Mej Dark

Completely - Gesamtausgabe


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Zugleich nahm ich ihm den Wind aus den Segeln: „Am Wetter hier liegt es nicht! Die anderen Leute sehen älter als Gleichaltrige in Manhattan!“

      „Pass mal auf!“, sagte er. Im nächsten Augenblick schlug er einen Rhythmus auf seiner Trommel und grunzte dazu ein paar Laute in seiner Geheimsprache.

      Schon fühlte ich mich wie im siebten Himmel und begann auch noch wie ein trunkener Bär zu tanzen. So sehr sich mein Wille wehrte, er konnte sich diesen packenden Klängen nicht entziehen. Der Bär roch den Honig, wollte aus Angst vor den Bienen nicht auf den Baum klettern und kletterte doch. Es war wie ein Zwang aus einer anderen Welt, ein sog des Unterbewusstseins. Beflügelt ließ mein Körper die Last aller Gedanken zurück. Jegliche Sorgen blieben am Boden, während ich schwebte. Eine ekstatische Trance riss den Geist fort.

      „So macht man das!“ Er schlug ein weiteres Mal auf seine Schamanentrommel und mein Körper blieb versteinert mitten in der Bewegung stehen. Kein Glied vermochte ich mehr zu bewegen.

      „Hexerei!“, zischte mein Mund. Speichel lief durch die übermenschliche Anstrengung aus meinem Mundwinkel. Hände und Füße waren jedoch vollkommen gelähmt.

      „Nein, das ist das wirkliche Wissen, du hochnäsiger Großstädter! Lerne einfach!“

      Wieder schlug er singend die Trommel und ich tanzte erneut gegen meinen Willen wie eine willenlose Puppe dazu. Als ich wieder zu mir kam, stand ich durchgeschwitzt und ebenfalls vollkommen nackt da. Stunden mussten vergangen sein. Beschämt verdeckte ich meine Blöße mit einem der herumliegenden Kleidungsstücke.

      Urgroßvater saß essend auf einem Hocker. „Wenn du dich in Trance versetzen kannst, dann kannst du das auch mit anderen machen. Das ist nur eine Frage der Technik“, erklärte er lächelnd.

      Dieser Gedanke begeisterte mich nun doch. Als Erstes würde ich den hinterhältigen Doktor mit dieser Kunst beglücken, der sich an meine Mutter herangemacht hatte. Vielleicht nutzte dieser Kuraufenthalt tatsächlich etwas. Zumindest diese Hypnosetechnik, denn etwas anderes konnte das nicht sein, wollte ich erlernen – so gut, dass der Fiesling bald nach meiner Pfeife, äh Trommel, tanzte.

      Ich fühlte mich nach der Anstrengung sehr hungrig. Wie lange hatte mich der Alte überhaupt tanzen lassen? Nicht nur meine Sorgen hatten den Körper verlassen, auch in meinem Magen herrschte knurrende Leere.

      „Was gibt es heute Schönes zu essen?“, fragte ich ganz profan und klopfte symbolisch auf den Bauch.

      „Unsere Vorräte sind so gut wie aufgebraucht. Ich habe nicht mit Besuch gerechnet und du isst sehr viel. Geh heute doch einmal hinunter in die Stadt und kauf uns etwas.“

      Wie großzügig … Gastfreundschaft erster Güte!

      Aber diese Abwechslung kam mir auch recht. Mehr als drei oder vier Wochen war ich bereits in der zugigen Hütte eingesperrt. Sie umgab mich wie ein Gefängnis. Der Schamane, die Ziege und die zwei Hühner waren die einzigen Lebewesen, die mir Gesellschaft leisteten. Na ja, beim Kacken weideten noch die Büffel in der näheren Umgebung. Das war aber wirklich alles.

      Urgroßvater setzte sich ans Feuer und schmökerte in einem Buch mit mir unbekannten Schriftzeichen.

      „Ich brauche aber Geld!“, stellte ich fest. Sonst würde ein Abstecher nichts bringen.

      Ohne aufzublicken, wies er auf eine der Kisten und warf mir einen kleinen Schlüssel für das Schloss zu.

      Neugierig öffnete ich diese. Ich sah und staunte.

      „Woher hast du so viel Geld? Das ist ein kleines Vermögen!“

      „Die Leute geben es mir für Medizin oder andere Gefälligkeiten. Hier in der Wildnis verbraucht man nicht so viel. Da sammelt sich schnell etwas an.“

      Das klang logisch. Ich nahm mir ausreichend heraus. Ihm war es egal. Er vertraute mir offenbar. Wir gehörten ja zu einer Familie, wenn auch merkwürdigen.

      Urgroßvater achtete nicht mehr auf mich und war ganz in das Buch versunken. Wie zumeist war er so gut wie nackt. Zwar hatte er sich ein Fell über den Rücken geworfen, aber seine Vorderseite war reine Natur. Ein wenig würdevoller könnte er sich als hiesiger Schamane schon geben, fand ich.

      Ich verabschiedete mich überaus höflich und freute mich natürlich über die Abwechslung.

      „Also bis bald!“

      Der Lesende legte das Buch beiseite und stand auf.

      „Häng dir das lieber noch um den Hals!“

      Von seiner Hand baumelte eine Kette mit aufgefädelten Wolfsklauen, Ringsteinen und getrockneten Knoblauchzehen.

      „Wozu?“, fragte ich missmutig. Das Ding war nur hinderlich und schien aus der Steinzeit zu stammen. Damit schreckte ich gesunde Menschen – also Bäcker, Metzger und Gemüsehändler – nur ab.

      „Die Kette beschützt dich auf dem langen Weg vor Dämonen, Hexen und Werwölfen“, erklärte er, als wäre es die normalste Sache der Welt. „Sie hält diese Wesen fern und es wird schon früh dunkel. Da wird das Übel schnell munter.“ Er spuckte symbolisch auf den Boden.

      Die bleiben auch ohne Amulette weg, wollte ich sagen. Das Reich der Fantasie besaß kein Tor zur realen Welt. In unserer aufgeklärten Zeit sollte jeder wissen, dass dergleichen nicht existierte. Das waren Volksmythen. Ich wollte mich jedoch mit ihm jetzt nicht streiten. Irgendwie wuchs mir der Kauz ans Herz und ich wollte meine Freiheiten vergrößern.

      „Gib mir lieber auch noch eine Flinte!“, forderte ich. „Die hilft gegen die echten Wölfe!“

      Er kroch tatsächlich durch das Mauseloch in sein Geheimzimmer. Es war jedoch keine Flinte, die er mitbrachte, sondern ein reich verzierter Wurfspieß in der Art, wie ihn die Lakota-Indianer benutzten.

      „Nimm den mit!“ Er betrachtete den Speer verzückt von allen Seiten, als sähe auch er ihn das erste Mal. „Pass aber gut auf ihn auf! Er kann Werwölfe töten. So etwas bekommt man nicht irgendwo zu kaufen.“

      „Aber klar doch!“, stimmte ich äußerlich höflich zu, lachte mich jedoch im Inneren schlapp. Werwölfe!

      Die Waffe war immerhin besser als nichts. Ich nahm sie an mich, ebenso noch einen großen leeren Sack, der meine Einkäufe fassen sollte.

      In dem kleinen Örtchen gab es hoffentlich auch Süßigkeiten. Die vermisste ich am meisten. In Manhattan hatten wir in allen Zimmern mehrere Schalen mit verschiedenen Konfektsorten stehen, aus denen sich jeder nach Gutdünken bedienen konnte. Schokolade, Nüsse, Mandeln, Rum … Ich schmeckte diese leckeren Dinge allein bei dem Gedanken beinahe auf der Zunge.

      Schließlich trat ich durch die Felle des Eingangs nach draußen und lehnte die vom Zahn der Zeit angenagte Holzbalkentür wieder an. Das Licht biss regelrecht in meine Augen. In der Hütte war es trotz des Feuers immer recht dunkel. Es musste früher Morgen sein. Ich hatte offenbar die ganze Nacht willenlos getanzt, fühlte mich aber sogar aufgekratzt und nicht unbedingt müde. Das war alles sehr merkwürdig. Waren meine Erlebnisse vielleicht nur alle Teil eines Traumes und ich in Wirklichkeit somnambul?

      Das Mädchen Gaya und die Zwillinge

      Meine eiligen Schritte führten mich nun zurück durch die Wälder und Wiesen an dem Sumpf vorbei. Es war der gleiche Weg, den der Kutscher genommen hatte. Frost hatte eingesetzt. Der frische Schnee knirschte unter meinen Stiefeln. Ab und an kreuzten Tierspuren meinen Weg. In der Ferne jaulten hungrige Wölfe. Sofort beschleunigte ich das Wandertempo und umklammerte den Spieß fester. So unwirklich erschienen mir plötzlich die Gruselmärchen über Werwölfe nicht mehr. Verschreckt suchten meine Augen die Umgebung ab. Ängstlich vermutete ich hinter jedem Baum und Strauch eine Gefahr.

      Nach etwa vier Stunden tauchte die Ansiedlung auf. Man konnte sie fast als eine kleine Stadt bezeichnen. Durch die neue Bahnstation hatte der Ort sich anscheinend in den letzten Jahren rasant vergrößert. Viele Häuser waren erst vor Kurzem errichtet worden. Das sah man an den frischen Holzbalken.