Indira Jackson

Rayan - Zwischen zwei Welten


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langsam.

      Rayan fuhr fort: „Du wirst morgen ganz normal zum Unterricht gehen. Lass dir nichts anmerken! Schaffst du das?“

      Erst als Tahsin wieder zögerlich genickt hatte, fuhr Rayan fort: „Bevor du zum Unterricht gehst, wirst du deine Sachen packen. Lass alle Kleidung und Schulsachen da, nimm nur die wichtigen Sachen mit: Ausweis, Schlüssel, Geld, falls du welches hast. Diese Gegenstände packst du in deinen Rucksack und lässt ihn nicht aus den Augen. Ich komme morgen Mittag und hole dich ab. Bisher ahnt noch niemand etwas - du bist also noch sicher. Sobald ich aber hier offiziell auftauche, muss es schnell gehen. HAST DU DAS VERSTANDEN?“, fragte er nochmals eindringlich.

      Rayan stellte für Tahsin den Wecker, um sicherzugehen, dass der in wenigen Stunden nicht verschlief. Zusätzlich würde er ihn dann anrufen. Aber er hatte das Gefühl, dass Tahsin den Ernst der Lage inzwischen verstanden hatte und sich damit auch der Nebel in seinem Gehirn zu lichten begann.

      Er half seinen Sohn beim Ausziehen der nassen Kleider, die er achtlos auf einen Haufen in die Ecke des Badezimmers warf, und beim Anziehen seines Pyjamas.

      Dann deckte er ihn zu und wartete, bis er bereits wenige Minuten später tief und fest eingeschlafen war. Er sah auf die Uhr: 3 Uhr 15. Mit einem letzten Blick auf Tahsin verließ er schweren Herzens das Zimmer. Er ließ ihn nicht gerne hier zurück. Aber wenn er ihn sofort mitnahm, würden die anderen unmittelbar Bescheid wissen, und Jassim töten. Das konnte er nicht riskieren.

      Bis er die Schule wieder verlassen hatte und zurück zu Hanif geschlichen war und sie anschließend zurück im Hotel waren, war es nach 4 Uhr 30.

      Hanif hatte gefragt, ob Rayan mit Tahsin hatte sprechen können, was er bestätigte. Von Tahsins Zustand erzählte er ihm nichts. Dann fügte er gähnend hinzu „Lass uns schlafen gehen, es war ein langer Tag.“

      Und so fuhren sie in ihr Hotel, wo Hanif sich todmüde direkt ins Bett begab und sofort in Schlaf viel. Rayan dagegen setzte sich noch eine Weile im Dunkeln ans Fenster seines Zimmers, er hatte sich aus der Minibar noch einen weiteren Whisky eingeschenkt und genoss die Lichter der Stadt.

      Eigentlich liebte er London, er hatte viele gute Erinnerungen an seine früheren Besuche hier. Doch dieses Mal war alles so anders. Mit Absicht verdrängte er Tahsins Zustand – „ein Problem nach dem anderen“, sagte er sich.

      Er beschloss, Leila anzurufen. Es war hier fast fünf Uhr morgens, das hieß, Zuhause war es bereits fast neun Uhr. Viel zu früh für Leila. Trotzdem nahm sie sofort ab, als hätte sie seinen Anruf schon erwartet.

      „London ist nicht dasselbe ohne dich“, meldete er sich ohne seinen Namen zu nennen. Und Leila lächelte, als sie antwortete: „Ich hatte gehofft, dass du anrufst.“

      Er erzählte ihr einige Episoden ihrer Reise, wie üblich nicht zu viele Details.

      Dann fragte er sie plötzlich ohne jeden Zusammenhang: „Du hast dich in ihn verliebt, nicht wahr?“ Eine Weile war es still am Telefon, dann sagte Leila leise: „Ich konnte dir noch nie etwas vormachen, nicht wahr? Du hast mich als Einziger immer sofort durchschaut.“

      Rayan lachte leise: „Ach komm, das war ja wirklich nicht schwer. Ihr beide wart in diesem Hotelzimmer wie die Motte und das Licht. Hätten wir ein wenig mehr Zeit gehabt, hätte ich Euch gefragt, ob ich Euch einige Stunden alleine lassen soll.“ Er schwieg kurz, ob sie etwas dazu sagen wollte, aber verlegen blieb sie still und so fuhr er schmunzelnd fort: „Weißt du, ich bin ein Prinz und daher gewohnt, dass sich alle Aufmerksamkeit um mich dreht. Ich habe egozentrische Bedürfnisse! Ihr beide habt mich aber zeitgleich ignoriert, als wäre ich Luft.“

      Nun lachte auch Leila, denn sie hörte an seinem Tonfall, dass er scherzte. „Du Armer. Mein armer Prinz!“.

      Dann wurde er ernst: „Hör zu, sobald wir hier alles geregelt haben, sorge ich dafür, dass er zu dir kommt, einverstanden? Ich gebe zu, dass ich im ersten Moment sehr eifersüchtig war, aber ich gönne dir wirklich von Herzen, dass du glücklich bist. Und wenn du mit Hanif vielleicht endlich den richtigen Mann für dich gefunden hast, vergraule ihn nur nicht gleich wieder!“

      Sie alberten noch eine Weile herum, dann beendete Rayan das Telefonat und ging ebenfalls ins Bett. Er mochte Hanif und wer war besser geeignet als er, sich um Leila zu kümmern? Mit diesem Gedanken schlief er ein, es würde ein anstrengender Tag werden.

      Mai 2002 – Große Wüste – Die weitere Vorgehensweise

      Im Lager angekommen, trug Rayan Leila zunächst in sein Zelt, weil es größer als die anderen war. Dann sorgte er dafür, dass sie von ihren Fesseln befreit wurde. Er ließ ihr heißes Wasser bringen, damit sie sich reinigen konnte, und frische Kleidung. Dann gab er ihr Zeit für sich alleine, damit sie erst einmal ihre Gedanken sortieren und sich ein wenig sammeln konnte.

      Etwa eine halbe Stunde nach ihnen traf Mohammed mit seinen beiden Begleitern ein, noch etwas später Ibrahim, der erleichtert war, dass alles friedlich verlaufen war.

      Die Männer trafen sich im großen Versammlungszelt. Zunächst berichtete Ibrahim kurz, wie er die Ereignisse erlebt hatte, doch das brachte keine neuen Erkenntnisse zutage. Alle acht Männer, die vor Ort gewesen waren, waren gleichermaßen erbost über die ekelerregenden Sitten, die in diesem Geschäft zu herrschen schienen.

      Lediglich Mohammed hatte noch eine Zusatzinformation in Erfahrung gebracht: Wenn die Entführer analog der vergangenen Jahre vorgehen würden, würden sie direkt im Anschluss an die Auktion am frühen Nachmittag bereits weiterziehen. Offenbar wollten sie kein Risiko eingehen, indem sie unnötig lange vor Ort blieben.

      „Dann müssen wir uns beeilen, damit wir sie noch rechtzeitig erwischen!“, rief Hanif wutentbrannt.

      Doch Rayan brachte ihn zum Schweigen. „Wir werden nichts dergleichen tun. Leila muss so schnell wie möglich zurück zu ihrem Vater. Wenn sie Glück hat, lebt er noch, wenn wir dort ankommen. Ihr wisst genauso gut wie ich, dass er im Sterben liegt.“

      Verständnislos sah Hanif seinen Herrn an: „Und wir lassen diese Bestien so einfach damit durchkommen?“, fragte er tonlos.

      Rayan sah ihm fest in die Augen: „Genau das. Wir können hier nichts tun. Greifen wir sie hier vor den Toren der Stadt an, haben wir innerhalb von Minuten vermutlich die Hälfte der Bürger zusätzlich im Nacken. Das ist eine Übermacht, gegen die wir nichts ausrichten können. Wir sind achtzehn, alleine die Entführer sind fast dreißig. Und dann noch eine unbekannte Zahl an „unbescholtenen Bürgern“, Käufern oder anderen Händlern, die alle ihren Markt verteidigen wollen. Das wäre Selbstmord! Sie alle haben einen Ruf zu verlieren, denn wenn sich herausstellt, dass dieser Ort nicht mehr sicher ist, werden beim nächsten Mal weniger Händler kommen“, er blickte kurz in die Runde, dann fuhr er fort: „Wir reiten morgen früh zurück.“

      Dann stand er auf, verließ das Zelt und beendete somit die Versammlung.

      Kopfschüttelnd und mit brennenden Augen sah Hanif seinem Herrn hinterher.

      September 2014 – Nahe Eston Castle – Erkundungen

      Am Morgen fuhren sie nach einem kurzen Frühstück erneut in Richtung Eston Castle. Rayan war noch nie dort gewesen, seit Tahsin dort zur Schule ging. Es war bereits das dritte Schuljahr, in dem dieser das Internat hier besuchte. Und nun fuhr Rayan innerhalb weniger Stunden gleich zweimal dorthin.

      Beide waren recht schweigsam. Sie waren wenig Schlaf gewöhnt, vor allem Rayan, aber drei Stunden waren selbst ihm zu wenig. Vor allem da ihnen von den vorhergehenden Tagen noch der Schlaf fehlte.

      Für die Mittagszeit hatte Rayan einen Besuchstermin beim Direktor ausgemacht, der über eine Bitte um einen derart kurzfristigen Termin zwar überrascht gewesen war, aber trotzdem eingewilligt hatte, sich die Zeit freizumachen.

      Mit dem R8 waren sie diesmal in einer knappen Stunde vor Ort. Es war inzwischen fast zehn Uhr. Sie fuhren zunächst zu den Koordinaten, an denen sich Jassims Handy zum letzten Mal eingeloggt hatte, wie