auf der Reise befanden, und er hatte zu seiner jungen Frau gesagt, sie solle seinen Bruder herbeischaffen, er müsse ihn durchaus sprechen.
Als Sven Elversson zu Jung-Joel kam, wanderte dieser in der kleinen Kammer hinter der Küche, in die das junge Ehepaar alle seine guten Möbel hineingestellt hatte und die sonst niemals benutzt wurde, ruhelos auf und ab. Er sah bleich und abgespannt aus, war aber nicht eigentlich krank. Seine Augen hatten rote Ränder und sahen aus, als könne er sie kaum noch offen halten, aber Jung-Joel fand keine Ruhe, wollte sich weder setzen noch hinlegen.
»Nun, wie geht es dir, Jung-Joel?« fragte Sven Elversson.
Jung-Joel beantwortete weder diese Frage, noch gab er sich sonstwie den Anschein, als ob er den Bruder bemerkt habe. Unermüdlich setzte er seine Wanderung fort und fuchtelte dazwischen mit den Armen in der Luft herum.
»Ja, das schlimmste ist doch das mit den Möwen!« sagte er.
»Wenn man ihn nur irgendwie zum Schlafen überreden könnte,« flüsterte seine Frau. »Aber er wagt es nicht, sich hinzulegen, wagt die Augen nicht zuzumachen. Er läuft nur unaufhörlich auf und ab.«
»Nein, das schlimmste ist doch das mit den Möwen!« wiederholte Jung-Joel, und noch einmal schlug er mit den Armen abwehrend um sich.
»Jung-Joel,« begann Sven Elversson, indem er versuchte, mit ihm von etwas längst Vergangenem zu sprechen, um ihn von dem, was ihn jetzt quälte, abzulenken. »Erinnerst du dich noch daran, wie du mit der Besatzung der Najade nach der Grimö hinauskamst, um mich zu zwingen, eine Schlange zu essen?«
Und wirklich! Jung-Joel hielt mitten in seiner Wanderung inne.
»Du bist da, Sven?« sagte er, während ihm die Tränen aus den müden Augen stürzten. »Wie gut, daß du gekommen bist! Nun kann ich dich doch um Verzeihung bitten, ehe ich verrückt werde.«
»So darfst du nicht reden,« erwiderte Sven Elversson.
Aber nun begann Jung-Joel zu erzählen.
Kurz nach der großen Nordseeschlacht war er an Skagen vorübergefahren und hatte dort die unzähligen Toten an der Oberfläche des Meeres dahintreiben sehen. Sie hatten nicht starr ausgestreckt im Wasser gelegen, sondern waren von ihren Korkwesten in aufrechter Stellung gehalten worden. Ihre Köpfe hatten über das Wasser herausgeragt, so daß man sogar die Gesichtszüge und den Ausdruck darauf hatte unterscheiden können.
Und weiter berichtete Jung-Joel, stundenlang sei der Dampfer durch Tausende und aber Tausende von Toten hindurchgefahren. Das ganze Meer sei von ihnen bedeckt gewesen.
Er schilderte dem Bruder, wie entsetzlich der Anblick dieser Toten gewesen sei, unbeschreiblich entsetzensvoll sei er gewesen; aber eins habe ihn doch am allermeisten erschüttert: allen den Toten seien von den unzähligen Scharen von Möwen, die über den Leichen kreisten, die Augen ausgehackt gewesen.
»Weißt du, was der zweite Steuermann tat?« fragte er. »Als er das Furchtbare eine Weile betrachtet hatte, machte er die Augen zu und sprang über Bord, und wir sahen ihn nicht wieder. Er wußte, daß er das Leben nicht mehr ertragen könnte, nachdem er das gesehen hatte. Und ich – ich wollte, ich hätte es gerade so gemacht wie er.«
»Nein, so darfst du nicht denken, Joel!« sagte Sven Elversson.
»Aber dies Entsetzliche hat sich mir so unauslöschlich eingeprägt, daß ich es immer vor mir sehe, sobald ich nur für eine Sekunde die Augen schließe,« fuhr Joel fort. »Ich wage nicht, mich hinzulegen, sondern muß Tag und Nacht aufbleiben, damit mir die Augen nicht zufallen.«
»Du mußt versuchen, an etwas anderes zu denken,« mahnte Sven Elversson. »Du hast doch Frau und Kind.«
»Ich will dir sagen, was wir taten,« sagte Jung-Joel. »Wir holten ein paar Gewehre, die sich an Bord befanden, und begannen auf die Möwen zu schießen. Auf diese Weise konnten wir doch an irgend etwas unseren Grimm auslassen, und ich glaube, das hat uns gerettet.
Aber sonst war das ein törichtes Tun. Denn was für eine Schuld hatten die Möwen? Und was bedeutet das, was Toten angetan wird, im Vergleich zu dem, was man Lebenden antut? Siehst du, das wollte ich dir sagen, Sven. Wenn ich bedenke, wie die Menschen miteinander umgehen – daß durch ihre Schuld Zehntausende von jungen Männern tot im Meere liegen – dann kann ich nur weinen und mich schämen.
Und früher, Sven, das weiß ich, da hab' ich mich oft über dich erhoben und mich für besser gehalten als dich. Aber jetzt bitte ich dich deshalb um Verzeihung. Ich, der dachte, du und deine Kameraden, ihr hättet schlecht an einem Toten gehandelt, ich habe nie etwas getan, um einem lebenden Menschen zu helfen.«
»Natürlich hast du das getan, Joel,« sagte der Bruder.
»Nein,« antwortete Joel weinend, und plötzlich trat er näher und kniete neben dem gepolsterten, mit vielen Deckchen geschmückten Lehnstuhl nieder, auf dem Sven Elversson Platz genommen hatte. »Ich habe nie jemand geholfen, weder den Eltern noch sonst jemand auf der weiten Welt. Und deshalb sieht es so schlecht in der Welt aus.«
»Ja, aber es wird besser werden, Jung-Joel,« sagte Sven Elversson, indem er dem Bruder sanft übers Haar strich. »Du kannst mithelfen, daß es besser wird.«
»Nein, jetzt ist alles aus,« versetzte Jung-Joel. »Jetzt hat sich mir dieses Bild unauslöschlich eingeprägt. Nun muß ich verrückt werden.«
Sven Elversson legte ihm zärtlich die Hand über die Augen.
»Versuch es einmal, Joel!« bat er. »Siehst du noch etwas Furchtbares, wenn ich dir meine Hand vor die Augen halte?«
»Nein,« antwortete Jung-Joel; »auf deiner Hand ruht ein Segen, denn du hast vielen Menschen geholfen.«
»Mach jetzt die Augen zu, Joel!« befahl Sven Elversson. »Und denke daran, daß wir uns von nun an bei dieser Arbeit helfen wollen!«
Jung-Joel schloß die Augen. Fast in derselben Minute sank sein Kopf auf das Knie des Bruders, und er schlief ein.
Das war wahrhaftig ein merkwürdiger Tag, den Sven Elversson in Knapefjord verlebte. Er mußte das Gefühl gehabt haben, wie wenn alle Menschen ungefähr auf dieselben Gedanken gekommen seien wie Jung-Joel.
Als der Bruder richtig zu Bett gebracht worden war und dort in einem gesunden Schlafe lag, machte Sven Elversson einen Spaziergang durch das Fischerdorf. Und nachdem er auf dem abschüssigen, schlüpfrigen, steinigen Boden ein Stück weit dahingewandert war, begegnete er der Frau des Hjelmfelt, der zu der einstigen Besatzung der Najade gehört hatte.
Sobald diese Frau Sven Elversson erkannte, eilte sie auf ihn zu, schüttelte ihm die Hand und bat ihn, doch zu ihrem Mann hineinzugehen und mit ihm zu sprechen. Hjelmfelt habe gleich zu Anfang des Weltkriegs mit anderen eine Mine bergen wollen, und seitdem besitze er nur noch einen Arm und zwei halbe Beine.
»Und das hab' ich mir gesagt,« fuhr die Frau fort, »wenn ich Euch je wieder träfe, wollte ich Euch bitten, uns unser Benehmen von damals zu verzeihen. Ich hab' an die denken müssen, die derartige Minen herstellen. Wenn einer von ihnen Eure Geschichte hörte, würde er wahrscheinlich meinen, er sei ein edler Mensch im Vergleich zu Euch.«
»Ja, das mag sein,« entgegnete Sven Elversson.
»Ich aber sage nein!« rief Hjelmfelts Frau voller Eifer. »Hält ein solcher Mensch es für ein Unrecht, Tote schlecht zu behandeln, so sollte er bedenken, wieviel tausendmal schlimmer es ist, solche teuflische Mordwerkzeuge herzustellen, die die Lebenden umbringen oder einen Mann unfähig machen, sich zu bewegen, und ihn zu lebenslänglichem Elend verurteilen. So etwas habt Ihr niemals getan. Ihr wolltet uns nur helfen!«
Sven Elversson begleitete sie zu Hjelmfelt und blieb eine geraume Zeit bei ihm. Er hörte alle seine Klagen geduldig an, und dann setzte er seine Wanderung fort.
Die nächste alte Bekannte, die er traf, war Julia Lamprecht. Auch sie kam auf ihn zu und redete ihn an.
»Ihr habt mir einmal angeboten, mich zu heiraten,« begann sie. »Ich aber sagte, so einen wie Euch wollte ich niemals heiraten. Daran hab' ich oft denken müssen. Seitdem