Indira Jackson

Rayan - Zwischen zwei Welten


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versicherte sie sich, dass sie ihren Block mit Notizen noch hatte. Hier hatte sie alles genau beschrieben und auch die Fotos, die sie gemacht hatte, würden nachher wertvolle Erinnerungen sein.

      Als sie am Abend müde auf ihr Zimmer ging, fand sie auf der Kommode Flugtickets, ausgestellt auf ihren Namen. Ihr Flug von Alessia ging morgen Abend, ein Samstag. Zunächst bis Dubai, was lediglich eine Stunde dauerte. Dann hatte sie einen Tag Aufenthalt in Dubai, um am Montagmorgen nach München zu fliegen – erster Klasse! Sie erinnerte sich, dass es die gleiche Flugverbindung war, die Rayan ihr vor all den Wochen auch schon ans Herz gelegt hatte, um nach Hause zu fliegen. Sie überlegte kurz, was gewesen wäre, wenn sie damals auf ihn gehört hätte. Zumindest wäre ihr die peinliche Abreise erspart geblieben!

      Einen kleinen Moment lang war sie versucht, die Flugtickets einfach zu zerreißen. Sie wollte nicht, aber auch gar nichts mehr von ihm geschenkt! Er hatte sie behandelt, wie nie zuvor ein Mann. Sie hatte sich wie sein kleiner Zeitvertreib gefühlt, den man dann, als er unbequem zu werden drohte, einfach wegwischen konnte.

      Sie stellte sich kurz vor, wie er zusammen mit Leila in Zarifa saß und sie sich gemeinsam über die kleine, dumme Deutsche totlachten.

      Dass Rayan zur gleichen Zeit keineswegs amüsiert war, sondern sich nach gefährlichen Ereignissen in London nun auf der Flucht befand, und außerdem in der vergangenen Nacht fast zu Tode geprügelt worden war, konnte sie nicht ahnen. Diese Ereignisse erfuhr sie erst viel später.

      Ärgerlich stellte sie fest, dass ihr wieder die Tränen übers Gesicht liefen. Sie hatte sich vorgenommen, nicht mehr wegen ihm zu weinen. Schnell wischte sie sie ab, putzte sich die Nase und atmete tief durch. Zur Hölle mit ihm!

      Aber die Flugtickets würde sie trotzdem nutzen, denn ihr war klar, dass sie finanziell nicht besonders gut da stand und so schluckte sie ihren Stolz hinunter. Und dann erster Klasse. Es war für die über sechs Stunden von Dubai nach München eine zu große Verlockung, nicht in der „Holzklasse“ sitzen zu müssen.

      September 2014 – London - Check-in

      Rayan genoss es, das sportliche Auto durch die nächtlichen Straßen von London zu steuern. Der Verkehr war bereits abgeflaut und die Straßen weitgehend frei. Er hatte Glück, dass ihn niemand kontrollierte, denn mit den Geschwindigkeitsvorschriften nahm er es nicht sehr genau.

      Die Route zum Hotel kannte er auswendig, er war in der Vergangenheit schon häufiger hier gewesen. Auf dem Weg dorthin machte er noch einen Stopp. Er stellte das Auto direkt vor dem Bahnhof ins Halteverbot, orderte Hanif im Auto zu bleiben und im Zweifelsfalle irgendwelchen Polizisten den verzweifelten Touristen vorzuspielen. Hanif verdrehte die Augen und hoffte, dass Rayan schnell wiederkam. Und tatsächlich kam er bereits nach wenigen Minuten mit einem Koffer in der Hand wieder aus dem Gebäude. Es handelte sich um einen größeren Aktenkoffer.

      Auf Hanifs fragenden Blick grinste Rayan und sagte: „Equipment!“ Er gab keine Erklärungen ab, wo er den Koffer her hatte, aber Hanif konnte sich denken, dass er ihn aus einem Schließfach entnommen hatte. Wer ihn dort allerdings platziert hatte, blieb Rayans Geheimnis, zumindest für den Moment.

      Etwa zwanzig Minuten später erreichten sie ihr Hotel. Vor dem Gebäude gab Rayan dem Pagen den Autoschlüssel zusammen mit einem entsprechenden Geldschein, und die beiden Männer traten in die Lobby.

      Ein weiteres Thema, bei dem Hanif Nachholbedarf hatte, wurde ihm bei dieser Gelegenheit unangenehm bewusst: Er hatte keine Ahnung, was die Banknoten bedeuteten. Er kannte sowohl Dirham aus Dubai als auch Saudi Riyal, aber noch nie hatte er Pfund Sterling gesehen, geschweige denn in in der Hand gehabt. Wie peinlich! Er nahm sich vor, Rayan gleich oben im Zimmer zu befragen.

      Wie üblich hatte Rayan eine der Suiten genommen, die sie zu zweit bewohnten. Es gab genügend Zimmer, das auch noch mehr Menschen dort hätten wohnen können.

      Hanif war beeindruckt über die dicken Teppiche, die antiken Möbel und die alten Gemälde, die fast an jeder Wand hingen. In den Toiletten und Badezimmer gab es vergoldete Wasserhähne, aber alles in allem machten die Zimmer trotzdem den Eindruck, als hätten sie ihre besten Zeiten vor vielen Jahren gesehen.

      Rayan gab Hanif einen Crashkurs über die englische Währung, dann murmelte er etwas vor sich hin, dass er telefonieren müsse und verschwand, um in die Rezeption hinunter zu gehen. Ihr Satellitentelefon ließ er im Zimmer, was Hanif stutzig machte. Er überlegte, ob er die Gelegenheit nutzen sollte, Nihat zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Doch dann fiel ihm ein, dass es durch die Zeitverschiebung dort mitten in der Nacht sein musste.

      Hanif stellte sich darauf ein, Schlafen zu gehen, hatte sich aber zum Glück noch nicht entkleidet als Rayan ihm fröhlich mitteilte, dass sie nun ausgehen würden. Entsetzt sah Hanif seinen Herren an: War das sein Ernst? Es war fast Mitternacht! In der Wüste wären sie schon seit Stunden am Schlafen.

      Doch hier gingen die Uhren offenbar anders.

      Mai 2002 – Große Wüste – Die Spur ist noch heiß

      Die Räuber und vor allem Entführer hatten fast einen kompletten Tag Vorsprung. Doch hatten sie ihre reichliche Beute dabei, die sie verlangsamte. Daher schätzte Rayan die Chance gut ein, dass sie der Spur problemlos würden folgen können.

      Er verabschiedete sich von Aiman Abdullah, der ihn segnete und für die Jagd Erfolg wünschte.

      Und tatsächlich waren die Hufabdrücke der Pferde und Kamele nicht allzu schwer zu verfolgen.

      Ibrahim, Hanif und Rayan ritten dem Trupp voran und besprachen, welche Stadt oder Oase wohl das Ziel der Entführer war. Wo konnte dieser Markt stattfinden?

      Sie versuchten, aus ihren Karten Informationen zu ziehen, doch die gaben hier inmitten der Rub’al Khali keine allzu verlässlichen Angaben preis. Dies war die offene Wüste. Es gab Oasen, die bereits Morgen versandet und nicht mehr zu gebrauchen waren. Entsprechend zogen die Menschen dann weiter und gründeten die nächsten Ansiedlungen mehrere Kilometer weiter, sofern es dort Wasser gab. Es gab Ansiedlungen von Nomaden, die jeweils nur wenige Tage oder Wochen an der gleichen Stelle verblieben und stets der Spur des Wassers folgten.

      Während der Nacht hielt der Rettungstrupp nur kurz an, um möglichst viel von ihrem Rückstand gutzumachen. Zwar kamen sie erheblich schneller voran, als die Räuber mit ihren Schätzen, aber an manchen Stellen war der Untergrund steinhart und wie gebacken von der Hitze. Sie mussten genau aufpassen und immer wieder absteigen, um den Boden aus der Nähe zu betrachten, um die Spur nicht zu verlieren.

      Die Verbrecher waren schlau genug, ihr Ziel nicht in direkter Linie anzureiten. Auf den Böden, die am wenigsten Abdrücke zuließen, führten sie Richtungsänderungen durch, um eventuellen Verfolgern das Leben schwer zu machen.

      Trotzdem gelang es Rayan und seinen Reitern, die Spur immer wiederzufinden, vor allem, nachdem sie den Trick der Entführer einmal durchschaut hatten.

      Am dritten Morgen nach ihrem Aufbruch sahen sie am Horizont eine Stadt auftauchen.

      „Kennt jemand diese Stadt?“, fragte Rayan in die Runde, doch keiner der Männer bejahte die Frage, einige zuckten die Achseln, andere schüttelten den Kopf.

      „Also gut. Hier ist der Plan: Du, Mohammed“, Rayan deutete auf einen seiner Männer, „reitest voraus in die Stadt. Bleib möglichst unauffällig. Wenn einer fragt, gibt dich als Besucher des Marktes aus. Du suchst eine Sklavin. Schau dir genau die Befestigung der Stadt an. Und halt‘ die Augen nach unseren Männern offen. Komm so schnell du kannst zurück, vor allem aber vor dem Abend, denn vermutlich werden sie nachts die Stadt abriegeln. Wir werden hier erst einmal außer Sicht der Stadt das Lager aufschlagen.

      Wenn wir alle dort gemeinsam ankommen, sind wir zu auffällig. Falls die Diebe bemerkt haben, dass wir ihnen folgen und eine Falle aufstellen, reiten wir mitten hinein. Diese Männer machen das nicht zum ersten Mal, und wie wir an ihrer Art die Richtung zu wechseln gesehen haben, sind sie nicht dumm.“

      Mohammed verbeugte sich und ritt los.

      Die