Marvin Roth

Hanky und der Mächtige


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Walt, der Hanky schon oft beobachtet hatte, wenn er sozusagen geistig jemanden belauschte, hielt Roger mit einer Handbewegung auf und flüsterte ihm ins Ohr: »Jetzt nicht. Hanky hat etwas bemerkt. Leise jetzt.«

      Roger nickte mit Unverständnis im Gesicht, folgte aber Walts Anweisung. Er schaute zu Hanky, doch der schien zu schlafen, sein Atem ging flach und regelmäßig. Leise fragte er Walt, was das zu bedeuten habe, und Walt erklärte es ihm flüsternd.

      In diesem Moment ertönte die Titelmusik der Regionalnachrichten aus den Lautsprechern der zahlreichen, überall im Raum hängenden Fernsehgeräte. Gleich zu Beginn der Sendung meldete der Sprecher mit ernster Stimme einen schweren Zwischenfall mit vermutlich mehr als sechzehn Toten, darunter mindestens ein Beamter der Staatspolizei. Wie es zu diesem verheerenden Vorfall gekommen sei, konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht gesagt werden. Ein leitender Beamter der Staatspolizei hatte für den frühen Abend eine Pressekonferenz anberaumt. Walt und Roger folgten gebannt der Reportage und schienen Hanky dabei völlig vergessen zu haben.

      Dieser lauschte auch und war fassungslos und angeekelt vom Gedankengut des Fremden.

      »... soll ich schon wieder eine Extraschicht einlegen. Verdammt noch mal. Die ganze Organisation kotzt mich an. Da hätte ich auch gleich auf dem Schlachthof anfangen können. Ständig diese Entsorgung der Spender. Was für eine Sauerei, und wie die stinkenI Den Geruch habe ich dann wieder tagelang in den Klamotten. Die eingebildeten Idioten, die nur die Spender anliefern, haben es echt gut. Der verdammte Kommandant Kruger teilt immer nur mich für die Entsorgung ein. Ich hasse diese Scheiße. Diese verdammten Spender sterben aber auch wie die Fliegen, und ich kann dann mit meinen lieben Kameraden, diesen verdammten Schleimern, die immer sagen, jawohl, Herr Kommandant, wird erledigt, Herr Kommandant, den menschlichen Dreck beseitigen. Halt mal, was sagen die im Fernsehen? Was ist da passiert? Wo ist das? Mensch, das ist ja Haus zweiI Da hat es welche von uns erwischt. Was ist mit den Spendern? Warum sagen diese blöden Reporterfritzen nichts darüber? Wenn rauskommt, dass wir da unsere Hände im Spiel haben, gibt’s ein Gemetzel. Nein, ohne michI Das warsI Da mach ich nicht mit. Ein Glück, dass ich heute frei habe. Sollen doch die verdammten Spender verrecken und die ganze Odin Force und der saubere Kommandant gleich mit. Zu schade, dass ich nicht sehen kann, wie der Mistkerl ins Gras beißt. Man kann halt nicht alles haben. Was mach ich mit meinen Sachen? Ins Lager kann ich auf keinen Fall zurück. Ach, hol’s der Teufel. Ich muss sehen, dass ich meinen Arsch rette.

      »He, Bedienung, zahlen!«

      Hanky schlug die Augen auf und starrte den Fremden voll unglaublicher Wut an. Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte er die kalte Lust, einen Menschen umzubringen. In diesem Moment drehte sich der Fremde um. Es hatte den Anschein, als habe er Hankys Blick bemerkt.

      »Was starrst du mich so an, du Arschloch?«, fauchte er ihn an. Walt und Roger wurden aufmerksam und schauten verwundert zwischen Hanky und dem Mann hin und her.

      Hankys Gesicht verzerrte sich in unbeherrschter Wut. Ohne sich dessen bewusst zu sein, sendete er einen starken mentalen Impuls zu dem Fremden. Dieser schrie in höchster Pein auf, griff sich an den Kopf und sackte dann ohnmächtig auf dem Barhocker zusammen, um gleich darauf schlaff auf den Fliesenboden zu fallen. Mit einem hässlichen Geräusch brach ein Knochen. Die anderen Gäste wurden aufmerksam und starrten den am Boden Liegenden an. Eine Serviererin kam um den Tresen herumgelaufen, schaute erschrocken auf den Odin-Mann, fuhr herum und lief zu dem an der Wand hängenden Telefon. Hanky, Walt und Roger hörten, wie sie ins Telefon rief: »Ja, ist da der Notdienst? Bei uns ist gerade ein Gast vom Barhocker gefallen. Ja, anscheinend ohnmächtig. Bitte schicken Sie einen Wagen. Okay, danke. Ich frage mal.« Damit hängte sie auf und fragte mit erhobener Stimme: »Ist hier zufällig ein Arzt oder Krankenpfleger?«

      Als sich niemand meldete, rief sie in die Küche: »Tom, komm mal her. Hier ist mal wieder einer vom Hocker gefallen. Bring den Erste-Hilfe-Kasten mit. Los, mach schon.«

      Hanky saß ganz blass am Tisch. Er konnte nicht fassen, dass er den Fremden angegriffen hatte. Dabei war ihm im Moment nicht einmal bewusst, dass er einen mentalen Schlag ausgeteilt hatte. Wieso hatte er sich nur so hinreißen lassen? Wie hatte es nur so weit kommen können? Das war nicht richtig. Doch noch ehe sich Hanky weitere Selbstvorwürfe machen konnte, sagte

      Walt leise und beruhigend: »Keine Angst, der Kerl atmet noch. Hanky, warst du das? Was hat dich denn so aufgeregt? Haste ihn belauscht? War’s das? Muss ja ein übler Bursche sein, wenn du so reagierst. Wir bleiben jetzt ganz ruhig hier sitzen, gerade so, als ob uns die Sache nichts angeht. Verstanden?«

      Hanky nickte nur wie ein kleiner Junge und schaute auf die Tischplatte. Tränen der Scham rannen über seine Wangen. Er hätte fast einen Menschen umgebracht. Wie weit war es mit ihm gekommen? Ach, wäre er doch noch der dumme Kerl, der sinnlos in den Wäldern herumwanderte und Ameisen zählte ...

      Ein leichtes Schluchzen entfuhr seiner Kehle. Walt beugte sich über den Tisch und reichte ihm eine Papierserviette. Dankbar nickte Hanky und wischte sich die Augen trocken. Dann straffte er sich. »Ist schon wieder okay. Ich wusste nicht, dass ich zu so etwas fähig bin.«

      Erst in diesem Moment wurde Hanky klar, dass er den Mann kraft seines Willens niedergestreckt hatte.

      Kapitel 10

      Carefree, Arizona (später Nachmittag)

      Der Doktor hob den Hörer ab. »Ja?«

      Am anderen Ende der Verbindung meldete sich eine neutrale, emotionslose Stimme: »Sektion Nordost meldet Verlust von Haus zwei. Erbitten weitere Anweisungen.«

      Diese verdammten Idioten, dachte der Doktor, wie können die nur so eine Meldung über das Telefon schicken ?

      Laut sagte er: »Verstanden. Erwarten Sie neue Order.« Verstimmt legte er auf. Dann eilte er die Kellertreppe hinab, schloss den Weinkeller auf und schaltete das Licht ein. Er ging durch den erstaunlich großen Raum, bis er schließlich vor einem Weinregal an der rechten Wand stehen blieb. Aus einem verborgenen Fach zog er eine kleine Fernbedienung und tippte eine Tastenkombination in das Gerät. Sogleich erwachte summend ein kleiner Elektromotor und zog das Weinregal einen guten Meter nach hinten. Ein schmaler Gang wurde sichtbar, und an der Decke des verborgenen Korridors schalteten sich Leuchtstofflampen ein.

      Der Doktor eilte den Gang entlang, bis er nach zwanzig Metern vor einer massiven Stahltür stand. Die Tür war vollkommen glatt, ohne einen erkennbaren Öffnungsmechanismus. Auf eine weitere Signalfolge, die er in die Fernbedienung eingab, fuhr die Tür zur Seite. Auch im dahinterliegenden Raum schaltete sich das Licht automatisch ein. Der Doktor betrat den Raum, der sich in nichts von großen Forschungslabors der Pharmaindus-

      trie zu unterscheiden schien. Allein die Abwesenheit jeglichen Personals und eine unbestimmte Aura vergangener, unmenschlicher Experimente verliehen dem Raum die kalte Präsenz einer modernen Folterkammer. Jedes Instrument, jeder Arbeitsplatz und noch mehr der an der linken Seite aufgestellte OP-Tisch mit mannigfachen Gerätschaften hätte einem unbedarften Besucher eine Ganzkörpergänsehaut verschafft.

      Unberührt von alldem durchquerte er den Raum und öffnete eine weitere Tür. Durch einen gekühlten Lagerraum, in dem sich in langen Reihen Glasbehälter, Kisten und Metallcontainer befanden, gelangte er schließlich durch eine weitere Tür in eine Art Befehlszentrale. Auch hier war er allein. An den Wänden verteilte Bildschirme tauchten den Raum in diffuses, mehrfarbiges Licht. Im Zentrum der Zentrale befand sich ein hufeisenförmiger Arbeitsplatz, der mit vielen Schaltelementen und Computertastaturen ausgestattet war. Der Doktor setzte sich und drückte mehrere Schalter. Leises Rauschen breitete sich in der Zentrale aus und endete schließlich in einem kaum noch vernehmbaren tiefen Basston. Über das extra für die Odin Force kreierte digitale Medianetz loggte der Doktor sich in den Datenstrom ein. Nun war er in der Lage, alle Außenstellen der Odin Force und der Gruppe Phönix abhörsicher anzusprechen oder nach seinem eigenen Belieben unbemerkt über Video und Audio zu überwachen. Genau dies hatte er im Moment im Sinn. Er musste sich erst einmal ein Bild von der Situation machen, ehe er weitere Maßnahmen ergriff.

      Aus einer Computerliste wählte er Haus 2 an und schaute fast im gleichen Moment aus unterschiedlichen Kamerapositionen auf das Geschehen.