Selma Lagerlöf

Selma Lagerlöf - Gesammelte Werke


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es, dem wir unser Glück verdanken. Und Sie sollen oft an uns denken und sich freuen.«

      Er ergriff eine von ihren Händen, neigte sein Gesicht darüber und weinte.

      »Morgen, wenn Eduard hierher kommt,« sagte sie, »werde ich ihm das alles sagen, und er wird es verstehen und Ihnen danken.«

      Da richtete er sich ganz entsetzt auf.

      »Wie, soll auch er...«

      »Jawohl,« sagte sie. »Ich werde ihm sagen, daß Sie mich lieben, und er soll erfahren, wie sehr die Tote Sie geliebt hat. Ich werde ihm alles sagen. Es dürfen keine Unklarheiten und Geheimnisse mehr zwischen uns sein, das werden Sie verstehen. Er soll erfahren, wie ich das Geheimnis der Liebe gelernt habe. Ich werde ihm sagen, daß die Liebe nicht nach Gelöbnissen und Vorschriften fragt, denn sie kennt nur ihr eigenes Gesetz. Sie kennt nur eine Rücksicht, die Rücksicht auf das geliebte Wesen. Sie geht, wenn sie sieht, daß sonst das Leben für das geliebte Wesen zu schwer ist. Und ich will hier auf Hånger mit Eduard davon reden, hier auf dem Hofe seiner Vorfahren, in dieser Natur, die großzügig und weich zu gleicher Zeit ist. So kann auch Eduard sein, großzügig und weich zugleich.«

      Der Mann, der hinter der Hecke horchte, machte eine Bewegung. Er schämte sich, weil er die beiden ausspionierte. Er wollte hervortreten und offen und aufrichtig mit Sigrun und mit dem Manne reden, der Sigrun liebte und es versuchte, sie zu trösten und ihr Mut einzuflößen, jetzt, wo sie ihn verlassen mußte.

      Aber als er nun den Weg überschaute, den er zurückzulegen hatte, wenn er zu ihnen gelangen wollte, da entdeckte er, daß sich aus einem Steinhaufen gerade vor ihm ein alter Torpfosten erhob.

      Ein Tor war nicht mehr vorhanden und auch nicht der zweite dazugehörige Pfosten auf der anderen Seite. Einsam stand er da, morsch, dem Umfallen nahe und schon mit einer Menge Stützen, die ihn aufrecht hielten, ringsum gestützt.

      Der Pfarrer stutzte. Er hatte den Pfosten bis jetzt noch nicht gesehen, aber er hatte seine Aufmerksamkeit auch noch nicht auf diese Seite gerichtet. Zuerst war er überzeugt, dies alles sei nur eine Augentäuschung, und es sei gar kein Pfosten vorhanden, dann dachte er, der Pfosten könne ja als eine Art Merkwürdigkeit erhalten worden sein.

      Aber während er sich den Pfosten betrachtet hatte, war der günstige Augenblick zum Hervortreten verstrichen.

      Die Zwiesprache zwischen den beiden war weitergegangen. Sigrun hatte sich jetzt einem neuen Gesprächsgegenstand zugewendet.

      »Ist es möglich,« sagte sie, »daß Sie eigentlich gar nicht wissen, wie alles zugegangen ist? Mutter Thala hat mir gesagt, Sie hätten im Fieber gelegen und seien gar nicht bei Bewußtsein gewesen, und Sie könnten sich durchaus an nichts erinnern.«

      Sven Elversson schwieg.

      »Sie wollen mir nicht gestatten, daran zu rühren, und das begreife ich wohl,« sagte Sigrun. »Aber ich möchte doch gerne mit Ihnen darüber reden. Bedenken Sie, morgen werde ich nicht mehr hier sein.«

      »Natürlich war ich mit dabei beteiligt,« sagte Sven Elversson. »Aber ich war so krank, daß ich mich an nichts mehr erinnere. Nachher hörte ich die anderen von dem reden, was geschehen war, und ich machte ihnen Vorwürfe. Da antwortete man mir, ich hätte gar nichts zu sagen, denn ich sei auch mit dabei gewesen. Und da erinnerte ich mich, daß sie mich gezwungen hatten, auch...«

      Das hatte er mit unerhörter Anstrengung gesagt. Die Worte quälten sich gleichsam nur über seine Lippen. Den Schluß des Satzes brachte er nicht heraus.

      »Sie haben sich nur eingebildet, Sie könnten sich erinnern,« sagte Sigrun. »Sie müssen doch einsehen, wie unmöglich es ist, daß Sie das getan haben. Sie wären lieber gestorben.«

      »Ich hab' es getan. Denken Sie nichts anderes.«

      »Doch!« erklärte Sigrun. »Das tu' ich, und Sie sollen das wissen. Die ganze Zeit über, die ich unter Ihrem Dach geweilt habe, war ich überzeugt davon, daß dies nicht wahr ist. Niemand, der Sie kennt, wird es glauben.«

      Sven Elversson beugte sich vor und ergriff ihre Hand. Mit großer Einfachheit und mit großem Ernst sagte er: »Sie sind heute abend sehr gut gegen mich gewesen, das fühle ich deutlich. Ich kann Ihnen für diese Stunde nie genug danken.«

      Sie erfaßte den Sinn seiner Worte und stand davon ab, diesen schwierigen Gesprächsgegenstand noch weiter zu verfolgen.

      »Aber Sie werden mir doch wenigstens erlauben, Ihnen für die Monate, die ich hier auf Hånger zugebracht habe, zu danken? Ich werde an diesen Ort immer als an eine wahre Heimstätte der Menschenliebe zurückdenken. Mein eigenes Heim möchte ich nach Ihrem Vorbild einrichten.«

      »Warten Sie damit bis morgen!« bat er.

      Sie stand auf.

      »Ach, gehen Sie noch nicht! Es ist der letzte Abend.«

      »So lesen Sie mir noch ein wenig aus Snoilsky vor!«

      Er schlug das Buch auf, machte es dann aber wieder zu.

      »Es ist zu dunkel.«

      »Dann sagen Sie mir etwas davon auswendig her! Zum Beispiel den ›Sang an Sigrun‹ von Bjarne Thorarensen! Darum hab' ich Sie schon oft bitten wollen, hab' es aber bisher nie gewagt.«

      Sven Elversson machte eine abwehrende Bewegung.

      »Morgen bin ich fort,« mahnte sie mit einem geradezu unwiderstehlichen Klang in der Stimme.

      Und er begann wirklich das leidenschaftliche Gedicht des isländischen Dichters vorzutragen, in dem dieser die Geliebte anfleht, ihn nicht zu verlassen, selbst wenn sie stürbe und in die glanzumwobenen Wohnungen des Himmels käme. »Glaub' nicht, daß ich die tote Braut nicht küssen möchte!« klang das Lied. »Glaub' nicht, daß ich die Hand nicht wollte legen wohl um die Totenblasse dort im Leichenhemd!«

      Er hatte sich, als er vorzutragen begann, von Sigrun abgewendet und saß jetzt vorgebeugt da, den Blick auf irgendeinen Punkt in weiter Ferne gerichtet.

      Aber all das, was er während des vorhergehenden Gesprächs hatte zurückdrängen können, all das, was der Zauber dieses schönen Frühlingsabends, die Nähe der geliebten Frau nicht zu entfesseln vermocht hatte, das wurde jetzt durch die wilde, gewaltige Liebesglut, die das Gedicht durchströmte, ausgelöst. Seine Stimme verriet die ganze unterdrückte Leidenschaft.

      »Küßt nicht die Sonne auch des Eisfelds Firnen mit gleicher Glut wie roter Rosen Pracht? Und ist die weiße Lilie nicht der Blumen schönste?« trug Sven Elversson weiter vor, und seine Stimme zitterte vor dem gewaltigen Brausen des Liebessturmes, der in ihm tobte.

      Sigrun hörte ihm ein Paar Minuten gespannt zu. Dann wendete sie sich plötzlich von dem Vortragenden ab, damit er ihr Gesicht nicht sehe.

      Statt dessen war es dem hinter der Hecke Horchenden zugewendet, und er sah jetzt in ein von Leidenschaft verzerrtes Antlitz, auch sie konnte die hervorbrechenden Gefühle nicht mehr zurückhalten. Ihre Augen schlossen sich in heißem Schmerz; sie schlang die Hände fest ineinander, und ihre Lippen bewegten sich in stummer Klage. Der Gatte hörte nicht, was sie sagte, aber von den Bewegungen ihrer Lippen glaubte er die Worte abzulesen.

      »Oh, daß ich es ihm niemals, niemals sagen darf!«

      »Komm her zu mir, wenn erst im Herbst der Sturm kohlschwarze Wogen an das Ufer wälzt!« sprach Sven Elversson mit leidenschaftlich lauter Stimme. »O komm zu mir, wenn um die Mitternacht in Sturmeswolken sich der Mond verhüllt!«

      Den Mann, der sich hinter der Hecke verbarg, überlief es eiskalt vor Entsetzen. Er sah, wie Sigrun mit einer Bewegung unendlicher Sehnsucht beide Arme erhob. Er sah, wie die flüsternden Lippen wieder und wieder ihren Klageruf ausstießen:

      »Daß ich es ihm niemals, niemals sagen darf!«

      »Komm an mein Herz mit deiner kalten Brust, du Braut des Todes, und verweile da, bis von den Fesseln meiner Erdenhülle auch meine Seele du gelöst, befreit!« schloß Sven Elversson mit brechender Stimme.

      Der Pfarrer wendete den Blick von seiner