Mej Dark

Completely - Gesamtausgabe


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ihre Hand. Sie lächelte mir kurz dankbar zu. Wie konnte man bei diesen Tränen so herzlos sein?

      Das trauernde Mädchen erhob sich und ging mit hängenden Schultern hinaus. Sie trippelte ganz langsam, als wartete sie darauf, zurückgerufen zu werden. Doch keiner hielt sie auf.

      Ich war über die Gier meines Lehrers schockiert.

      „Du musst ihr doch helfen! Ich bezahle den Rest!“, erklärte ich ehrenhaft.

      Mein Eifer erstaunte den Hartherzigen. Er schüttelte den Kopf mit der Maske, ließ sich nicht von mir beirren und nahm seinen Gesang wieder auf. Das Geld verstaute er schon einmal im Kästchen.

      Ich schämte mich für ihn. Schließlich waren wir verwandt, zählten zur gleichen Familie. Es gehörte sich moralisch nicht, einen kranken Menschen im Stich zu lassen.

      Verstohlen versuchte ich den zerknitterten Zettel zu entwirren.

      Doch wieder bewegten sich die Felle am Eingang. Mein Vorhaben wurde dadurch unterbrochen.

      Das junge Mädchen trat erneut ein. Die Tränen hatten ihre dicke Schminke etwas verrinnen lassen. Das machte sie aber nicht hässlicher. Wäre ich ein Maler, hätte ich diesen rührenden Anblick gern verewigt.

      Komischerweise wirkte die Kleine nun jedoch gar nicht mehr traurig. Der Gesichtsausdruck erschien wie ausgewechselt. Hatte Gaya uns das alles nur vorgespielt?

      „Ich habe noch etwas mitgebracht“, verkündete sie. „Es ist viel mehr wert als das fehlende Geld!“

      Uropa schlug einmal besonders lauf auf die Trommel und blickte sie spöttisch an. „Geld ist in der heutigen Zeit nicht zu verachten. Alles wird immer teuerer!“

      „Was ist mehr wert, hundert Dollar oder das Leben eines Schamanen?“, stellte sie dagegen. Die Frage wirkte ein wenig naiv, erzielte aber Wirkung. Die Trommel erstarb.

      „Erzähl!“, forderte der Nackte sie sichtlich betroffen auf. Sie hatte seine ganze Aufmerksamkeit.

      „Jemand plant deinen Tod!“, packte die Erzählerin zufrieden aus. Natürlich war dies nur ein winziger Happen ihres kostbaren Wissens. Sie kannte den Preis genau und wollte nicht zu viel verraten.

      „Wer?“, schoss es aus dem Mund des Bedrohten.

      „Erst die Medizin!“

      Das gefiel dem Erpressten zwar nicht, aber er erhob sich von seinem Platz, schob die Kiste vor dem Eingang zum anderen Zimmer beiseite und machte sich daran, hineinzukriechen. Der Anblick des nackten Hinterteils beschämte mich. Die Kleine war das vielleicht gewohnt. Wir grinsten uns pikiert zu.

      Im anderen Raum angekommen, machte er sich an etwas zu schaffen. Wir konnten nicht sehen, was er tat. An den Lauten hörte man, dass er Gegenstände herum räumte.

      „Was ist das für eine Medizin?“, fragte ich das Mädchen so leise, dass nur sie mich hören konnte.

      Sie winkte mich dichter zu sich heran. „Dein Ohr, Percy!“, hauchte sie.

      Eilig wandte ich ihr dieses zu. Sie legte die vollen Lippen ganz langsam auf die Muschel. Für eine Weile hörte ich nur ihren warmen Atem. Kitzelte da gar ihre Zunge? Warum sagte sie nichts? Fast erschien es mir, als nutzte sie die Gelegenheit bloß, um mich am Ohr zu küssen.

      Als ich schon verärgert den Kopf wegziehen wollte, hörte ich sie ganz leise bedeutungsvoll murmeln: „Vampirblut!“

      Verärgert über diesen Unfug wandte ich mich ab. Dabei biss sie auch noch kess in mein Ohrläppchen, sodass ich beinahe vor Schmerz aufschrie.

      Sie hielt mich für dumm und wollte dem Großstädter mit einem weiteren indianischen Märchen Ehrfurcht einjagen. Sollte sie einen anderen Dummkopf verspotten! Die Kleine war verlogener, als ich dachte. Ich wusste nicht, ob ich das bewundern oder über sie sauer sein sollte.

      Mein Uropa kehrte zurück. Er wirkte etwas missmutig. Vielleicht gefiel es ihm nicht, dass ich sein Geschäft mitbekam. Andererseits wollte er mich als Gast aus der eigenen Familie nicht ausschließen. Das hätte erst recht merkwürdig gewirkt.

      Er zeigte das nur mit wenigen Tropfen gefüllte Fläschchen, goss noch etwas Whisky hinein und verkorkte es. Die Flüssigkeit hinter dem durchsichtigen Glas schimmerte tatsächlich rötlich.

      „Erzähl jetzt deine Geschichte, ich muss sehen, ob sie es wert ist!“, forderte er und behielt das wertvolle Pfand zur Sicherheit in der Hand.

      Die Besucherin erkannte, dass sie keine andere Chance bekam, und berichtete: „Großmutter ließ mich einige Kräuter im Dorf besorgen. Zur Belohnung erhalte ich in der Küche meines Onkels immer eine leckere Limonade. In seiner Taverne saßen schon zwei angetrunkene Gäste, die dadurch recht laut gesprochenen haben. Die Bretter zum Gastraum sind zudem so dünn, dass ich von der Küche aus gut zuhören konnte.“

      „Komm zur Sache!“, ermahnte Uropa sie. Seine Hand hielt die Wundermedizin hoch, als wollte er ihr den Wert noch bewusster machen.

      „Nur Geduld!“, beschwerte sich die eifrige Erzählerin und zwinkerte mir kess zu.

      Mir verschlug diese erneute Intimität die Sprache. Das Ausschmücken von Erzählungen bereitete ihr wie allen Frauenzimmern eine unverschämte Freude. Vielleicht hätte sie die Geschichte auch umsonst preisgegeben. Ihre Wangen glühten vor Aufregung. Das stand ihr gut.

      „Es waren die räuberischen Zwillinge aus dem Reservat. Die beiden plauderten zuerst unverhohlen darüber, wie sie einen Bahnreisenden, der gerade seine Notdurft im Gebüsch verrichtet hat, ausgeraubt hatten. Aber angeblich planten sie nun eine ganz große Sache. Sie warteten auf jemanden.“

      „Komm zum Punkt!“, ermahnte ihr Gesprächspartner ungeduldig.

      „Jaja“, fuhr Gaya unwillig über die Unterbrechung fort. „Die Tür ging auf und es trat noch jemand ein. Ich konnte ihn zwar nicht sehen, erfuhr aber später von meinem Onkel, wer es war. Die drei tuschelten miteinander. Dann hörte man Geld klappern und der unbekannte Besucher sagte wörtlich: „Den Rest gibt es, wenn der schamlose Hexer hin ist.“

      „Ravenhort!“, schrie mein Uropa aufgebracht, riss die Hörnermaske herunter und spuckte wütend ins Feuer. Dieses zischte auf, als hätte er Petroleum hineingegossen. „So viel Bosheit hätte ich dem hinterhältigen Mönch nun doch nicht zugetraut.“

      Der Ziegenbock meckerte wie zur Bestätigung im Hintergrund, scharrte wild mit den Hufen und stieß sein Gehörn immer wieder kämpferisch gegen das Gatter.

      Das Mädchen nickte eifrig. „Genau!“

      Jetzt hielt sie fordernd die Hand hin, um den Handel vollends abzuschließen. Die Flasche mit der wertvollen Medizin landete in der ihren.

      „Weißt du noch etwas?“ Urgroßvater wirkte betroffen.

      „Nein, mehr konnte ich nicht mitbekommen. Meine Tante meinte nur, ich sollte es dir unbedingt erzählen. Das wäre sie schuldig.“

      „Du solltest mir das also ohnehin alles sagen!“

      Gaya biss sich ertappt auf die Lippen und entfernte sich sicherheitshalber schnell ein paar Schritte. Hier hatte sie sich wohl verplappert.

      „Du hast mich also reingelegt. Ich tippe mal, du hast noch ein paar Scheine in der Tasche!“ Er ging auf sie zu und streckte fordernd die Handfläche aus.

      Erschrocken ließ das Mädchen den Mund offen, fand aber schnell zu seiner gewohnten Kessheit zurück. „Ein Leben ist sehr viel mehr wert als Geld. Verfluche die Burschen und ich erzähle es überall herum. Vielleicht lassen die so von ihrem Plan ab“, versuchte es geschickt abzulenken.

      „Du bist ein durchtriebenes Ding und wirst sicher bald einem Jungen den Kopf verdrehen!“, lobte Urgroßvater und warf mir einen seltsamen Blick zu.

      Warum sah er mich so merkwürdig an? Hoffentlich dachte er nicht, dass ich auf das kleine Ding stand. Ich war ein junger Mann und sie mehr ein Kind. Vielleicht sollte ich ihm doch etwas über meine wahre Liebe erzählen.