Mej Dark

Completely - Gesamtausgabe


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schriftlichen Zeichen von Letzterem brachten jedoch ein rätselndes Runzeln auf seine Stirn.

      „Soll ich vorlesen?“, fragte ich hilfsbereit.

      Uropa sah mich erstaunt an. Die Falten über seinen Brauen wurden noch tiefer. „Vorlesen?“

      „Ja, genau! Ich kenne das Alphabet.“

      „Du bist wohl das Wunderkind aus Manhattan?“, stellte er nachdenklich fest.

      Offenbar wusste er doch etwas von mir.

      Er lachte nun. „Na dann lies ruhig vor!“

      Der Dummkopf war also, wie ich vermutet hatte, ein Analphabet. Konnte es schlimmer kommen? In dem Schreiben bat Mama ihn, mich mit dem ganz einfachen Leben vertraut zu machen und mich unbedingt von der Mathematik fernzuhalten. Ich änderte natürlich beim Vortragen den Inhalt des Briefes flugs so, dass mein Gastgeber mich verwöhnen und besonders die Beschäftigung mit der Wissenschaft unterstützen sollte. Die Stelle, an der sie über meine angebliche Verrücktheit schrieb, ließ ich ganz aus. Zufrieden mit der Verdrehung gab ich ihm den Brief zurück. Mich erwartete vielleicht doch eine erträgliche Zeit. Bald würde ich alles über die Allervollkommenste wissen. Mein liebendes Herz pochte erneut aufgeregt gegen die Brust.

      Mein Großvater besah sich das Blatt interessiert. Man konnte fast denken, er lese. Der naive Halbindianer staunte wohl, was man mit Buchstaben alles aufschreiben konnte. Plötzlich gab mir seine Hand eine schallende Ohrfeige. Vor Erstaunen spürte ich nicht einmal den Schmerz.

      „Unterschätze nie den anderen! Heißt es nicht: Du sollst nicht lügen?“

      Ich errötete vor Scham. Der gerissene Fuchs hatte mich hereingelegt. Er konnte lesen. Zurückschlagen durfte ich nicht, er war ja mein Urgroßvater. Zumindest verbot es mir die eigene Moral. Irgendwie hatte er mich auch gut über den Tisch gezogen. Das hätte von mir stammen können.

      „Wieso siehst du so jung aus?“, ging ich von meiner Verfehlung ablenkend in die Offensive.

      „Das Leben in den Black Hills ist vielleicht gesünder als die Großstadtluft“, gab er schelmisch zurück und lenkte mit einer anderen Frage geschickt von der eigentlichen Sache ab: „Wie alt bist du eigentlich? Ich hätte nie gedacht, dass du schon so groß bist.“

      Wir waren also gleichermaßen gerissen und mussten verwandt sein.

      „Ich bin gerade achtzehn Jahre alt geworden. Wie alt bist du?“, übernahm ich wieder das Zepter. Unser erstes Gespräch verlief so, als kreuzten zwei Fechter die Degen.

      Mein Urgroßvater antwortete nicht und rieb sich eine Salbe auf die Blasen an seinem Hintern. „Hast du den ganzen Streit belauscht?“, fragte er nach und beäugte mich nachdenklich.

      „Zumindest den Schluss. Hat deine Medizin dem Präsidentensohn wirklich geholfen?“

      „Es scheint so. Ravenhort hat sie heimlich einer kranken Frau gestohlen, die sie von mir hatte. Richtig eingesetzt kann sie zwar heilen, aber wenn man sie zu hoch dosiert, ist sie äußerst gefährlich. Deswegen darf das Mittel keinesfalls in falsche Hände gelangen!“

      „Das ist doch immer so“, erwiderte ich.

      Der Uropa lachte. „Du bist mir ein Besserwisser! Hier ticken die Uhren anders. Der Stand der Sonne bestimmt die Zeit. Manchmal sieht man sie nicht einmal. Du musst vieles neu erlernen. Wenn du dich als klug erweist, bekommst du vielleicht mein Erbe!“

      „Ist es wertvoll?“, spottete ich und blickte mich in der Stube um. Reich an Pelzen, Totenschädeln und Hörnern war er ja …

      Uropa musterte mich von oben bis unten.

      Eine schwarze Ziege steckte ihren Kopf durch ein Gatter in den Raum. Ich hatte diese bisher nicht bemerkt. Sie hatte wohl die ganze Zeit über geschlafen oder still im Stroh gelegen. Misstrauisch beäugte sie den neuen Gast.

      „Äußerst wertvoll!“, verkündete er gewichtig und kratzte sich die Haare an einer Stelle, die ich lieber nicht beschreiben möchte. Dann ging er zur Ziege und kraulte dieser ihren kleinen schwarzen Bart.

      „Woraus besteht es denn?“, hakte ich neugierig nach. Waren es die dürren Büffel, die vor dem Haus weideten oder diese grandiose Immobilie?

      Der Greis begann mich zu amüsieren. Wohlhabend sah der nun wahrlich nicht aus.

      „Aus Wissen!“, murmelte er geheimnisvoll und gab der Ziege einen Kuss auf den Mund. Diese leckte ihm genüsslich mit ihrer spitzen langen Zunge das Gesicht ab.

      Jetzt könnte ich vor Lachen auf seine Trommeln schlagen. Wenn hier einer über Wissen verfügte, dann ich. Millionen von Buchseiten waren in meinem Gedächtnis abgespeichert.

      Eine neuerliche schallende Backpfeife beendete meinen Hochmut. Sie schmerzte schon. Ich wollte sie ihm fast zurückzahlen.

      „Jeder Schamane gibt sein Erbe nur an den einzigen Geeigneten weiter. Unsere Kenntnisse liegen jenseits dieser Welt und gehen über jede Wissenschaft hinaus. Ich weiß nicht, ob du was taugst. Du wirkst eingebildeter als jeder Ziegenbock in der Brunst.“

      „Oh!“, hauchte ich äußerlich erstaunt, aber in meinem Bauch kollerten Lachsalven über meinen Urahnen. Da er mit mir verwandt und zudem alt war, gab ich mich jedoch höflich. Es war unser erstes Beisammensein.

      „Man schlägt übrigens seine Kinder heutzutage nicht mehr!“, versuchte ich weiteren Schlägen vorzubeugen.

      „Entschuldige, aber ich dachte, man lügt auch nicht mehr seine Familienangehörigen an!“

      Ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendein gebildeter Amerikaner dieses angebliche Schamanenhokuspokus ernst nahm. Der Kerl war sicher vollkommen verrückt, redete sich vielerlei Schwachsinn ein und glaubte an das unsinnige Zeug, was er hier machte. Womöglich sprang er eines Tages in der Gewissheit von einer Klippe, dass ein Windgeist ihn auffangen würde. Mein Gott, wir lebten im 20. Jahrhundert, dem Zeitalter der Wissenschaft! Ich würde der Welt in kurzer Zeit sogar beweisen, dass jeder mit Hilfe der Mathematik und Logik seine große Liebe finden kann. Meine Gleichung würde das Ergebnis liefern. Dann brauchte man nur noch zu der jeweiligen Person hingehen und schwups, das war es, das große Glück. Dieses ungewisse Gesuche und Durchprobieren verschiedener Kandidatinnen gehörte dann der Vergangenheit an. Meine Vollkommene wäre der erste lebende Beweis.

      Das behielt ich natürlich vorerst alles für mich. Ich wollte ihn nicht kränken und auch keine weiteren Schläge einstecken. Außerdem waren die Wirkung seiner Wundermedizin und sein jugendlicher Körper schon verwunderlich. Das musste noch genauer untersucht werden. War er wirklich mein Urgroßvater und nicht dessen Sohn?

      In Trance

      Das Leben mitten in den Tiefen des Waldes war natürlich ganz anders als im Stadtzentrum von Manhattan – wie der Sprung von der Renaissance zurück in die Steinzeit. Hier zählte schon ein Klo zum Luxus! Es gab keins. Für den großen oder kleinen Toilettengang musste man nach draußen gehen und dabei noch aufpassen, dass einem kein Wolf in den Nacken sprang. Von denen gab es recht viele in der Gegend. Ihr schauerliches Geheul ersetzte die Musik.

      Die schwierigen Umstände, das tägliche Holzhacken, die Versorgung der Büffel, des Ziegenbockes und die umständlichen Toilettengänge verkomplizierten mein eigentliches Ziel, die Suche nach der Allervollkommensten selbstverständlich. Häufig jagte mich mein Uropa auch hinaus, um eine Büffelkuh zu melken. Das mochte ich gar nicht, da die Viecher nach mir traten und nie still standen.

       Mein rüstiger Gastgeber verbot mir, wie Mama es gefordert hatte, leider auch die Mathematik. So konnte ich nur heimlich im Kopf rechnen. Das minderte jedoch meine glühende Liebe nicht. Mein junges Herz schmachtete weiter.

      „Hast du etwa Heimweh?“, fragte mein Urgroßvater mich manches Mal, wenn ich vor Sehnsucht leise seufzte.

      „Vielleicht“, erwiderte ich ausweichend. „Das Leben ist hier so anders.“ Ich dachte an mein schönes Zimmer und an Grace, dann aber auch an den