Ana Marna

Aschenhaut


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Augen war ihre Intelligenz ein Geschenk, das gleichzeitig auch eine Verantwortung in sich trug. Und diese begleitete sie schon ihr ganzes Leben. Nur wenige Jahre konnte sie dieser Verpflichtung eine glückliche Familienzeit entgegensetzen. Seitdem war sie einsam. Bennis bewundernden Augen machten ihr das nur bewusster und sie bemühte sich, die aufsteigende Traurigkeit zu verdrängen.

      Sophias Temperament half ihr dabei. Das Mädchen sprühte vor Energie und Tatendrang und hätte Nathalie am liebsten das gesamte Gelände des Landsitzes gezeigt. Dass Nathalie das Bett hüten musste, empfand sie anscheinend als persönliche Beleidigung. Im Gegensatz zu ihrem Bruder hatte sie keine Probleme damit, Nathalie um Rat zu fragen, und so gestalteten sich der späte Nachmittag und ebenso der Abend zu einer munteren Hausaufgaben- und Lernbetreuung.

      Nathalie beschwerte sich nicht. Alles war besser als langweiliges Herumliegen.

      Julia Hunter zeigte sich nicht mehr, doch Daisy, das Hausmädchen, kam immer wieder herein und Nathalie brauchte nicht lange, um die junge Frau zum Lächeln zu bringen. Von ihr erfuhr sie, dass neben Daisy noch weitere Angestellte auf dem Landsitz lebten. Ein Gärtner mit zwei Gehilfen, ein Butler und eine Hauswirtschafterin namens Gertrud, die gleichzeitig auch Köchin war, und zwar eine sehr gute, so wie es Dr. Hopkins gesagt hatte.

      Daisy verriet ihr auch, dass seit der Entführungsgeschichte noch zwei weitere Männer von Asher Hunter geschickt worden waren. Diese lebten zwar nicht auf dem Anwesen, doch sie begleiteten Sophia zur Schule und hielten vor dem Gebäude Wache, bis das Mädchen wieder nach Hause musste. Als sie Tom darauf ansprach, verzog der das Gesicht.

      „Dieses Mädchen kann das Tratschen nicht lassen“, knurrte er, bestätigte aber das Gehörte.

      Neues über die Entführer erfuhr sie leider nicht, und sie fragte sich, ob Asher Hunter seine Tochter tatsächlich für den Rest der Schulzeit so überwachen wollte. Sophia tat ihr jetzt schon leid, doch sie hütete sich, ihre Meinung zu sagen.

      Dienstag, 17. Juni 2014

       Darton City, Ohio

      Detektive Lewis Thomson hockte vor dem vorläufigen forensischen Bericht und fluchte leise vor sich hin. Die Männer waren inzwischen identifiziert worden. Es handelte sich um drei äußerst dubiose Kriminelle, die schon länger im Fokus der Polizei standen, doch seit einiger Zeit untergetaucht waren. Alle drei wiesen lange Vorstrafenregister auf. In der Hauptsache ging es dabei um Körperverletzung, Raubüberfälle und diverse andere Delikte.

      Wundern tat ihn das alles nicht. Irritierender war die Blutanalyse. Sie enthüllte drei Verletzte. Zwei DNA-Analysen identifizierten die beiden niedergeschossenen Männer. Doch die Dritte gehörte eindeutig zu einer weiblichen Person, deren Daten nirgendwo gespeichert waren.

      Wer zum Teufel war diese Frau? Und wie hatte sie schwerverletzt den Tatort verlassen? Bei der Menge an Blut, die sie hinterlassen hatte, konnte sie kaum in der Lage gewesen sein, unbemerkt durch die Gegend zu laufen, geschweige denn Auto zu fahren.

      Es musste also noch eine Person dort gewesen sein. Jemand, der die Frau mitgenommen hatte, nachdem er die drei maskierten Männer professionell zerlegt hatte.

      Detektive Thomson hatte ein ganz mieses Gefühl bei dieser Sache. Das Ganze stank geradezu nach einer verhinderten Entführung, oder schlimmer noch, einem vereitelten Mord. Doch niemand hatte sich an die Polizei gewandt. Entweder weil er oder sie etwas zu verbergen hatte, oder ... tja ... oder was?

      Mit einem Fluch warf er die Mappe auf den Schreibtisch zurück und lehnte sich auf dem wackligen Bürostuhl nach hinten.

      Manchmal hasste er seinen Job.

      Manchmal.

      Freitag, 20. Juni bis Montag, 14. Juli 2014

       Landsitz von Asher Hunter, Ohio

      Benedict erhielt seinen Crashkurs in strategischem Lernen, und Oliver Stewart erfuhr, dass es wesentlich klügere Menschen gab, als er je gedacht hatte. Er wirkte frustriert und schlecht gelaunt, als er den Raum verließ. Benni hingegen war völlig begeistert und rannte sofort auf sein Zimmer, um das Gelernte umzusetzen.

      Nathalie lag anschließend völlig erschöpft in ihrem Bett und betrachtete das Clipboard, auf dem sie ihre Gedankengänge niedergeschrieben hatte. Viele ihrer Kollegen belächelten ihre Angewohnheit Tafeln und Clipboards zu bekritzeln, doch sie selbst brauchte es, um ihre Gedanken geordnet zu halten.

      Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass es kaum Menschen gab, die ihren Gedanken sonst schnell genug folgen konnten. Besser, sie bremste ihr Tempo durch Schreiben. Das war anstrengend, aber erfolgreicher.

      Die Tage verstrichen schnell. Nathalie schlief ungewöhnlich viel, was ihr aber guttat. Nach einer Woche stand sie zum ersten Mal auf. Tom half ihr dabei und führte sie geduldig und langsam durchs Haus.

      Nathalie war erstaunt, wie groß es war. Es gab mehrere Trakte. Im Erdgeschoss war ein Gästebereich, in dem sie sich aufhielt, eine Etage darüber der private Bereich von Julia Hunter. Ebenfalls im ersten Stock, auf der anderen Seite, lagen die Zimmer, die von den Bediensteten genutzt wurden. Die Räume der Kinder und von Tom lagen im Erdgeschoss, neben dem Gästebereich. Von hier aus konnte man auch den Keller erreichen, in dem sich ein Schwimmbad, ein Krafttrainingsraum und eine Sauna befanden.

      Ein Teil des Erdgeschosses war Asher Hunter vorbehalten. Diesen bekam sie nicht zu sehen, genauso wenig die erste Etage. Im hintersten Teil des Erdgeschosses lag der Küchenbereich, sowie eine große Bibliothek, die auch als Lernzimmer für Benni hergerichtet war. Es gab auch eine Tafel und einen topmodernen Computer.

      Am meisten beeindruckte Nathalie allerdings der Bücherbestand. Sie selbst besaß jede Menge Gedrucktes, doch in dieser Bibliothek standen mehrere tausend Bücher.

      Benni zeigte ihr begeistert sein Zimmer und das von Sophia. Es war sehr erhellend für Nathalie, dass das Jungenzimmer viele Bücher beinhaltete, sowie selbstgemalte Bilder und unzählige Bastelmodelle. Sie sah Flugzeuge, Autos, Schiffe aber auch Tiere aus Holzteilen oder Pappe.

      Sophias Inventar war deutlich übersichtlicher: einige wenige Bücher, ein paar Hanteln, ein großer Fernseher mit einer angeschlossenen WiFi-Anlage und stapelweise CDs.

      Ein weiterer Raum im Keller beinhaltete eine Tischtennisplatte und einige Turngeräte. Sogar eine Slackline war quer durch den Raum gespannt. Hier hielt sich vor allem Sophia auf. Das bestätigte Nathalies Eindruck, dass Benni zweifellos der Kreativere und Kopflastigere der Geschwister war.

      Zum ersten Mal nahm Nathalie das Mittagessen gemeinsam mit Benni und den anderen Bediensteten ein. Alle hockten in der Küche an einem großen Esstisch und ließen sich Gertruds Essen schmecken. Julia Hunter war nicht dabei. Daisy murmelte leise was von: „Sie macht gerade eine Diät.“

      Nathalie war sich nicht sicher, ob das tatsächlich der Grund war, doch sie vertiefte das Thema nicht weiter. Julia Hunter hatte sicher ihre Gründe, nicht mit ihrem Sohn zu speisen. Welche das waren, ging Nathalie nichts an.

      Ihr fiel auf, dass Benni von allen verhätschelt wurde, doch das wunderte sie nicht. Der kleine Kerl war so freundlich und hilfsbereit, dass man ihn einfach gern haben musste.

      Am Nachmittag führte Tom sie nach draußen. Es ging durch einen großen Salon zur Eingangshalle und von dort aus auf ein Rondell, wo Autos problemlos halten und kreisen konnten. Rund um das Haus war ein riesiges parkähnliches Gelände. Es war zweifellos gepflegt und aufwendig gestaltet.

      Ein Bereich gefiel Nathalie besonders. Er war mit Hecken und Büschen dicht bepflanzt. Schmale Gehwege verliefen kreuz und quer und führten den Spaziergänger von einem hübschen Beet zum nächsten. Ein Brunnen und ein kleiner Teich waren die Highlights.

      Das ganze Gelände war von einer hohen Mauer umgeben und Tom zeigte ihr die Überwachungskameras und Bewegungsmelder. Der Landsitz schien perfekt gesichert, was Nathalie tatsächlich etwas beruhigte.

      Es dauerte einige Tage, bis der Arzt Nathalie