Mej Dark

Completely - Gesamtausgabe


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kannte. Ihre Konturen waren so scharf und genau wie noch nie zuvor. Plötzlich saß auch Ravenhort dort. War diese hübsche Hexe vielleicht sogar die Allervollkommenste, die ich suchte? Sie drohte im Nebel meiner Eingebung zu verschwinden. Meine Liebste, meine Teuerste bleib! Doch sie ging traurig weiter, entfernte sich immer weiter und ließ sich nicht aufhalten. Zwei wilde Wölfe tauchten die Zähne fletschend auf und suchten nach ihr. Es waren Lykaner. Auch der Ort war mir bekannt. Es war der Wald hier. Ich starrte ihnen verblüfft nach.

      Unvermittelt stach mir nun ein Messer voller stählernem Schmerz in mein Herz. Das hübsche kleine Mädchen aus dem Dorf hatte es in der Hand und weinte. Vor Schreck darüber entglitt die Transzendenz und mein Geist kehrte in die Gegenwart zurück.

      Ich war verwirrt und schaute ungläubig meine Umgebung an. Schweiß lief meinen Rücken hinunter. Urgroßvater lachte und klopfte mir auf die Schulter.

      „Nicht schlecht, du bist diesmal richtig weit gegangen!“

      „Habe ich in die Zukunft gesehen?“ Noch etwas verwirrt von den Eindrücken musterte ich seine fast jugendliche Gestalt. Er wirkte heute noch jünger als sonst.

       Er gab sich mit der Antwort Mühe, weil er in mir etwas sah. „Vielleicht. Nimm alles einfach nicht so ernst. Es waren immer deine eigenen Vorstellungen. Dein Unterbewusstsein spricht zu dir. Es hat seine eigene Wahrheit. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft existieren nur in unserer gewöhnlichen Vorstellung. Sie sind letztlich nur eine Illusion.“

      War die Allervollkommenste eventuell doch nicht mit der Wissenschaft, sondern durch Trance zu finden? Das gefiel mir nicht wirklich. Wer trennte sich schon gern von seinen Theorien? Offenbar war die Gesuchte nur ein ganz gewöhnlicher Mensch, einfach ein hübsches junges Mädchen. Das erschien mir bitter und zu simpel.

      Mein Lehrer setzte seine gehörnte Schamanenmaske auf. Seine kurze Belehrung war beendet. Ich kannte das schon. Eifrig schlug sein Klöppel auf die Trommel, mystischer Gesang bedröhnte die Hütte, das Feuer flackerte. Er wollte selbst die andere Seite besuchen.

      Plötzlich gewahrte ich eine Bewegung am Eingang unserer Behausung. Urgroßvaters Augen rollten hinter der Maske herunter, als stiege er vom Götterreich zur Erde hinab. Für einen Moment sah er ebenfalls zur Störung. Nachdem er keine irdische Gefahr witterte, sang er einfach weiter. Ein Viertel seines Bewusstseins weilte in dieser Welt, drei Viertel in der transzendenten.

      Ein brauner struppiger Pelz drängte sich durch den schäbigen Fellvorhang. Erstaunt stellte ich fest, dass er zu dem Mädchen gehörte, welchem ich vor einigen Tagen im Dorf begegnet war – oder besser: Vor dem ich mich etwas blamiert hatte. Mit ihren großen dunklen Murmelaugen schaute sie leicht errötend zu mir. Es erstaunte sie natürlich nicht, mich hier zu sehen, da sie davon ja wusste.

      Umgekehrt war ich es jedoch. Sie hatte bei genauer Betrachtung auch äußerliche Gemeinsamkeiten mit der Hexe aus der Trance. Beide ähnelten sich wie Schwestern. Hatten die beiden Grobiane aus dem Dorf sie nicht ebenfalls als Hexe beschimpft? Mein Rücken fühlte sich heiß an und begann erneut zu schwitzen, als hätte ich die Pforte der Hölle hinter mir. Was bedeutete das alles? Einen klugen Reim vermochte ich mir darauf nicht zu machen. Aber irgendwie waren die Dinge auf mysteriöse fast mystische Art verbunden. Das fühlte ich.

      Die Eintretende verbeugte sich in alter Sitte tief vor dem meditierenden Schamanen. Ein wenig schämte ich mich, da dieser vollkommen nackt saß. Sein unansehnlich langes Genital ringelte sich auch noch im Rhythmus seiner Melodie vor ihm auf dem Boden wie ein Aal. Das ging gar nicht und war nur peinlich. Am liebsten hätte ich ein Fell darüber geworfen.

      Zum Glück beachtete die Besucherin das dortige Eigenleben nicht. Der Anblick war ihr offensichtlich nicht neu. Sie schlug die Kappe zurück. Ihre langen schwarzen Haare, die sie heute zu mehreren kleinen Zöpfen geflochten hatte, quollen hervor. Bunte Holzperlen und perlmuttfarbige Muscheln waren kunstvoll in diese Pracht eingeflochten. Ihre Wangen und Lippen hatte sie heute besonders auffällig geschminkt, dadurch wirkte sie einige Monate älter als bei unserem letzten Zusammentreffen. Sie lächelte mir geradezu liebevoll zu. Das machte mich sogar nervös und meine Ohren begannen zu glühen. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass auch ich nur ein Tuch um die Lenden trug. Meine Garderobe lag wild im Raum. Ich suchte sie zusammen und zog mich an. Die Kleine beobachtete mich dabei. Zum Glück brauchte ich mich meiner Figur nicht zu schämen, da ich sportlich durchtrainiert war.

      „Gaya, was willst du hier?“, fragte ich die Eingetretene leise, da mein Urgroßvater, der Schamane, sich noch immer in höheren Sphären vergnügte. Ich wollte ihn nicht stören.

      „Du hast dir also meinen Namen gemerkt!“ Sie wirkte sehr zufrieden und erleichtert.

      „Was schon? Dich wiedersehen!“, erwiderte die Bezopfte schalkhaft. Ihre Finger spielten nervös miteinander und verbogen sich zu einem Knäuel. Offenbar entwickelte das Dorfmädchen tatsächlich romantische Gefühle für mich – oder liebte sie in erster Linie meine Großstadt? Gebrauchen konnte ich das nicht, auch wenn es meiner Eitelkeit insgeheim schmeichelte. Das blutjunge Ding war doch noch viel zu grün. Zudem gehörte mein Herz längst einer anderen. Vielleicht fehlte ihr der Vater und sie suchte einen Ersatz.

      Sie kicherte etwas kindisch. Da mir nicht klar war, ob sie über mich lachte, stieg etwas Unbehagen auf und ich druckste nur herum. Endlich hatte sie Mitleid und löste sie die Situation auf: „Ich soll für meine Tante neue Medizin holen“, erklärte sie.

      Da wir beide irgendwie nicht wussten, was wir uns sonst noch sagen sollten, blickten wir fortan stumm wie Stockfische auf das Züngeln des Feuers und warteten darauf, dass mein Urgroßvater endlich aus seiner Trance zurückkehrte. Zwischendurch lächelte die süße Besucherin mich immer wieder von der Seite an. Es sollte anscheinend kokett wirken, war mir jedoch ein wenig peinlich. Wer war ich für sie und sie für mich? Ich liebte doch die Allervollkommenste, mochte zudem Grace und nun war dieses Kind da, welches mich offensichtlich anhimmelte, als hätte sie tatsächlich der Ring verhext. Hübsch war sie ja, doch viel zu jung für mich.

      Nur die knisternde Feuerstelle unterbrach die lastvolle Stille. Nach einigen Minuten, beendete der Hausherr endlich die spirituellen Reise. Seine hochgerollten Augen wanderten langsam nach unten. Anstelle des Weiß waren nun seine Augäpfel in den schmalen Schlitzen der gehörnten Maske zu sehen.

      „Die Tante schickt mich“, erklärte das Mädchen noch einmal ihr Kommen. „Es geht ihr inzwischen besser, trotzdem benötigt sie weitere Medizin.“ Sie zeigte einen dicken Stapel mit Geldscheinen. Der Hausherr nahm diese.

      „Für wen hast du dich so herausgeputzt, Gaya?“, erkundigte mein Urgroßvater sich. „Ich habe dich noch nie so bunt gesehen. Du siehst fast wie eine Braut aus.“ Dabei zählte er bereits die Scheine.

      Ihre Obsidianaugen sahen mich bedeutungsvoll an. Sehnsucht schimmerte in diesen. Jetzt wurde ich puterrot und rutschte nervös auf dem Hocker hin und her.

      „Dafür bin ich leider noch zu jung“, hauchte sie äußerlich bescheiden und spielte mit den Fingern nervös am dicken Stoff des Rockes.

      Gelassen zählte Uropa die Scheine ein zweites Mal. Sein Schnaufen wirkte unzufrieden. Er verstand es offenbar, seine speziellen Kenntnisse in gute Münze zu verwandeln.

      „Das reicht nicht!“, stellte er am Ende bestimmt fest.

      Das Mädchen sah traurig drein und ließ viele Tränen aus seinen großen Augen kullern. Dabei schloss es diese nicht einmal. Sie rannen einfach so – wie zwei kleine Flüsschen – an den Seiten herunter. Mein Herz zog sich vor Mitleid und Scham zusammen.

      Plötzlich ergriff sie meine Hand, drückte diese und hoffte wohl, auf diese Weise Unterstützung zu bekommen. Dabei landete irgendein kleiner Gegenstand in meiner Hand. Er musste aus Papier sein. War das ein verknülltes Zettelchen mit einer Botschaft?

      Ich erstarrte. Was hatte das zu bedeuten? Vor dem Urgroßvater traute ich mich jedoch nicht, die Nachricht zu lesen. So saß ich versteinert da und hielt ihre Hand auch noch in der meinen. Uropa bemerkte das, runzelte erstaunt die Stirn, sagte jedoch nichts.

      „Die arme Tante hat mir alles gegeben, was sie besitzt!“, schluchzte die Kleine.