Marvin Roth

Hanky und der Mächtige


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mit ins Büro, schnell, wir haben keine Zeit zu verlieren.«

      Sofort sprangen sie auf, ließen die Papiere achtlos fallen und folgten ihm ins Büro.

      »Mal herhören, Leute. Wir brauchen eine Information über einen eventuellen Polizeieinsatz in der Gegend des Odin-Lagers. Wir wissen noch nicht genau, wo das Lager ist. Jedenfalls wollen diese Leute ein Haus sprengen, genauer gesagt das Haus Nummer zwei. Das bedeutet, dass es noch mehr Häuser geben muss. Aber das braucht uns im Moment erst in zweiter Linie zu beschäftigen. Es wurde auf jeden Fall davon gesprochen, dass sich Polizisten im Haus verschanzt haben. Also muss auf jeden Fall eine Kommunikation der Behörden in dieser Gegend stattfinden. Wartet kurz, ich frage Paul, wo sich das Lager dieser Odin-Leute ungefähr befindet.« Hanky schloss die Augen und sagte laut: »Paul, eine Frage, bist du da?«

      Die anderen konnten die Konversation nur einseitig mitverfolgen, dennoch schrieb Rita alles mit, was Hanky sagte. Im Augenblick lauschte er offenbar Paul, den nun war er still und hielt die Augen geschlossen. Unvermittelt begann er, nach einer endlos scheinenden Minute des Schweigens, zu sprechen: »Okay, Paul. Habe verstanden. Halte unseren Kontakt, ich wiederhole für die anderen.

      Findet Sand Lake, im nördlichen New York State. Die Stadt -oder wahrscheinlicher ist es eine kleinere Ansiedlung - liegt am New York Highway 60. Zwischen Sand Lake und Barber- ville muss sich das Lager der Odin Force befinden. Im Umkreis von etwa fünfzig Meilen muss das Haus zwei zu finden sein. Richtig, Paul? Okay, ich klinke mich aus, bin aber gleich wieder bei dir.«

      Damit öffnete Hanky die Augen. »Habt ihr alles? Okay. Paul und ich werden noch etwa eine Stunde lang versuchen, Genaueres zu erfahren. Walt, mach den Wagen bereit für un- sere Abfahrt. Wir beide fahren nach Sand Lake. Ich weiß zwar noch nicht genau, wie wir vorgehen werden, bin aber der Ansicht, dass ich besser in der Nähe der Geschehnisse sein sollte. Richard und Rita, ich bitte euch, hier solange die Stellung zu halten. Richard, versuch herauszufinden, wo es einen größeren Einsatz der Polizei gegeben hat, oder besser, wo ein solcher Einsatz im Augenblick stattfindet. Ich bin sicher, dass du mit deinen journalistischen Kontakten einiges rausfinden kannst. Alles Weitere besprechen wir später. Ah, und noch etwas. Ruft mich, wenn die Stunde um ist.«

      »Geht schon klar, Hanky«, antwortete Richard. »Wir werden dir alle Informationen beschaffen.«

      Rita nickte bekräftigend und wollte noch etwas hinzufügen, aber Hanky hatte sich schon umgedreht und eilte zurück in sein Schlafzimmer.

      »Na, der hat aber ein Tempo drauf«, ließ Rita vernehmen. Dann klatschte sie in die Hände und sagte streng: »Dann wollen wir mal anfangen, meine Herren. In einer Stunde müssten wir doch einiges herausfinden können.«

      »Da kommt ganz die Lehrerin zum Vorschein«, murmelte Rich vor sich hin und ging hinüber ins Wohnzimmer, um zu telefonieren.

      ***

      Philadelphia (morgens, gleicher Tag)

      Roger Thorn konnte es kaum glauben. Sein Undercover-Einsatz war unbemerkt geblieben. Weder das FBI noch die Odin Force schienen nach ihm zu suchen. In dem schäbigen Büro, das eigentlich die Schaltzentrale des als zwielichtig Henry Rolin war, hatte Roger im Internet nachgeforscht und mit einem nicht registrierten Handy die üblichen Stellen kontaktiert. Nichts, absolut nichts. Es gab nur eine mögliche Erklärung: Der Lagerkommandant der Odin Force, Rudgar Kruger, hatte

      Rogers Flucht nicht an seine Vorgesetzten gemeldet. Über seine Motivation konnte Roger nur spekulieren. Es gab zwei denkbare Szenarien. Entweder war etwas Außergewöhnliches geschehen, das die Aufmerksamkeit Krugers völlig beanspruchte, und er wollte sich später, zu einem günstigeren Zeitpunkt, um Roger kümmern, oder der Kommandant wollte einfach vertuschen, dass es einen weiteren Spitzel in seiner Truppe gab. Wie auch immer, Roger Thorn stand auf keiner Suchliste. Damit wusste auch niemand beim FBI von seinen Ermittlungen. Theoretisch konnte er zu seinem normalen Leben zurückkehren. Wie verlockend das klang! Frau und Kinder, Familie, kleines Haus, Bürojob und das Wochenende im Garten mit Freunden verbringen. Gab es so etwas in Wirklichkeit? Bestimmt, nur nicht in seiner Wirklichkeit, in der ein normales Leben wie eine kitschige Utopie wirkte. In seiner Wirklichkeit waren er und viele seiner Kollegen mit der dunkelsten Seite der menschlichen Seele konfrontiert. Das Wissen, was für ein schreckliches Raubtier der Mensch sein konnte, welche unvorstellbaren Grausamkeiten jeden Tag verübt wurden, hatte Roger veranlasst, eine unbewusste Schutzhaltung einzunehmen, die ihm keine engeren Bindungen erlaubte. Dieses fundamentale Misstrauen jedem Menschen gegenüber hatte in den letzten Jahren nur eine Person durchbrechen können. Vielmehr: Sie hatte es einfach weggewischt. Die eher zufällige Begegnung mit Hank Berson hatte in gewisser Weise sein Leben verändert und den Glauben an das Gute im Menschen in ihm wiedererweckt. Dieser junge Mann hatte Rogers distanzierte Haltung einfach ignoriert und ihn durch seine vorurteilsfreie Neugier für sich eingenommen. So hatte Roger Thorn es zugelassen, dass sich eine gewisse Art von Freundschaft zu Hanky aufbaute, die in erster Linie auf gegenseitigem Vertrauen basierte.

      Roger merkte, dass seine Gedanken abschweiften, und rief sich selbst zur Ordnung. Zunächst musste er sich darüber klar werden, wie er nun vorgehen wollte. Er definierte für sich das

      Ziel, die Gruppe Phönix zu zerschlagen. Wie? Das wusste er noch nicht im Detail. Er nahm sich einen Block zur Hand und notierte die Punkte, die zu erledigen waren:

      Er wollte sich mit Hanky treffen und dessen Ideen und Meinung dazu hören. Er musste sich bei seiner Dienststelle melden und seinem Vorgesetzten Erfolge seiner Undercoverarbeit präsentieren und gleichzeitig darauf dringen, weiter im Verborgenen zu arbeiten. Dazu musste er sich noch einmal mit Henry Rolin unterhalten. Er war sicher, dass Rolin den einen oder anderen Konkurrenten aus dem Weg haben wollte.

      Wenn alles erledigt war, konnte er nach Sand Lake aufbrechen. Vor Ort würde er dann, der Situation entsprechend, seine nächsten Schritte planen.

      Wie auf ein geheimes Stichwort flog mit erheblichem Schwung die Tür auf, und Henry Rolin stampfte herein. Sofort schnauzte er Roger mit der ihm eigenen Unfreundlichkeit an: »Du bist ja immer noch hier. Wie lange glaubst du wohl, meine Großzügigkeit ausnutzen zu können? Es wird Zeit, dass du verschwindest. Die Leute fangen schon an zu reden.«

      Roger Thorn grinste nur und machte es sich noch bequemer hinter dem Schreibtisch seines Gastgebers. Dann wurde sein Gesicht wieder ernst, und er deutete auf den Besucherstuhl vor dem Schreibtisch, was Henry Rolin zu einem deftigen Fluch veranlasste.

      »Gut, dass du da bist, Henry. Wir müssen ein paar Sachen besprechen, ehe ich meine Sachen packe. Also pass auf ...«

      So vergingen fast zwei Stunden angeregter Unterhaltung wie im Flug, und Henry Rolin hatte bald die Rolle des mürrischen Gangsters aufgegeben. Roger sprach in Andeutungen, berichtete oberflächlich über die Gefahr, die von der Gruppe Phönix und der Odin Force ausging, ohne Namen zu nennen, und vergaß nicht zu erwähnen, dass die Konspiration bis in hohe Regierungskreise führen könne. Henry wurde abwechselnd blass oder zornesrot. Noch nie hatte er den Behörden getraut. Zum

      Gesetzlosen war er eher durch widrige Umstände geworden, tief in seinem Herzen aber hatte er sich seine Menschlichkeit bewahrt. Am Ende der Unterhaltung saß er für einen Moment still da. Dann straffte er sich und fragte einfach: »Wie kann ich helfen?«

      Roger ergriff dankbar seine Hand. »Du bist also doch nicht der harte Hund, als der du dich immer ausgibst. Darüber bin ich sehr froh. Du musst mir ein paar Sachen besorgen und in der folgenden Zeit, sagen wir, solange ich unterwegs bin, alle Gerüchte in der Stadt aufmerksam verfolgen. Wenn du etwas Wichtiges erfährst, ruf mich an. Du hast ja meine Handynum- mer. Also, lass uns loslegen. Ich will losfahren, so schnell es geht. Ich habe so ein Gefühl, dass mir die Zeit davonläuft.«

      Kapitel 9

       Der Saal (früher Nachmittag)

      Frank starrt auf den Bildschirm, der über seinem Krankenbett hing. Noch nie hatte er sich Gedanken darüber gemacht, zu welchem Zweck diese Bildschirme über den Spendern hingen. Die Verantwortlichen, seine Vorgesetzten, hatten sich bestimmt etwas dabei gedacht. Und warum sich über Dinge den Kopf zerbrechen, von denen man ohnehin nichts verstand?

      Für