunkt an seinen Plan war, dass nicht auszuschließen war, dass der Direktor selbst der Informant sein könnte. Dann wussten die Gegner schon Bescheid und würden ihn erwarten. Doch dieses Risiko war er bereit, in Kauf zu nehmen. Was blieb ihm auch anderes übrig?

      Heute war bereits der sechste Tag nach der Entlarvung und Hinrichtung von Sachra, sie hatten also keine Zeit mehr zu verlieren, denn lange würden die Hintermänner nicht mehr warten. Und sobald sie neue Anweisungen senden würden, würden sie auch merken, dass Rayan schon lange nicht mehr in Zarifa war.

      Mai 2002 – Große Wüste – Leilas Geschichte

      Gegen Abend gesellte sich Leila zu ihnen ans Feuer. Die Männer hatten sie in Ruhe gelassen. Alle wussten, was ihr wiederfahren war und sie hatten Verständnis, dass sie jetzt Zeit für sich brauchte. Nur Rayan hatte zwei- oder dreimal nach ihr gesehen und ihr mit leiser Stimme berichtet, wie sie auf ihren Vater gestoßen waren. Am schwersten fiel es ihm, ihr die Hoffnung zu nehmen, dass er seine Verletzungen überleben würde. Allein die Chance, dass er noch lebte, wenn sie zu ihm zurückkamen, war so gut wie null.

      Leila wärmte sich an den Flammen, aß nur wenig und begann dann von sich aus, die Ereignisse aus ihrer Sicht zu schildern.

      „Mein Vater, ich und mein Verlobter, Achmed, wollten von Alessia aus nach Rabea Akbar. Doch wir sind nicht allzu weit gekommen. Wir haben sie vorher noch nicht einmal bemerkt und daher erwischten sie uns völlig unvorbereitet. Natürlich hielten zwei Männer Wache, die töteten sie vermutlich zuerst. Dann einen nach dem anderen. Selbst diejenigen, die sich ergaben. Mein Vater sagte ihnen, sie sollen sich nehmen was sie wollen, nur das Leben der Männer verschonen, wir sind friedliche Händler, keine Gefahr! Doch sie lachten nur.

      Mich schleppten sie wie eine Ware zusammen mit den Teppichen und Stoffen davon“, erzählte sie wie in Trance.

      Sie seien, wie Rayan schon vermutet hatte, in einem Pulk von zwanzig Mann unterwegs gewesen. Später hatten sie sich dann mit neun weiteren Verbrechern getroffen, die einen Wagen bewacht hatten, auf dem sie die überwiegend gekidnappten Mädchen beförderten. Die jungen Frauen seien total verängstigt gewesen, manche von ihnen erst zwölf oder dreizehn Jahre alt.

      Bereits am zweiten Abend habe Leila dann einen fatalen Fehler begangen. Der Anführer, der fette Mann, der die Auktion geleitet hatte, hatte sich ihr gegenüber gebrüstet, dass sie sein Prachtstück sei und ihm einen fetten Preis bringen würde. Dabei habe er ihr mit seinen groben Händen die Wange getätschelt, wie man das bei einem guten Pferd machte, das man belobigen wollte. Dann fuhr er fort, dass viele Männer bereit wären, für eine Jungfrau, die so schön sei wie sie, einen großen Batzen Geld auszugeben.

      Im vermeintlichen Triumph hatte sie ihm entgegen geschleudert, dass er leider Pech habe, denn sie sei keine Jungfrau mehr.

      Als sie daraufhin statt eines enttäuschten Blickes, sein diabolisches Grinsen sah, merkte sie zu spät, dass sie ihm in die Falle getappt war. Genau diese Information hatte er haben wollen. Am Abend schleppten einige der Männer sie dann an den Haaren in sein Zelt, wo er sie brutal vergewaltigte. Auch die nächste Nacht verlief genauso ab. Am Morgen der Auktion sagte er ihr, dass er inzwischen schon fast hoffte, dass keiner sie kaufen würde, denn sonst würde er „sein liebstes Spielzeug“ hergeben müssen.

      Sie