Gerrit Hansen

Die kleinen unbedeutenden Fälle von Hauptkommissar Knut Hansen aus Kiel


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Der Fördedampfer „Falckenstein“, eine Personenfähre, die mehrmals täglich im Zickzack die verschiedenen Anleger abfährt, hatte pünktlich 15.20 Uhr am Strandkurort Laboe abgelegt und schipperte nun gemütlich durch die grün-graue Ostsee. An Bord waren höchstens eine Handvoll Menschen. Annegret Hamann, eine 81-jährige rüstige Rentnerin, stand allein am Heck des Schiffes und schaute gedankenverloren ins eintönige Grau-Weiß der Gischt, die eine lange Bahn hinter dem Schiff zog. Sie fuhr diese Strecke regelmäßig hin und zurück und stand fast immer an der gleichen Stelle. Dabei hing sie den immer gleichen Tagträumen nach, in denen sie wieder das junge Mädchen war, das vor über 60 Jahren oft auf Vaters Fischkutter mitfahren durfte. Dass das Schiff mehrfach anlegte und weiterfuhr, bekam sie nur am Rande mit.

      Sie schreckte hoch, als sie hinter sich ein Knirschen wie von Sand unter Schuhen hörte und fast zeitgleich einen Ruck an ihrer Handtasche bemerkte. Bevor sie sich umdrehen konnte, wurde sie grob von hinten gepackt, angehoben und eine Sekunde später fiel sie im freien Fall über die Reling. Bevor sie auf dem eiskalten Wasser aufprallte, nahm sie noch die Umrisse einer Gestalt im roten Mantel wahr, die ihren Fall beobachtete. „Weihnachten“ dachte sie für eine Sekunde, wusste aber selbst nicht so genau, warum.

      Als sie den Mund zum Schreien öffnete, war sie auch schon unter Wasser und der kalte Sog des schäumenden Kielwassers ließ sie lange Zeit orientierungslos durch die Fluten straucheln. Als sie endlich wieder auftauchte, war die Fähre weit außer Hörweite und ihre gequälten Hilfeschreie waren reine Kraftverschwendung.

      „Chef! Cheeeef!“ Polizeioberkommissar Köppcke hastete durch den neonbeleuchteten Präsidiumsflur. Sein Vorgesetzter, Hauptkommissar Hansen, war ein paar Tage mit Grippe zu Hause geblieben und an diesem Mittwochmorgen auch heute nur auf dringende Bitte seines Kollegen in aller Frühe zur Arbeit gekommen. Völlig außer Atem stützte sich Köppcke an einem Heizkörper ab: „Chef ... Gott sei Dank ... gut, dass Sie da sind - das wächst mir hier alles über den Kopf.“

      Knut Hansen schob sich die leere Pfeife von einem Mundwinkel in den anderen und wieder zurück. Seine Nase war noch von der starken Erkältung rot, die Augen glasig und er hatte sich einen dicken roten Wollschal um den Hals gewickelt. „Schnief ... ruhig Köppcke - nun lassen Sie mich doch erstmal reinkommen. Ich mache mir jetzt erstmal einen Pfefferminztee und Sie erzählen mir in aller Ruhe, was los ist ...“

      Im Büro angekommen, wartete der jüngere Polizist geduldig, bis der schier unendlich laute Wasserkocher sich ausschaltete, so dass er seinen Bericht beginnen konnte:

      „Wir haben wahrscheinlich einen Raub mit versuchtem Totschlag auf dem Fördedampfer. Die 81-jährige Annegret Hamann wurde um ihr Erspartes gebracht und anschließend über Bord geworfen. Die gute Frau ist dann ungefähr einen halben Kilometer bis in den Hafen geschwommen und das bei 14 Grad Wassertemperatur. Danach ist sie klatschnass bis zur Polizeiwache gegangen, weil sie, ich zitiere „sich so nass ja wohl in kein Taxi setzen konnte und ja sowieso kein Geld mehr hatte“. Hier angekommen hat sie dann Anzeige erstattet. Sie hatte wohl 8000 Euro in bar bei sich und diverse ‚wertvolle Erinnerungsgegenstände’ - sprich: ein paar Fotos.“ Der Hauptkommissar pfiff durch die Zähne: „Stolzes Sümmchen!“ „Sie sagen es - Frau Hamann lässt sich wohl zweimal jährlich eine Dividende aus einer Firmenbeteiligung auszahlen, die auf den Verkauf des Fischereiunternehmens ihres Vaters an eine große Reederei zurückgeht. Das Geld bewahrt sie, wie‘s scheint, zu Hause in einer Keksdose auf. Offensichtlich ist sie nicht der ängstliche Typ, denn ihr dickes Portemonnaie hinderte sie nicht daran, ihre übliche Tour mit dem Dampfer zu machen. Sie fährt wohl mehrmals im Monat nach Laboe raus, isst da im Hafen einen Räucheraal, und fährt gleich die nächste Tour zurück bis in die Innenstadt, wo sie auch wohnt. Zwischen den Anlegern Mönkeberg und Reventlou ging sie dann über Bord und schwamm, wie gesagt, an Land. Zum Täter konnte sie nicht viel sagen, da ihre Augen wohl nicht mehr die besten sind. Sie war sich nur sicher, dass er eine rote Jacke und Mütze trug und nach Weihnachten roch. Wir haben sie dann nach Hause gefahren und noch stundenlang gelacht ... obwohl der Anlass selbstverständlich nicht lustig ist“.

      „Tröööööööööt“ Inspektor Hansen hatte sein Stofftaschentuch ausgepackt und putzte sich jetzt ausgiebig die Nase. „Na das klingt doch mal nach einem Jahrhundert-Fall ... ›Alte Dame vom Weihnachtsmann beraubt‹ na gut ... erzählen Sie weiter!“ Köppcke blätterte seinen Notizblock um und fuhr fort: „Die alte Hamann ist wohl hart im Nehmen: Noch am selben Abend fuhr sie mit einer Freundin zum Bummeln in die Innenstadt. Im Café Teufelchen hat sie dann einen wilden Schreianfall bekommen und sich an einem Mann festgekrallt, der ihrer Meinung nach der Täter war.“

      „Ich rate einfach mal: weiße Haare, weißer Bart?“, gluckste Hansen dazwischen. „Nein, gar nicht... winkte Köppcke gequält lächelnd ab. Der Verdächtige ist Mitte 40, bartlos mit dunklem Kurzhaarschnitt. Der Mann heißt Martin Lamprecht und ist seit 20 Jahren Posaunist im Kieler Kammerorchester. Er und seine Kollegen hatten an dem Tag eine längere Konzertveranstaltung unten im Schloss und ein Teil der Musiker hat sich danach noch auf ›ein Bier‹ getroffen. Wir haben Lamprecht und Hamann dann für die Formalitäten mit auf die Wache genommen. Aber wie zu erwarten war, scheint Frau Hamann doch nicht ganz alle Sinne beisammen zu haben. Lamprecht hat natürlich alles bestritten. Seine Aussagen sind auch stimmig - er hat ein Alibi, keine Vorstrafen, es gibt kein Motiv ... alles eindeutig lupenrein wie‘s scheint ...“. Er verstummte.

      Inspektor Hansen schaute Köppcke mit kleinen, zugequollenen Augen durch den Pfefferminzteedampf über seiner Tasse an und wartete einen Moment, ob sein Kollege weitersprechen wollte. Dann hakte er in freundschaftlichem Ton nach: „Na komm - Olaf, wenn das alles so einfach wäre, hättest du mich doch nicht aus dem Bett geklingelt, also erzähl: Ihr habt Lamprecht also nach Hause geschickt - und dann?“ Olaf Köppcke schien in sich zusammenzuschrumpfen: „Also ... also, Chef - ich weiß auch nicht. Die Frau Hamann hat mich irgendwie in ihren Bann gezogen ... gestern war ich mir so sicher, dass sie ihn wirklich wiedererkannt hat ... da hab ich ihn ... dabehalten.“ Knut Hansen verschluckte sich an seinem Tee: „Dabehalten? In U-Haft? Ohne Grund? ... Köppcke Herrgott nochmal ... was machst du?“ Der Oberkommissar war den Tränen nahe: „Ich weiß Chef, ich lass ihn dann jetzt frei, entschuldige mich bei ihm und warte ab, was von oben auf mich zukommt ...“.

      Der Hauptkommissar massierte sich das stoppelige Kinn und schaute aus seinem Bürofenster auf den Hafen.

      „Nun mal langsam, Kollege. Wir kennen uns ja nun schon länger und ich weiß, dass du ein verdammt guter Polizist bist, der nicht ohne Weiteres sein Bauchgefühl über die Tatsachen stellt. Ich schlag dir Folgendes vor: Stell mir die Unterlagen zusammen und lass mich ´ne Stunde allein, vielleicht finde ich irgendetwas, was zumindest die U-Haft rechtfertigt. Dann sehen wir weiter.“

      Köppcke war unsicher: „Aber der Lamprecht? Der tobt unten in seiner Zelle!“ Sein Vorgesetzter winkte ab. „Der tobt auch in einer Stunde noch ... schlimmer wird es für dich dadurch auch nicht. Wenn ich nichts finde, möchte ich allerdings nicht in deiner Haut stecken. Aber vertrauen wir doch erstmal auf dich und unser rüstiges Großmütterchen.“

      Fünf Minuten später saß Hauptkommissar Hansen mit etwas weniger Zuversicht als er seinem Kollegen gegenüber zur Schau gestellt hatte, vor dem dünnen Polizeibericht. Und studierte immer wieder die mageren Fakten. Allesamt schienen sie darauf zu deuten, dass sein geschätzter Kollege demnächst anständig Ärger mit der Dienstaufsichtsbehörde kriegen würde - von einer eventuellen privaten Klage Lamprechts mal ganz zu schweigen. Was war nur in ihn gefahren? Er war doch sonst nicht so ein Bauchmensch.

      Hansen schüttelte den Kopf und überflog die langweilige Auflistung von Details: Laut des sorgfältigen, aber kurzen Berichtes wurde Lamprecht um kurz nach acht Uhr abends ins Untersuchungszimmer gebracht. Bei sich hatte er zu diesem Zeitpunkt einen Schlüsselbund und ein Portemonnaie mit 9,30 Euro in bar. Er trug seinen dunklen Konzertanzug und eine dunkelblaue Regenjacke mit hellrotem Futter. Außerdem hatte er seinen Instrumentenkoffer dabei, in dem sich aber lediglich die Posaune, diverse Reinigungsbürsten, ein Lappen und eine Flasche „Ballistol“ Universalöl zum Reinigen befand.

      Annegret Hamann wurde allem Anschein nach kurz nach 16.00 Uhr mittig zwischen den Anlegern Mönkeberg und Reventlou über Bord geworfen. Zu dieser Zeit war das „Kieler