Indira Jackson

Rayan - Zwischen zwei Welten


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um Rayan Bericht zu erstatten.

      Sie hatten lediglich zwei Überlebende gefunden: einen Diener und den Händler, dem die kleine Karawane gehört hatte.

      Ansonsten hatten die unbarmherzigen Verbrecher ganze Arbeit geleistet. Sie hatten alles von Wert mitgenommen, alles andere verbrannt und jeden Einzelnen getötet.

      Rayan knirschte mit den Zähnen. Er konnte seine Wut nur mühsam beherrschen. Was für Tiere taten so etwas? Ein Raubüberfall war schon schlimm genug, aber warum dieses sinnlose Blutvergießen harmloser Menschen?

      Auch Hanif konnte sich kaum im Zaum halten. Sein Vater war auch Händler gewesen. Seine Familie war ebenfalls überfallen worden, als er 18 Jahre alt gewesen war. Außer seiner Mutter und Hanif selbst hatte keiner überlebt. Sowohl sein Vater und alle seine Geschwister waren ermordet worden. Sedat, Rayans Vater, hatte Schlimmeres verhindert und die Täter gestellt.

      Langsam, um ihn nicht zu erschrecken, ging Rayan in das Zelt, in das der Diener seinen schwer verwundeten Herrn gebracht hatte.

      „Wer, wer seid ihr?“, röchelte der verwundete Mann von seinem Lager.

      „Ganz ruhig. Wir sind in friedlicher Absicht hier. Was ist hier passiert?“, fragte Rayan mit beruhigendem Tonfall. „Wie können wir Euch helfen?“

      Der Händler erzählte kurz, was sich ereignet hatte: Sein Name sei Aiman Abdullah. Sie hätten hier in der Oase gelagert, als die Reiter aus dem Hinterhalt gekommen waren und ohne jede Vorwarnung alle getötet hatten, selbst diejenigen, die sich ergeben wollten, wurden abgeschlachtet. Seine Karawane hatte aus immerhin sechzehn Personen bestanden.

      „Sie haben alles mitgenommen. Alle Teppiche, Kamele und sonstige Wertgegenstände … .“ Er schluchzte auf. „Mich haben sie nur aus einem Grund leben lassen: um mich zu peinigen! Sie haben meine Tochter mitgenommen! Meine Leila - mein einziges Kind! Er …der Anführer …er hat gesagt, er wird für sie einen guten Preis erzielen. Auf den SKLAVENMARKT!“, seine Stimme brach und er begann, heftig zu schluchzen. Offenbar hatten sie den Diener auch nur aus dem Grund leben lassen, dass er seinem Herrn so lange wie möglich beistand und damit, ironischerweise, dessen Leiden verlängerte. „Was für kranke Menschen sind das?“, fragte sich Rayan, doch er sagte es nicht laut. Er wollte weder den Händler noch den Diener weiter beunruhigen.

      Rayan legte dem Mann die Hand auf die Schulter, um ihn zu beruhigen. „Ganz ruhig. Ich verspreche Dir, ich werde tun, was in meiner Macht steht, um sie zu finden.“

      Noch immer rannen dem Mann die Tränen über das Gesicht, doch er wurde etwas ruhiger. „Warum solltet ihr das tun?“, fragte er mit zitternder Stimme. Rayan schätzte ihn auf Mitte dreißig. Er antwortete zunächst nichts, sondern untersuchte die Wunden. Schnell sah er, dass hier niemand mehr etwas tun konnte. Vielleicht in einem Krankenhaus, durch eine Notoperation, aber hier? Mitten im nirgendwo? Keine Chance.

      „Ich weiß, dass ich sterben werde“, sagte der Händler. „Bitte – wenn Sie meiner Tochter wirklich helfen wollen, dann müssen Sie schnell sein.“

      „Haben Sie ein Foto von Leila?“, fragte Rayan.

      „Yusuf“, sprach der Händler den Diener an, der wie versteinert in einer Ecke stand. „Gib ihm das Foto.“

      Rayan sah ein etwa sechzehnjähriges Mädchen und wusste sofort, wieso die Räuber sie nicht getötet hatten. Sie war ausgesprochen schön. Mit langen tiefschwarzen Haaren, die ihr bis zur Hüfte zu reichen schienen. Ihre ebenfalls fast schwarzen Augen waren faszinierend, mit einem Blick, der wohl so manchen Mann zum Träumen bringen konnte.

      „Eine wirkliche Schönheit – kein Wunder“, sagte Rayan mehr zu sich selbst. „Wo ist ihre Mutter?“, fragte er an den Händler gerichtet.

      „Sie ist vor zwei Jahren gestorben. Bitte – wenn Sie helfen wollen, müssen Sie sich beeilen! Sie haben hier vor mir alles ausführlich besprochen – sie wollen sie bereits in drei Tagen auf dem Sklavenmarkt verkaufen. Sie wissen sicher, wie es da zugeht: Wenn einer sie kauft, bringt der sie wer weiß wohin, die Spur finden Sie nie wieder!“

      „Also gut. Jassim! Du bleibst mit fünf Mann hier. Kümmert Euch um ihn und begrabt die Toten. Yusuf wird Euch helfen.“

      Jassim nickte kurz und wandte sich dann an die ihm zugewiesenen Reiter. Er war einer von Rayans Gruppenführern und auf diesem Ritt zuständig für zehn Mann. Fünf davon wählte er nun aus, die mit ihm hier bleiben sollten.

      Die anderen unterstellte er Hanif, der selbst zehn weitere Männer unter seinem Kommando hatte.

      Sie würden also zu achtzehnt die Verfolgung aufnehmen: Hanif und seine Zehn, die Fünf von Jassim, Rayan und sein Freund und Leibwächter Ibrahim.

      Rayan hatte sich sehr gefreut, als er Ibrahim wiedergetroffen hatte. Nach seiner Flucht aus Zarifa im Oktober 1989 hatte er vermutet, dass sein Vater alle seine Freunde getötet hatte. Erst vor wenigen Monaten hatte er erfahren, dass Ibrahim noch lebte und sie hatten sich auf Anhieb wieder genauso gut verstanden wie früher. Und genau wie damals war sein Freund jederzeit bereit, sein Leben für seinen Freund und Scheich zu geben. Er hatte ihm bereits einmal das Leben gerettet, als er ihn schwerverletzt zu seiner Großmutter brachte, der es gelang ihn gesund zu pflegen. Auch Ibrahim hatte, genau wie alle anderen, gedacht Rayan wäre an den schweren Wunden, die ihm die Häscher seines Vaters zugefügt hatten, gestorben.

      Sie versorgten sich mit dem nötigsten, vor allem mit frischem Wasser, und bereiteten alles dafür vor, gleich loszureiten.

      September 2014 – Alessia – Déjà-vu

      Nihat hatte Carina am Sammelplatz für Karawanen vor Alessia abgesetzt, der gleichen Stelle an der sie vor einigen Wochen aufgebrochen waren. Damals hatte ihr Lehrer Mehmed sie zu Fuß hierher begleitet, und nachdem sie sehr aufgeregt gewesen war, hatte sie nicht auf den Weg aus der Stadt heraus geachtet. Doch ihre Sorge, dass sie sich nicht zu Recht finden würde, war völlig unbegründet.

      Denn schon am Vorabend hatte Nihat ihr mitgeteilt, er hätte gerade telefoniert und die Information erhalten, Jamal würde sie am nächsten Tag gegen Mittag in Alessia erwarten. Mit wem er telefoniert hatte, hatte er nicht gesagt. Carina, die sich an die spärlichen Informationen inzwischen längst gewöhnt hatte, fragte nicht weiter nach. Sie hätte ohnehin keine Antwort erhalten. Aber sie vermutete, dass es Hanif gewesen war, der Nihat diese Anweisungen gegeben hatte.

      Bei der Ankunft am Sammelplatz schaute sie sich zunächst um: Der Platz lag völlig leer da; offenbar war gerade weder eine Karawane eingetroffen, noch bereitete sich eine auf den Aufbruch vor. Wie anders alles so verlassen aussah. Es waren kaum Menschen auf dem Platz.

      Daher war es leicht, bereits aus einigen Metern Entfernung den Haushälter zu erkennen, der an der Tränke für Kamele am Platz saß und ausdruckslos vor sich hin schaute, als wäre er tief in Gedanken versunken.

      Erst als sie ihn schon fast erreicht hatten, erhob er sich.

      Nihat grüßte ihn nur mit einem kurzen Nicken. Auch das war keine Überraschung für Carina, die stolzen Reiter der Tarmanen, waren Fremden gegenüber noch wortkarger und zurückhaltender als bei ihr.

      Der Abschied von Nihat und ihren beiden Begleitern fiel kurz aus. Gegen seinen Willen hatte sie Nihat kurz umarmt und ihm einen Kuss auf die Wange gedrückt, was diesem einen roten Kopf und seinen beiden Begleitern ein breites Grinsen beschert hatte.

      Traurig hatte sie sich auch von „ihrem“ Pferd verabschiedet, das sie so viele Stunden treu getragen hatte.

      Dann wandte sie sich Jamal zu, der sie mit einer leichten Verbeugung, aber sonst mit ausdruckslosem Gesicht begrüßte.

      Er war es gewesen, der sie damals aus dem Krankenhaus abgeholt und zum Haus ihres Freundes Hummer geleitet hatte. Und somit hatte sich auch ihre Sorge, ob sie wohl ein Hotelzimmer finden konnte, erledigt. Denn Jamal brachte sie in das Zimmer, welches sie damals bewohnt hatte.

      Es war eigenartig, die Stationen ihrer Reise noch einmal rückwärts zu durchlaufen. Fast wie in einem