Selma Lagerlöf

Selma Lagerlöf - Gesammelte Werke


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daran zu erinnern, daß er einem Geschlecht angehöre, das kein Unrecht duldete und sich zu rächen verstand.

      Nachdem Sven Elversson die letzten Worte des Gedichtes vorgetragen hatte, sprachen die beiden am Tisch keine Silbe mehr miteinander. Sigrun stand rasch auf und ging ins Haus. Sven Elversson aber wanderte nach der entgegengesetzten Seite, durch die Fichtenhecke, an dem Torpfosten vorbei, hinunter an einen kleinen, glitzernden Teich; dort blieb er stehen und schaute ins Wasser hinab. Er war in einer Entfernung von wenigen Schritten an dem Pfarrer vorübergegangen, hatte ihn aber nicht gesehen.

      Und der Pfarrer hatte das Gefühl, als müsse er den Mann, den Sigrun liebte, töten.

      Das wäre ein leichtes gewesen. Er brauchte sich nur von rückwärts zu ihm hinzuschleichen und ihn ins Wasser zu werfen. Dieser Mann würde nicht einmal einen Versuch machen, sich zu verteidigen, das fühlte der Pfarrer deutlich. Er würde den Tod als einen willkommenen Gast begrüßen.

      So vergingen ein paar gefährliche Augenblicke. Dann kam dem Erregten ein Gedanke, der ihn rettete. Gewiß hatte dieser Gedanke schon lange in der Tiefe seiner Seele geschlummert, aber erst jetzt stieg er herauf in sein Bewußtsein.

      »Du hast einst diesen Mann aus deiner Kirche verstoßen, weil er sich an einem Toten vergriffen hatte; und du, der das tat, du willst dich jetzt an einem Lebenden vergreifen?«

      Das war es, was ihn in dieser schweren Stunde zurückhielt. War das Leben nicht tausendmal unantastbarer als der Tod? Wie konnte er, der Sven Elversson nicht in seiner Kirche hatte sehen wollen, noch ein derart ungezügelter Mensch sein, um sich versucht zu fühlen, dem Leben eines Menschen ein Ende zu bereiten, eine Seele von ihrem Körper zu trennen, etwas zu begehen, dessen Tragweite kein Mensch kennt, das von Ewigkeit zu Ewigkeit Folgen haben kann?

      Als er wieder einen Blick nach dem Teiche warf, wo Sven Elversson gestanden hatte, war dieser verschwunden.

      Und nicht nur er war verschwunden, sondern auch der Torpfosten. Der Pfarrer glaubte später, er sei, während er gegen die Versuchung angekämpft hatte, zu dem Pfosten hingegangen, habe ihn mit allen seinen Stützen zu Boden geworfen; und der Pfosten, der durch und durch morsch und verfault gewesen war, sei lautlos umgefallen und habe nur ein Häufchen Staub hinterlassen.

      Aber er wußte nicht recht, ob es sich so verhielt. Er glaubte auch, der Torpfosten habe in seiner eigenen Seele gestanden, und er sei die gewalttätige, eigenmächtige Natur seines ungezügelten Ichs mit allen ihren Stützen von ererbten Sitten, eingepflanzten Vorurteilen und alteingewurzelten Rechten gewesen, die jetzt eingefallen sei.

      Denn daß sie wirklich eingefallen war, das fühlte er mit Erstaunen und freudiger Rührung.

      Er fühlte es an der Flut sanfter Gedanken, die sich jetzt in seine Seele ergoß. Er fühlte es durch die Kraft vergebender Liebe, die ihn nun erfüllte. Er fühlte es an der Freude, die er plötzlich an seinem Beruf als Pfarrer empfand.

      Er dachte an sein Leben: ja, er war ein Mann, der gleichzeitig das Feld bebaute und an den Seelen arbeitete, ein Hausvater und Hirt seiner Gemeinde, ein Herr und Meister und ein allen helfender Diener, und er glaubte erst jetzt diesen edelsten, größten und beglückendsten aller Berufe in Wahrheit zu lieben.

      Und er war glücklich in dieser hellen Frühlingsnacht, während er allein über die öde, kärgliche, unschöne Hochebene in sein ärmliches Heim zurückfuhr.

      Mit Verwunderung dachte er an das, was ihn erlöst hatte, nämlich nicht seine Liebe, auch nicht sein Beruf, sondern der Gedanke an die Hoheit und Heiligkeit des Lebens: dieser Gedanke, der langsam aus Sven Elverssons schwerem Schicksal emporgewachsen war und jetzt fest und klar und völlig reif dastand.

      * * *

      Als Sigrun am nächsten Morgen auf den Hofplatz hinaustrat, sah sie, daß Snoilskys Gedichte auf dem Gartentisch liegen geblieben waren, und sie ging hin, das Buch mit hineinzunehmen.

      Doch als sie es aufhob, entdeckte sie, daß etwas zwischen den Blättern lag, und als sie nachschaute, was es sei, fiel ihr Blick auf einen kleinen Beutel aus gelbem Leder.

      Er war gerade bei dem Gedicht hineingelegt worden, das von der Heimkehr des Kriegsgefangenen handelt, und er enthielt drei Ringe, zwei glatte Eheringe sowie einen anderen Ring, den Sigrun auch von ihrem Mann bekommen hatte, nebst ein paar anderen kleinen Schmuckstücken.

      Sigrun wunderte sich und überlegte – allmählich begriff sie alles. Und von tiefer Rührung übermannt, fing sie an zu weinen.

      So fand sie Sven Elversson.

      Sie zögerte, ihm auf seine besorgten Fragen zu antworten. Endlich stieß sie schluchzend hervor:

      »Eduard ist heute nacht hier gewesen, er hat unser ganzes Gespräch gehört! Er hat verstanden, daß ich dich liebe, und hat das für mich hier gelassen.«

      »Mich liebst?« rief Sven Elversson. »Mich liebst?«

      »Ja,« sagte Sigrun, »Eduard hat es gesehen, aber er zürnt mir nicht. Geliebter, er kommt nicht hierher und holt mich. Er will, daß ich hier bleibe und dein eigen werde!«

      Im Laufe des Nachmittags kam Lotta Hedman nach Hånger, um im Auftrag des Pfarrers zu fragen, wie Sigrun nun alles geordnet haben wolle.

      Und Lotta hatte sehr viel zu erzählen, unter anderem auch, daß sie in der vorhergehenden Nacht zum letztenmal den Hof Hånger in seiner ganzen altmodischen Schönheit vor sich habe auftauchen sehen. Sie habe die alte Hausmutter an ihrem Fenster erblickt und den Torpfosten und alles andere.

      Aber plötzlich habe die Alte ihre Hände zum Himmel emporgehoben, und ihr Gesicht habe vor Freude gestrahlt.

      Und eine Stimme habe laut verkündigt:

      »Die Riesen von Hånger sind von ihrem Fluch erlöst!«

      Und im selben Augenblick sei die alte Wächterin tot zu Boden gesunken, der Torpfosten sei umgefallen, ein Haus nach dem anderen sei eingestürzt, und da habe sie, Lotta Hedman, es gemerkt: jetzt war die endgültige Befreiung da, und nun werde ihr der Hof nie mehr erscheinen.

      Jeder Mensch weiß, wie merkwürdig es einem mit Gedanken gehen kann. Es ist, als würden sie von einer unsichtbaren Hand über die Erde ausgestreut. Und da geht man wohl umher und meint, man habe etwas ganz Besonderes und Schönes gefunden und ist stolz und froh, bis man merkt, daß derselbe Gedanke gleichzeitig in vielen hundert anderen Köpfen aufgetaucht ist.

      So ging es mit Pfarrer Rhånges Gedanken über die Heiligkeit des Lebens. Er war keineswegs der einzige, der sich damit beschäftigte. – – –

      Es war im Juni, zu jener Zeit des Jahres, wo man in Bohuslän, oder vielleicht besser gesagt, in den Küstenorten und Schären von Bohuslän Gäste erwartete.

      Überall war man eifrig beschäftigt gewesen, alles für ihren Empfang herzurichten. Die Leute hatten ihre Häuser und Boote frisch angestrichen, ihre Zimmer geputzt, ihre Anpflanzungen gesäubert, ihre Badehäuser geheizt und ihre Bassins gereinigt; und jetzt begannen auch die Eisenbahnzüge, voll von Gästen aus allen Richtungen des Landes, anzukommen. Da kamen Krüppel und Überanstrengte, Scharen von Kindern und Scharen von alten Leuten, solche, die Ruhe, und solche, die Zerstreuung haben wollten. Und es war, als sei ganz Schweden auf dem Weg nach den kahlen Schären und dem unfreundlichen atlantischen Meer.

      Aber alle diese Gäste, auf deren Empfang man sich vorbereitet hatte, erwartete man von Osten, vom Lande her. Von Westen, vom Meere, wurden keine Fremden erwartet. Zu ihrem Empfang hatte man keine Vorbereitungen getroffen. Von dieser Seite war weder eine Anfrage noch eine Bestellung eingetroffen.

      Wenn aber nun trotzdem Gäste aus dem Westen eintrafen, so konnte ihr Empfang nicht derselbe sein, wie der, der den von der Landseite Kommenden bereitet wurde. Denn durch sie entstand Jammer und Verwirrung und Traurigkeit, aber keine Freude.

      Als die erste Woche des Juli im Jahr 1916 vorüber war, mußte Sven Elversson dieser Gäste wegen eine Reise nach Applum antreten. Sein Bruder, Jung-Joel, der in den letzten Jahren Seemann gewesen war und sich