Indira Jackson

Rayan - Zwischen zwei Welten


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Nacht

      Die Vorbereitungen für Rayans und Hanifs Abreise waren schnell erledigt. Sie ruhten sich noch ein wenig aus, doch keiner von beiden konnte nach den Ereignissen des Tages wirklich schlafen. Und so kleideten sie sich eine Stunde nach Mitternacht in ihre Gewänder für den längeren Aufenthalt in der Wüste, verabschiedeten sich von Julie und ritten los. Via Satellitentelefon hatten sie die Möglichkeit sowohl mit Julie, als auch mit Nihat jederzeit Kontakt zu halten. Letzteres war wichtig, um nicht dem kleinen Trupp um Carina in die Arme zu laufen, der nun schließlich nur wenige Stunden vor ihnen in die gleiche Richtung ritt.

      Wiederum zog Rayan kurz in Erwägung, statt sie zu umreiten, sie einzuholen und Carina einzuweihen. Doch er war sich nicht sicher, ob die Erpresser nicht noch andere Spione an den Flughäfen platziert hatten, und er nahm sich vor, mit Carina zu sprechen, sobald es gewiss war, dass Tahsin und Jassim in Sicherheit waren. Mit etwas Glück war das bereits in wenigen Tagen. Solange musste er seine Ungeduld noch zügeln. Doch er hatte ein ungutes Gefühl dabei. Er glaubte Carina inzwischen gut genug zu kennen, um zu wissen, dass diese zu allerlei Kurzschlusshandlungen imstande wäre.

      Diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf, als er durch das Tal von Zarifa zum Felsdurchbruch ritt. War es erst heute Nachmittag gewesen, dass er Carina bei ihrem Aufbruch auf derselben Strecke beobachtet hatte? Er konnte es kaum glauben. Seine Gedanken schweiften zu Sachra zurück. Sachra! Sie war damals wie eine Schwester für ihn gewesen. Die Eifersucht konnte schon seltsame Dinge mit den Menschen anstellen. Bei diesem Stichwort fiel ihm seine erste Begegnung mit Hanif ein, als dieser ebenfalls aus Eifersucht versucht hatte, Rayan zu töten. Ohne das beherzte Eingreifen seines Vaters wäre ihm das auch gelungen.

      Stattdessen traf die Kugel Sedat, was dann vier Jahre später zu dessen Tod führte. Basierend auf dieser Schuld hatte Sedat Hanif gezwungen Rayan lebenslange Treue zu schwören – ein Leben für ein Leben. Die Alternative wäre Hanifs Hinrichtung gewesen und daher blieb ihm keine Wahl als den Treueeid zu leisten. So hart waren die Gesetze nun einmal.

      Damals hatte Rayan gedacht, sein Vater hätte den Verstand verloren, ihn mit dem „Anhängsel Hanif“ zu belasten. Doch schon bald hatte er gemerkt, wie nützlich dieser für ihn war. Heute betrachtete er ihn eher als seinen Freund, denn seinen Untergebenen. Er merkte, dass er ihn vermisste, wenn er alleine unterwegs war. Wenn Hanif nur nicht immer so steif wäre. Rayan wusste, dass sein Begleiter von einem unglaublichen Stolz besessen war, und das machte es manchmal schwierig mit ihm. Eigentlich war wohl eher das Problem, dass sie sich beide manchmal ZU ähnlich waren, musste Rayan vor sich selber zugeben. Er selber war auch oft schwierig, nur hatte er den Vorteil, dass sich die Anderen in der Regel nach ihm richten mussten.

      Weiter überlegte Rayan, wie es mit Hanif wohl in England sein würde. Er selbst war bereits viele Male geschäftlich dort gewesen und wusste daher, wie er sich zu verhalten hatte, um nicht aufzufallen. Hanif dagegen war seinem Wissen nach überhaupt noch nie im Ausland gewesen. Es würden ihm einige Überraschungen bevorstehen. Bei dem Gedanken daran musste Rayan grinsen. Doch dann fiel ihm der Grund ihrer Reise ein und das kurze Gefühl des Vergnügens verging ihm wieder. Hoffentlich kamen sie nicht zu spät!

      Hanifs Gedanken waren mit ähnlichen Themen beschäftigt. Er hatte Sachra erst nach ihrer Rückkehr aus der Wildnis kennengelernt, als Sedat sie freisprach und ihnen erlaubte, wieder in Zarifa zu leben.

      Ibrahim hatte er besser gekannt, da dieser sie oft auf ihren Reisen begleitet hatte. Er hatte ihn immer für seine Hingebung zu Rayan beneidet. Er selbst war der ewige Zweifler, der dauernd kritische Fragen stellte.

      Einmal hatte er Ibrahim nach den Narben auf Rayans Rücken gefragt, und wie es zu dem Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn hatte kommen können, doch Ibrahim hatte nur den Kopf geschüttelt. Er würde über diese Ereignisse nicht sprechen, wenn dann musste Rayan selbst darüber berichten.

      Andererseits war Hanif stolz darauf, dass Rayan, immer wenn er eine andere Meinung hören wollte, zu ihm kam, und nicht zu Ibrahim. Vielleicht war es also gerade sein kritisches Hinterfragen, was er benötigte und wollte.

      Auch Hanif sinnierte über ihre bevorstehende Reise: Wie würde England sein? Er war noch niemals dort gewesen. Er hatte überhaupt das Land noch nie verlassen. Immerhin sprach er leidlich gut Englisch, was er seinem Vater zu verdanken hatte. Der hatte dafür gesorgt, dass er zwei Jahre lang in Rabea Akbar zur amerikanischen Schule gegangen war. Sein Vater war Händler gewesen und überzeugt, dass Sprachen die Zukunft seien. Hanif hatte seinen Vater damals nicht verstanden, jetzt dagegen war er froh, dass er zumindest in dieser Hinsicht nicht ohne Wissen dastehen würde.

      Er wusste, dass Rayan meist nicht sehr gesprächig war und wenn er auf seinen Willen ihm etwas zu übersetzen angewiesen wäre, würde er vermutlich lange warten. Schließlich war Rayan der Herr und Hanif der Untergebene, und nicht umgekehrt.

      Insgesamt war Hanif also mehr als gespannt, was die kommenden Tage bringen würden.

      Derart beschäftigt verging der Ritt durch die Berge hinab schnell. Kurz vor der Abenddämmerung machten sie Lager in den tieferen Ebenen von Zarifa. Bis zur Oase waren es nur noch wenige Stunden. Aber sie hatten ihre Reise mit Absicht zeitlich so gestaltet, weil Carina just in diesem Moment noch in der Oase weilte und erst am nächsten morgen früh von dort aufbrechen würde.

      Mai 2002 – Große Wüste – Eigentlich Routine

      Wie üblich zog Rayan seine Runden. Immer wenn er in der Wüste unterwegs war, waren alle seine Sinne geschärft. Er liebte die Wüste wie kein anderer. Aber genauso wusste er, dass sie ein Ort war, der keine Fehler vergab. Oft munkelte man, dass Rayan mit der Wüste sprach und noch viel wichtiger: dass sie ihm antwortete. Innerlich musste der Scheich grinsen, denn das war mystischer Blödsinn. Doch tat er nie etwas dazu, derartige Gerüchte zu zerstreuen. Im Gegenteil, wenn sich ihm eine Gelegenheit bot, bestärkte er sie noch.

      Was allerdings stimmte, dass er ein Meister darin war, Hinweise zu deuten. Hier eine kleine Staubfontäne, die von einem Rudel Kamele oder anderer wildlebender Tiere stammte, dort eine Ansammlung von Kakteen. Die Art wie sich die Luft über dem Sand bewegte. Und daher wusste er, ja spürte er es, wenn ein Sandsturm kam. Oder er konnte mit Sicherheit sagen, wo sie Wasser finden konnten, auch wenn diese Quellen aufgrund ihrer Abgelegenheit in keiner Karte verzeichnet waren.

      Aber es kostete ihm jedes Mal auch viel Kraft, den ganzen Tag über aufmerksam zu sein.

      Anfangs hatten sich seine Männer gewundert, wieso er selten inmitten des Pulks blieb, sondern los ritt, um Spuren nachzugehen, die er bemerkt hatte. Er war morgens stets der Erste, der sein Pferd fertigmachte, noch während die anderen Männer mit dem Essen machen oder dem Zusammenpacken ihrer Habseligkeiten beschäftigt waren. Dann umrundete Rayan stets in einem weiten Bogen die Senke, in der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten.

      In der Wüste war es gut eine Senke zu wählen, auch wenn diese im Angriffsfall von Nachteil war. Aber zum einen war man so wenigstens ein bisschen vor dem Wind geschützt. Noch wichtiger aber war, dass das Feuer auf diese Weise nicht allzu weit zu sehen war.

      Würde man mitten auf einem Dünenkamm ein Feuer entzünden, so könnte man das bereits aus vielen Kilometern Entfernung sehen. In einer Senke dagegen konnte es passieren, dass einem nachts ein anderer Trupp in kurzer Distanz passierte, ohne dass er das Lager überhaupt bemerkte. Da war es noch wahrscheinlicher, dass Gegner den Rauch rochen, den das Feuer verursachte.

      Dafür war es aber umso wichtiger, am Rand der Senke Wachposten aufzustellen, die verhindern sollten, dass ein Feind, der sie trotzdem erspäht hatte, die Dünenränder besetzte und sie aus strategisch günstigerer Position angriff.

      Während seiner Kontrollritte hielt Rayan oft an, stieg ab, um Tierfährten zu beobachten, aber auch die Windrichtung stets zu prüfen oder gar nach Spuren von Menschen oder Lasttieren Ausschau zu halten.

      Auf die gleiche Weise beendete er den Tag. Es war bereits zwei- oder dreimal vorgekommen, dass er dem ganzen Trupp Reiter befohlen hatte, alles wieder einzupacken und nochmals weiterzuziehen. Das Murren der Krieger hatte er ignoriert. Vorsicht war das oberste Gebot.

      Und schließlich