Gerrit Hansen

Die kleinen unbedeutenden Fälle von Hauptkommissar Knut Hansen aus Kiel


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dicht umwucherten Feldweg entlang. Nach einigen hundert Metern wurde das Gebüsch lichter und gab die Sicht frei. Inspektor Hansen stieß einen Pfiff durch die Zähne. „Donnerlüttchen, Köppcke – so etwas habe ich noch nie gesehen – was ist das alles?“ Der Anblick, der sich ihnen bot, war wirklich imposant. Inmitten grüner, schafbeweideter Wiesen war ein großes Areal von geflochtenen Weidenholzzäunen umsäumt. Darauf standen dicht an dicht weiße Leinenzelte. Mittelalterliche Banner wehten allenthalben und sowohl die Händler, als auch die vielen Besucher schienen aus längst vergangenen Zeiten zu stammen. Am Kopfende des Platzes standen einige urige Fachwerkhäuser, die nur der noch helle Putz als Produkte des 21. Jahrhunderts entlarvte. Das bei weitem Auffälligste an diesem Ort war jedoch der etwa 10 Meter in die Höhe ragende Turm aus mächtigen, klobigen Holzbalken, der etwas abseits des Ganzen auf einem kleinen Hügel stand. Wie eine Burg wurde das Gebäude von einem schilfgesäumten Graben umzogen, dessen trübes Wasser fast vollständig mit Entenflott bedeckt war. „Das, Chef – ist die „Turmhügelburg“. Ein Stück wiederbelebte Geschichte. Ein originalgetreu rekonstruierter Burgturm wie sie hier im frühen Mittelalter im ganzen Land gestanden haben. Hier in Lütjenburg werden mehrmals im Jahr Mittelaltermärkte veranstaltet. Da kommen aus dem ganzen Land Mittelalterfans zusammen, die für ein paar Tage leben wie in alten Zeiten. Händler, Schausteller, aber auch Leute wie Sie und ich – die einfach nur kurz raus aus dem Alltag wollen – verleben hier bei Wind und Wetter eine tolle Zeit. Da klingelt kein Handy – da gibt‘s keine Tiefkühlpizza – einfach grandios … Sie werden sehen.“

      Das ungleiche Paar – Köppcke in voller Paladinsrüstung, Hansen in Troyer, Jeans und Seemannsmütze – passierte das Kassenhäuschen und stürzte sich ins Getümmel. Der Hauptkommissar war tatsächlich beeindruckt. Bei näherem Hinsehen wurde natürlich offenbar, dass ein wesentlicher Teil der Besucher ganz normale Straßenkleidung trug – aber das Gesamtbild stimmte. Hansen war ein spröder, eher pragmatischer Typ – seine Kindheit auf Langeoog war geprägt von Hilfsarbeiten im Haushalt und am Hafen und außer durch seine geliebten Kriminalromane war seiner Phantasie nie viel Freiraum vergönnt gewesen. So übte das bunte Treiben einen Zauber auf ihn aus, der ihn völlig unvorbereitet traf. Am ersten Stand blieb er stehen und kaufte spontan einen gefilzten braunen Hut mit gelber Feder und platzierte ihn mit stolzer Miene anstelle seiner Seemannsmütze. „Jetzt bin ich inkognito, tapferer Recke Olaf“, witzelte er und erstaunte seinen Kollegen – so ausgelassen hatte er seinen Chef noch nie erlebt. Lachend deutete er eine leichte Verbeugung an: „Dann folget mir durch das bunte Treiben, Junker Hansen.“

      Zusammen schlenderten sie kreuz und quer über den geschäftigen Platz. Sie lachten über finstere Kerle, die an einem gewaltigen hölzernen Pranger ausgestellt waren, standen an einem riesigen, kuppelförmigen Steinofen für frisches Brot an und kauften einem wandernden Mönch Trinkhörner mit Met ab. Sie besuchten das Ritterturnier, bestaunten jonglierende Gaukler und wichen grimmig dreinschauenden Söldnern aus, die ihren Weg kreuzten. In einer Ecke blieben sie stehen, prosteten sich zu und schauten sich begierig danach um, was es als nächstes zu entdecken gäbe, als es direkt hinter ihnen merkwürdig zu rasseln anfing. Kaum hatten sie sich versehen, standen sie inmitten einer Schar orientalisch anmutender, verschleierter Tänzerinnen, die mit wackelnden Hüften und mystischen Handbewegungen um sie herumtanzten. Vielleicht lag es am grellen Sonnenlicht, aber Köppcke hatte den Eindruck, diese Grazien hätten ihre beste Zeit als Tänzerinnen wohl schon länger hinter sich gehabt. Hansen jedoch war offenbar völlig neben sich – mit zusammengekniffenen Knopfaugen fixierte er eine besonders dralle, recht kleine Tänzerin, die die Rolle der Vortänzerin innehatte und den Polizisten mit funkelnden Augen und aufforderndem Fingerspiel bezirzte. Köppcke wurde das etwas unheimlich und so schob er seinen Chef vorsichtig, aber bestimmt in Richtung der nächsten Zelte. Knut Hansens Blick wich dabei nicht von dem grell geschminkten Gesicht der Verschleierten. Erst als sie um eine Ecke bogen und er fast über einen hockenden Händler gestolpert wäre, schüttelte Hansen den Kopf und wurde wieder klar. „Holla die Waldfee! Olaf – hast du die Frau gesehen? ... Beim Klabautermann. Ich wünschte, ich wär‘ nochmal 50.“ „Ja, ja, Chef – schon gut. Schauen wir doch mal, was es hier noch so gibt – Sie da! Was verkaufen Sie?“ Der eben noch am Boden hockende Mann, der gerade dabei war, einige abgedeckte Körbe auf einen Karren zu laden, sprang förmlich auf, um zu antworten. Voller Inbrunst warf sich der in blaues Leinengewand gekleidete Händler ins Zeug, wobei er sein schütteres Haar mit theatralischer Geste aus dem Gesicht strich. „Die edlen Herren mögen meine Unachtsamkeit entschuldigen. Ich bin Hermann, meines Zeichens Gemüsehändler. Ich verkaufe hier nur die beste Ware für wenige Goldstücke. Gerade wollte ich mein Lager abbauen und von dannen ziehen, aber wenn ihr etwas möchtet, würde ich euch mit Freuden bedienen. Ich habe die besten ursprünglichs­ten Sorten Gemüse.“ Dabei verbeugte er sich und zog die Decke von einem Korb ab, der – wie zu erwarten war – bis zum Rand mit bunt gemischtem Gemüse gefüllt war. „Alles aus uralten frühmittelalterlichen Sorten nachgezüchtet. Ich habe hier Tomaten, Kartoffeln, Paprika – sehen Sie hier – diese Kartoffeln – so etwas gibt es heute sonst gar nicht mehr – genau diese Sorte hat sich schon Richard Löwenherz schmecken lassen.“ Kommissar Hansen runzelte die Stirn und wandte sich lachend zum Gehen: „Löwenherz, wie? ... Nein, danke – ich habe noch genug Gemüse zu Hause ... Recke Olaf! Lasset uns dort hinten die Musikanten aufsuchen – mich dünkt, das große Musizieren will gleich beginnen “ Heinrich, der Gemüsehändler nahm das missglückte Geschäft gelassen, winkte den beiden lächelnd zum Abschied und machte sich wieder ans Einpacken.

      Als Köppcke und Hansen bei der Musikbühne am Fuße der Turmhügelburg eintrafen, nahmen sie mit geschultem Polizistenohr schon aus einiger Entfernung wahr, dass etwas nicht stimmte. Als sie näher kamen, sahen sie, dass die Musiker, Tänzer und diverse Händler aufgeregt miteinander sprachen, wenngleich sie gleichzeitig bemüht schienen, eben dies nach außen zu verbergen. Sie schauten sich immer wieder verstohlen über die Schulter und gelegentlich zischte einer ein „Psst, leise!“ in die Runde.

      Die Routine brauchte nur wenige Sekunden – von jetzt auf gleich war Knut Hansen wieder knallharter Vollblutpolizist. Er baute sich inmitten der aufgeregten Menschentraube auf und sagte: „So, meine Damen und Herren – was ist hier los?“ Die folgende Stille war unheimlich: Im Kreis um den Kommissar herum standen ein knappes Dutzend mittelalterlich gewandeter Personen, die ihn verdutzt anguckten.

      Es dauerte eine Weile, bis ihm klar wurde, was nicht stimmte. Sein üblicher, bestimmter Auftritt, der ihn in der Regel sofort für jedermann klar als Polizist kennzeichnete – funktionierte nicht. Das lag vielleicht daran, dass er in der linken Hand ein Brot, in der rechten ein Trinkhorn und auf dem Kopf einen gefiederten Hut trug. Dass hinter ihm ein mit Helm gut 2,10 m großer, roter Ritter mit riesigem Schwert stand, machte die Situation für die Umstehenden nicht wirklich leichter durchschaubar. Ganz sicher war Knut Hansen schon irgendwann einmal in seinem Leben rot geworden – er konnte sich nur nicht daran erinnern, wann. In diesem Moment aber floss das Blut mit einem solchen Druck in seinen Kopf, dass er tatsächlich das Gefühl hatte, seine Ohren würden anschwellen. Schnell riss er sich den Feder-Hut vom Kopf, setzte seine Seemannsmütze wieder auf und versuchte möglichst souverän Hut, Brot und überschwappendes Horn unter seinen Arm zu klemmen und damit außer Sicht zu bringen.

      „Verzeihung – ich bin Hauptkommissar Hansen vom vierten Kieler Polizeirevier und der Drachentöter hinter mir ist Oberkommissar Köppcke – gibt es hier ein Problem?“ Eine Frau löste sich aus der Gruppe und es sprudelte aufgeregt aus ihr heraus: „Wir sind bestohlen worden! Jemand ist während der einzelnen Vorstellungen durch die Garderobenzelte gegangen und hat eine Menge an Wertgegenständen mitgenommen – Portemonnaies, Kreditkarten, Handys – alles, was die Kollegen unter den Kostümen nicht mit sich rumtragen wollten. Außerdem fehlen die Gage der Musiker und drei Geldkassetten, die die Händler während ihrer Pause verschlossen am Stand gelassen haben. Da das meiste hier zum Selbstkostenpreis veranstaltet wird, sind das fast hauptsächlich private Gelder ... Wir werden wohl in Zukunft alle mit Tresoren hier anreisen und unsere Geldbeutel mit Ketten sichern müssen“. Angewidert schüttelte sie den Kopf. „Ich könnte mich vergessen, wenn ich mir vorstelle, dass irgendein Kerl unsere Vertrauensseligkeit missbraucht ... für ein bisschen Geld.“

      Hansen vermisste seine Pfeife, die er im Auto liegen gelassen hatte. Obwohl er schon seit Jahren nicht mehr