Indira Jackson

Rayan - Zwischen zwei Welten


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hatte das Gefühl, Rayan stellte sich gerade vor, wie es wäre, wenn er genau das getan hätte. Dann fuhr er fort:

      „Körperlich ist Smith schwach. Das ist genau der Grund, warum er so auf sein bisschen Macht steht, das er ausüben kann. Ich hatte mit ihm in der Vergangenheit schon öfter zu tun. Im Grunde hasst er mich abgrundtief. Ich bin alles, was er nicht ist. Ich sehe – vergib mir das Eigenlob – erheblich besser aus als er, bin körperlich fit und kann kämpfen. Viel besser als ihm lieb ist. Das weiß er genau. Denn er ist sehr schlau. Unterschätze niemals seine Intelligenz. Allerdings hat er keine Ahnung von meiner Identität Zuhause. Er kennt mich nur als den Amerikaner. Und das soll auch so bleiben. Das ist mein Ass, das ich im Ärmel habe. Ich lege niemals alle meine Karten auf den Tisch. Irgendwann kommt er aufgrund seiner Tätigkeit zu uns nach Arabien, dann kommt meine Zeit!“ Rayan knirschte tatsächlich kurz mit den Zähnen.

      Dann atmete er wieder tief durch. „Hier aber hat er die Macht. Wenn wir morgen nach Tahsin und Jassim suchen, können wir jegliche Rückendeckung brauchen, die wir kriegen können. Er wird uns die Polizei vom Leib halten. Zumindest bis zu einem bestimmten Grad …“

      Nach dieser Erklärung legte er Hanif seine rechte Hand auf dessen Schulter und brachte ihn so dazu, ihm direkt in die Augen zu sehen: „Im Grunde ist es nicht deine Schuld, sondern meine! Du wolltest mich verteidigen, wie du es von Daheim kennst. Mach dir keine Sorgen. Ich überlebe die Schläge – zumindest körperlich. Da hat man mich schon viel schlimmer verwundet …Ob ich die Schmach allerdings psychisch überlege, bin ich dagegen nicht so sicher …“ Er grinste Hanif an.

      Erleichtert lächelte Hanif zurück. Er hatte in dieser für ihn neuen Welt noch so viel zu lernen.

      Inzwischen war es weit nach ein Uhr und Hanif sehnte sich nach seinem Bett, doch Rayan war noch lange nicht dazu bereit.

      „Wir fahren nach Eston Castle“, informierte er den erstaunten Hanif. Der war zwar nicht begeistert, aber da er froh war, dass Rayan seine Wut offenbar überwunden hatte, widersprach er nicht.

      September 2014 – London – Unerwarteter Besuch

      Bereits nach einer knappen Stunde waren sie mit dem R8 am Schloss außerhalb von London angekommen. Eine Fahrt, die unter Beachtung der Verkehrsregeln erheblich länger gedauert hätte.

      Rayan hatte von Cho noch im Jet auf dem Flug hierher einen Plan mit dem Grundriss des Internats erhalten, den er sich eingeprägt hatte. Auch wo das Zimmer seines Sohnes sein musste, hatte Cho ihm markiert.

      Vor Ort bat er Hanif, im Wagen zu bleiben. Alleine war er schneller und kam besser voran. Hanif stimmte ihm zu, er wollte nicht schon wieder eine Auseinandersetzung provozieren.

      Daher schlich Rayan wenige Minuten später über das nächtliche Schulgelände. Aus seinem Spezialkoffer, den er aus dem Schließfach am Bahnhof mitgenommen hatte, war nicht nur eine Waffe, sondern auch ein Nachtsichtgerät zum Vorschein gekommen. Und außerdem Spezialwerkzeug zum Öffnen von Türen.

      Hanif hatte nicht schlecht gestaunt und wieder zu sich selber gesagt, dass er am besten nicht genauer wissen wollte, welche Art von Geschäften sein Herr hier üblicherweise betrieb.

      Die Gänge lagen verlassen da. Fast zu leicht kam er in den dritten Stock, in dem sich Tahsins Zimmer befand. Es handelte sich um ein Doppelzimmer und daher vermutete Rayan, dass auch der Mitbewohner schlafend in seinem Bett liegen würde. Er musste entsprechend absolut lautlos sein.

      Als er leise die Türe öffnete und in das Zimmer schlüpfte, setzte sein Herz einen Schlag aus: Tahsin war nicht dort! Hatten die Gegner doch von seiner Reise Wind bekommen und bereits zugeschlagen? Einen Moment wurde ihm fast schlecht bei dem Gedanken. Dann zwang er sich, logisch nachzudenken. Auch der Zimmergenosse seines Sohnes war nicht da, beide Betten schienen unberührt.

      Er war einen Blick zur Uhr: 2 Uhr 42! Wo konnten die Jungen sein? Tahsin war vierzehn Jahre alt und morgen war Unterricht - er sollte längst schlafen.

      Dann kam ihm eine Idee und er rief Cho an. Der meldete sich bereits nach dem ersten Klingeln, denn er wusste, dass sie gerade im Internat waren, und war auf Stand-by.

      „Kannst du mir Tahsins GPS anpeilen?“, fragte Rayan halblaut, wie üblich ohne Gruß oder einleitenden Satz. Für Cho war das vollkommen in Ordnung. Im Einsatz war keine Zeit für Höflichkeiten.

      „Er muss im Stock über dir sein – im Eckzimmer in der südlichen Ecke.“ Rayan fluchte und legte auf. Was machte Tahsin dort mitten in der Nacht?

      Dann verließ er das Zimmer ebenso leise, wie er eingetreten war, und schlich ein Stockwerk höher. Vor dem von Cho beschriebenen Zimmer blieb er stehen und hielt lauschend den Atem an. Doch durch die Türe konnte er nicht viel hören, offenbar waren diese gut isoliert.

      Ihm blieb nichts anderes übrig, als auch diese Türe leise mit seinem Equipment aufzusperren. Schon als er sie einen Spalt von wenigen Zentimetern geöffnet hatte, hörte er gedämpfte Musik und ein unangenehmer Geruch dran in den Flur. Ihm schwante Fürchterliches und er schlüpfte schnell ins Innere, bevor noch jemand etwas hören oder riechen konnte.

      Das Zimmer war einer der größeren Räume, die eine Art Vorraum oder Flur besaßen.

      Zügig glitt Rayan völlig lautlos bis zur nächsten Ecke und spähte vorsichtig in das Zimmer.

      Er sah genau das, was er anhand des Geruches schon befürchtet hatte: Alkohol und Joints.

      Fünf Jungen lagen an verschiedenen Stellen des Zimmers, keiner von ihnen war nüchtern oder noch bei sich. Es gab nur schummriges Licht und es brauchte einen Moment, bevor Rayan erkannte, welche der Gestalten Tahsin war.

      Als er ihn entdeckt hatte, ging er zu ihm, doch Tahsin reagierte noch nicht einmal, als Rayan ihn hochhob und aus dem Zimmer trug.

      Er verschloss das Eckzimmer wieder in der gleichen Weise, wie er es vorgefunden hatte, und trug Tahsin vorsichtig nach unten. Sein Verstand arbeitete analytisch. Noch hatte er keine Zeit, das soeben Erlebte emotional zu verarbeiten.

      Ein Stockwerk tiefer brachte er Tahsin in sein Zimmer. Er vermutete, dass einer der anderen vier Jungen oben der fehlende Zimmergenosse war. Ihm konnte es recht sein.

      Er brachte Tahsin direkt ins Badezimmer. Inzwischen fing dieser an, sich wieder etwas zu regen. Er schien zu merken, dass etwas nicht stimmte, und begann die Augen zu öffnen. Rayan hielt Tahsins Kopf und steckte ihm über der Toilette den Finger in den Hals. Und der Körper reagierte wie erwartet mit einem Brechreiz. So zwang er ihn, zumindest den Alkohol wieder zu erbrechen.

      Tahsin versuchte sich gegen diese unerwartete Misshandlung zu wehren, er wurde nun schnell munter, doch Rayan hielt ihn fest und führte die ganze Prozedur noch einmal durch. Er hatte nur bedingt Mitleid mit Tahsin; es hatte ihn schließlich niemand gezwungen sich derart daneben zu benehmen.

      Im Anschluss packte er Tahsin noch in die Badewanne und begann ihn mit eiskaltem Wasser abzuduschen. Wie er war, samt seiner Kleidung.

      Erst als Tahsin anfing zu schreien, ließ er ihn los.

      Er war einige Minuten mit lallendem Schimpfen beschäftigt, weil er seine Freunde als Ursache für einen üblen Streich vermutete, erst dann erkannte er Rayan und verstummte abrupt.

      „Vater? Was …? Wieso …?“ – es dauerte einen Moment, bis er in seinem vernebelten Gehirn die Situation verstand. „Wie kommst du hierher?“ Und dann schaute er eine ganze Weile auf seine Uhr, doch es dauerte, bis er erfasst hatte, dass es noch mitten in der Nacht war. „Was tust du hier um diese Zeit?“

      Rayan antwortete auf keine seiner Fragen. Am liebsten hätte er ihn geohrfeigt und geschüttelt, doch er beherrschte sich.

      „Du hörst mir jetzt zu! Es ist wichtig! Wir werden bedroht. Alle. Du, ich und Jassim auch. Wir wissen noch nicht einmal, ob er noch lebt. Hast du das verstanden?“

      Tahsin sah ihn einen Moment lang mit offenem Mund an, doch dann drang es durch sein langsam arbeitendes Gehirn, dass dies kein Scherz war. Sein Vater war tatsächlich hier.