Mej Dark

Completely - Gesamtausgabe


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ein Mann. Das sind vielleicht Dämonen, die dich jagen!“, vermutete er und kraulte dem Ziegenbock nachdenklich den Bart „Da muss man vorsichtig sein. Ich zeig dir, wie du sie bekämpfst“, bot er an. Das war offenbar sein Element. Er wirkte energiegeladen.

      Schamanische Gesänge und das Drangsalieren kurioser Trommeln sollten mir angeblich helfen. Er brachte mir eifrig Rhythmen und etwas unverständlichen indianischen Kauderwelsch bei, den ich brav wie ein Papagei nachplapperte. Ich wollte ihm auf diese Weise sein Misstrauen nehmen und um meinen Finger wickeln. Man musste langfristig denken.

      „Es ist wichtig, dass du an deine Fähigkeit glaubst. Trance und Hypnose sind wie Bruder und Schwester“, lehrte er in Meistermanier. „Man muss bei der Trance sich oder bei der Hypnose den anderen öffnen. Die schamanische Täuschung ist dabei eine geheime Technik. Sie wird nur von Mund zu Mund, vom Meister zu einem besonders geeigneten Schüler weitergegeben. Trommel, Gesang und irrtierendes Geschrei sind Hilfsmittel. Das Unterbewusstsein ist ein magischer Ort. Nur dort gibt es Ruhe und Klarheit, Gewissheit über Vergangenes und Zukünftiges.“

      Innerlich lustlos, jedoch nach außen eifrig schlug ich auf diese Art die Zeit tot. Was sollte man hier sonst auch tun? Ich war also für ihn so etwas wie sein Meisterschüler, dem er seine unwissenschaftlichen Geheimnisse verriet. Das war doch schon mal etwas. Zudem bewahrte mich diese Beschäftigung vor der Plackerei mit dem Brennholz und den Rindern. Mein Lehrer verschonte mich und machte sich selbst an die Arbeit, wenn er mich fleißig üben sah.

      „Das wird schon Percy!“, ermunterte er mich. „Alles braucht seine Zeit!“

      Als ich an einem der vielen nutzlosen Tage so vor mich hin sang und rhythmisch den hölzernen Klöppel dazu gegen das Leder hieb, schwebte urplötzlich mein Geist wie auf einer Wolke und beobachtete mich quasi von oben. Alle Gedanken flogen einfach davon und eine ungewohnte Leere breitete sich wohlig in mir aus. Einen solchen Zustand hatte ich noch nie erlebt.

      Oje, verlor ich mein ganzes Wissen, wurde ich dumm? Im ersten Moment erschreckte mich dieser ungewohnte Zustand sogar, dann genoss und untersuchte ich ihn. Der Körper fühlte sich leicht wie Watte an, als hätte er kein Gewicht oder gehörte zu einem anderen. Es war ein Zustand frei von allen Sorgen und Schmerzen. Selbst das Leid meiner unerfüllten Liebe vergaß ich. Während dieser spontanen Entrücktheit kam ich mir ungeheuerlich erhaben und rein vor. Genüsslich gab ich mich ihr hin. Es war das erste Mal, das ich die Wirkung einer Trance erlebte. Einfältig, leer, jedoch glücklich…

      Da mir diese Unbeschwertheit und die Gelöstheit vom Blei der Gedanken und Gefühle erstaunlich wohl taten, übte ich nach diesem ersten Erlebnis einer Trance fortan mit mehr und ehrlichem Eifer. Ich wurde neugierig. Immer tiefer versank ich bei meinen Übungen in die meditativen Klänge, so wie einst in meine geliebten Zahlenketten. Wie im Traum tauchten verschwommene Bilder mit Menschen und fremden Landschaften auf. War das ein Mädchen? Was leuchtete in dessen Hand? Mein Herz klopfte ahnungsvoll. Kam ich auf diese Weise meinen geheimen Wünschen, also der Allervollkommensten näher?

      Urgroßvater unterstützte meinen erwachenden Eifer und begleitete meine Traumreisen oft zusätzlich mit seiner Trommel und einschläferndem Singsang. Das intensivierte und verlängerte meine Trance. Irgendwie war das eine gute Zeit. Tage und Wochen vergingen.

      „Du bist anscheinend wirklich ein Wunderkind!“, stellte er eines Abends zufrieden fest. „Wer hätte das gedacht? Vielleicht liegt diese Gabe ja doch im Blut.“

      Mich freute sein Lob, obgleich ich eigentlich noch immer nicht so ganz an den schamanischen Humbug glaubte. Das war nur Traumschaum und Gedankenbrei, eine besonders angenehme Art der Selbsthypnose und der Zeit tot schlagen. Ich wollte meinen Uropa mit seinen eigenen Waffen schlagen.

      Bald kannte ich jedes Staubkorn in dieser einfachen Behausung, jeden Winkel und jeden Schmutzfleck. Die Kate bestand aus einem Hauptraum und zwei Nebenzimmern. In dem einen wohnte der schwarze Ziegenbock mit zwei Hühnern, die bei gutem Wetter nach draußen getrieben wurden. Auch der blökende Bock musste sich sein Futter häufiger selbst suchen, als ihm lieb war. Durch die schmale Stalltür passte er nur nach Verlust einiger Fellhaare hindurch. In einem anderen Raum, dessen „Mauseloch-Eingang“ eine Truhe vor Fremden verdeckte, bewahrte Urgroßvater schamanisches Zeug, also vielerlei Kräuter, Knoblauchzöpfe, Essenzen, Häute, Knochen und Tierorgane auf. Ich durfte diesen Raum nicht betreten.

      „Dort sind viele giftige Sachen!“, versuchte mein Verwandter mich abzuschrecken. „Du könntest dich verletzen und sogar sterben. Solange du deinen Geist nicht wirklich lenken kannst, nutzt dir Wissen ohnehin nichts.“

      Diese Geheimnistuerei machte mich natürlich noch neugieriger und ich wartete nur auf den passenden Moment, um meinen Wissensdurst zu stillen. Zugleich knisterte Unmut durch meine Brust, weil Uropa meinen Intellekt unterschätzte und mit dem eines Spatzen verwechselte.

      Bisher war ich jedoch nie lange genug allein. Selbst die Toilettengänge meines Herrn und Meisters fielen relativ kurz aus. So musste ich die Untersuchung der verbotenen Kammer immer wieder verschieben.

      Eines Tages beschwerte ich mich.

      „Außer Singen und Trommeln hast du mir nichts beigebracht. Was ist nun mit dem wahren Wissen?“ Beim letzten Wort verlieh ich meiner Stimme einen ironischen Klang.

      Mein neuer indianischer Lehrer knurrte etwas und warf sich ein bemaltes Hirschfell über. Inzwischen hatte ich mich daran gewöhnt, dass er oft ohne jedes Kleidungsstück herumlief. Durch die Trance entwickelte der Körper so viel Hitze, dass selbst ein Lendenschurz unerträglich warm schien. Selbst ich hatte das schon erfahren.

      „Die Trance ist das Wichtigste. Sie ist das Eintrittstor zur Weisheit, denn alles läuft im Geist ab. Jedes Lebewesen lebt in seinem eigenen Kosmos. Beherrschst du deinen Geist, beherrschst du die Welt!“

      Dumm klang das nicht, aber auch nicht so neu. Ich musste natürlich etwas dagegenhalten: „Wenn mich einer schlägt, tut mir das trotzdem weh!“

      „Pass nur auf, du Klugscheißer!“

      Er nahm eine lange eiserne Stricknadel aus einer Kiste, zog mit seinen Fingern die eigene Zunge heraus und stach die Spitze der Nadel von unten nach oben mitten hindurch. Dabei verzog er keine Wimper und sah mich prüfend an. Ich riss schockiert die Augen auf. Was hatte er vor?

      „Das ist ein Trick!“, warf ich ein. „Auf Jahrmärkten habe ich auch schon machen Zirkus gesehen.“

      Nun zückte er ein Messer und schnitt sich hinter der eingestochenen Nadel die Zunge ab. Ich schrie entsetzt auf.

      „Mein Gott, bist du von Sinnen? Du wirst verbluten!“

      Doch wo blieb das Blut?

      Gleichmütig hielt er die abgetrennte Zungenspitze ins Feuer. Anschließend drückte er sie wieder an den Stummel im Mund, wo sich immer noch kein roter Tropfen zeigte. Dann goss er aus einem Krug Wasser darüber und zog die Nadel heraus.

      Ohne ein Wort zu sagen, sah er mich an.

      „Das ist ein billiger Zauber! Gib mir mal die Nadel!“, forderte ich.

      Der Dorn war sicher präpariert.

      Mein Urgroßvater reichte mir das irgendwie präparierte Ding. Ich betrachtete es von allen Seiten. Die rostige Nadel wirkt echt. Zur Probe pikste ich wie er unter meine Zunge und schrie sofort vor Schmerz auf. Blutgeschmack verbreitete sich in meiner Mundhöhle.

      „Alles wird im Geist erzeugt, jeder Gedanke und jeder Schmerz. Stell dir vor, es gäbe im gesamten Universum kein Lebewesen mit Bewusstsein. Gäbe es das Universum dann überhaupt?“

      Mein verblüffter Blick verdeutlichte ihm, dass er mich kurzzeitig geschlagen hatte. Wer konnte auch erwarten, dass sich ein nackter, nicht alternder Schamane mit tiefgründigen philosophischen Fragen beschäftigte?

      „Das Universum gibt es in diesem Fall natürlich und zugleich aber auch nicht. Es fehlt das wahrnehmende Bewusstsein“, murmelte ich nachdenklich seine Frage gedanklich hin und her wendend.

      „Percy, du hast also noch viel zu lernen, mein Wunderkind, bis du dein Erbe antreten kannst!“, schloss