Selma Lagerlöf

Selma Lagerlöf - Gesammelte Werke


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Er hatte versucht, die Witwe seines Bruders bei einer Erbschaft zu verkürzen, aber seine eigene Frau hatte den Betrug entdeckt und den Pfarrer gebeten, nach Hånger zu kommen und mit ihrem Manne darüber zu reden. Ihr Mann jedoch hatte gemeint, es handle sich um etwas anderes, wilde Eifersucht loderte in ihm auf; auf dem Heimweg war er über den Pfarrer hergefallen und hatte ihn erschlagen.

      Jawohl, was Pfarrer Rhånge vorhin gesagt hatte, war doch richtig: Es war nicht immer sehr angenehm gewesen, mit einem der Männer auf Hånger verheiratet zu sein.

      Aber trotz alledem hatte sich niemals eine von ihren Frauen für tot ausgegeben, um von ihrem Unglück freizukommen!

      Er lachte kurz und hart auf. Man könnte wirklich meinen, er sei der Schlimmste von allen. Sonst hätte seine Frau doch nicht zu einem so verzweifelten Mittel greifen müssen.

      Und was hatte sie ihm denn vorzuwerfen? Nichts als ein Übermaß von Liebe. Er hatte nichts anderes von ihr begehrt, als daß sie ihm angehören solle, ihm ausschließlich, ihm ganz allein.

      Aber wie, wenn nun das eine allzu schwere Forderung gewesen wäre? Wenn das schwerer zu erfüllen gewesen wäre, als eine von den verrückten Forderungen der Alten? Kann ein Mensch verlangen, einen anderen ganz vollständig zu eigen zu haben? Nicht nur seine Liebe, sondern auch alles andere?

      Dem Pfarrer fiel ein, daß ihm Sigrun wie ein Wesen von anderer Art als andere Menschen vorgekommen war, daß sie ihm eine Natur für sich zu haben schien, der sie indes niemals Ausdruck zu geben vermocht hatte.

      Und Sigruns innerste Natur, das wußte er, war Barmherzigkeit. Gutes tun dürfen, sich für andere aufopfern, Kranke pflegen, das war das Verlangen ihrer Natur gewesen; aber er hatte sich dem widersetzt. Er hatte dieses Bedürfnis nicht ertragen. Er wollte sie allein besitzen, konnte nicht teilen.

      Und das, was geschehen, was ihm kürzlich erst so abscheulich vorgekommen war, vielleicht war das nichts anderes gewesen, als was notwendig geschehen mußte. Es war die zusammengedrückte Stahlfeder, die im selben Augenblick aufgesprungen war, wo der Druck nachgelassen hatte.

      »Sigrun ist die Barmherzigkeit,« dachte er. »Das ist die ihr gestellte Aufgabe. Das hätte ich verstehen müssen.«

      Diese plötzliche Einsicht in seinen eigenen Fehler tat ihm wohl. Sigrun kam ihm nicht mehr so tief gesunken vor, so unfaßlich hart und lieblos.

      Er wälzte diesen Gedanken hin und her.

      »Ja gewiß, darum sind wir niemals glücklich gewesen. Ich habe sie gehindert, das zu werden, was in ihrer Natur beschlossen war.«

      Aber plötzlich war die alte Qual wieder da.

      »Dieser Sven Elversson paßt besser zu ihr als ich,« dachte er. »Auch er eignet sich für die Werke der Barmherzigkeit. Darum ist sie auch bei ihm.«

      Bisher hatte er nicht mit Eifersucht an Sven Elversson gedacht.

      »Sigrun weiß, was er getan hat,« hatte er sich gesagt. »Sie kann ihn unmöglich lieben.«

      Aber nun kam ihm alles zusammen mehr als verdächtig vor. Warum hatte Sven Elversson ihm nicht sofort Mitteilung davon gemacht, daß Sigrun nach Hånger gekommen war? Liebte er sie und hatte er gehofft, sie für sich zu behalten?

      Mitten in seinem Zorn überkam ihn jedoch einer von den Gedanken, die hier in der Einöde in der Luft zu schweben schienen, ein Gedanke, der die Seele des Unglücklichen wie ein milder Sommerregen erquickte.

      »Hast du denn eigentlich ein Recht, Beistand und Hilfe von Sven Elversson zu erwarten?« fragte der Gedanke.

      Und der Pfarrer gedachte daran, wie er sich an Sven Elversson vergangen, ihm das Leben zerstört und ihn zu namenlosem Elend verurteilt hatte.

      Da fiel sein eigenes Schuldgefühl auf eine eigene Art lindernd und kühlend auf seinen Zorn über das, was der andere an ihm verbrochen hatte. Es war wie ein heilender Trank in einem schweren Fieber.

      Er erweckte Demut und Besinnung in seinem Gemüt.

      Er fühlte sich nicht mehr als der Rächer, der alle Gerechtigkeit auf seiner Seite hat.

      Er war bereit, nicht zu vergeben, aber doch genau zu untersuchen und zu prüfen, ehe er sein Urteil fällte.

      Der Pfarrer zog die Zügel an, und das Pferd blieb stehen. Das Bauerngut Hånger lag im Abendglanz etwas tiefer in der Landschaft vor ihm.

      Einen Augenblick fragte er sich zweifelnd, ob er am rechten Ort sei. Hånger war ihm jederzeit als ein großer Hof mit langen Gebäuden geschildert worden. Hier war allerdings das Wohnhaus sehr ansehnlich, alle anderen Gebäude jedoch waren klein.

      Aber der Baumgarten war da. Auf dem Abhang zwischen den kleinen Nebengebäuden wuchsen himmelhohe hundertjährige Apfelbäume, die gerade jetzt in herrlichster Blüte standen und den Hofplatz mit einer frei schwebenden Decke in Weiß und Rot überspannten.

      Und auch die alte Eiche war da, noch nicht völlig belaubt, aber im Begriff, ihre knorrigen Äste und Zweige wieder mit weichem Blattgrün zu bekleiden.

      Und die Aussicht war da. Die Aussicht über eine ungewöhnlich zarte leicht und weich gezeichnete Landschaft, in der sich die zehn Bergrücken und die zehn Seen jetzt in der Stunde des Sonnenuntergangs mit allen nur erdenklichen Farben schmückten, wo die eine Höhe in hellem Glanze lag und die andere in tiefem Schatten, wo der eine See wie ein blanker Stahlschild dalag, während sich die Tannen dahinter mit Goldglanz bedeckten. Man konnte sich ganz unmöglich vorstellen, daß Menschen, die ein ganzes Leben lang ein solches Bild vor Augen gehabt hatten, harte und rohe Wilde bleiben konnten, deren Gedanken auf nichts anderes gerichtet waren, als Reichtum und Macht zu gewinnen. In der Schönheit dieser Umgebung meinte der Pfarrer die Erklärung zu finden für die freudige, prachtliebende, großzügige Art, die seine Vorfahren ausgezeichnet haben sollte.

      Eine geraume Weile saß Pfarrer Rhånge in die Betrachtung der ganzen Umgebung versunken still da; aber schließlich sprang er doch aus dem Gefährt und führte es in den nahen Wald. Hier band er das Pferd an einen Baumstamm, legte ihm Futter vor und machte sich dann sachte und vorsichtig auf den Weg nach dem Hofe.

      Als er so nahe herangekommen war, daß er zwischen den Gebäuden durchsehen konnte, entdeckte er, daß an dem linden, hellen Frühlingsabend ein Mann und eine Frau unter der alten Eiche an einem Gartentisch einander gegenübersaßen. Der Mann las vor, und die Frau war mit einer Handarbeit beschäftigt. Sie hatten ihn bis jetzt nicht bemerkt.

      Der Pfarrer blieb stehen, ging dann um eines der kleinen Gebäude herum und näherte sich ihnen wieder von der anderen Seite. Gleich neben dem Platz, wo der Mann und die Frau saßen, wuchs eine hohe und dichte Fichtenhecke. Im Schutze dieser Hecke näherte er sich ungesehen und mit leisen Schritten den beiden. Als er so weit gekommen war, daß er die Stimme des Vorlesenden deutlich vernehmen konnte, kauerte er sich auf den Boden nieder und schob vorsichtig ein paar Zweige der Hecke auseinander; nun konnte er soviel sehen, als er wünschte.

      Er machte sich keinen Augenblick Gewissensbisse darüber, daß er horchte. »Sigrun und meine ganze Zukunft stehen auf dem Spiel,« dachte er. »Ich muß die Wahrheit wissen, auf welche Weise ich sie auch immer erfahren mag.«

      Zu Anfang gab es für ihn jedoch nichts anderes zu erlauschen, als ein kleines Gedicht von dem Dichter Snoilsky. Es war das Gedicht von dem Kriegsgefangenen, der sich, endlich aus der Gefangenschaft erlöst, nach mühsamer Wanderung an einem finstern Abend vor der armseligen Hütte befindet, in der er vor vielen Jahren seine Frau zurückgelassen hat. Aber als er durchs Fenster lugt, findet er, daß sie jetzt einen anderen Mann an ihrer Seite hat. Sie hatte natürlich gemeint, er sei tot, und da geht er fort, hinaus in die Nacht; er verschwindet lieber, als daß er ihr Kummer und Schmerz bereitet. Aber ehe er geht, hängt er ein Lederbeutelchen, in das er alle die kleinen Münzen, die er besitzt, getan hat, an die Türklinke als ein Geschenk für die einfache Heimstätte.

      Sven Elversson las dieses Gedicht von der verzichtenden Liebe sehr schön vor, aber der Pfarrer hörte nur die Worte, ohne den Inhalt eigentlich recht zu fassen. Seine ganze Seele war von