Marvin Roth

Hanky und der Mächtige


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vielen Jahrzehnten«, fuhr der Schamane fort, »begann das Morden und Quälen. Ruchlose Männer verfolgten einen Plan und führen diesen noch immer aus. Sie sind nicht mehr weit davon entfernt, ihr Ziel zu erreichen. Wenn das geschieht, wird unendliches Leid über alle Völker kommen.«

      »Wer wird was tun?«, unterbrach ihn Paul.

      »Das kann und darf ich dir nicht sagen.«

      »Wieso nicht?«

      »Es ist mir verboten. Bitte frage nicht. Nun höre, ich habe nur begrenzte Zeit, obwohl Zeit für mich keine Bedeutung hat.«

      Paul verstand überhaupt nichts.

      »Du und der Jäger, ihr seid auf der richtigen Spur. Sende einen deiner Gefährten in die Stadt der zwei Flüsse. Dort wird er eine Spur der Bestien entdecken. Dort haben sie das >Verbotene< entdeckt. Dort haben sie viele Menschen geopfert.«

      »Was für eine Stadt? Wie heißt sie, und in welchem Land liegt sie?«

      »Das darf ich dir nicht sagen.«

      »Dann zeig sie mir«, schrie Paul aufgebracht.

      »Das kann ich tun«, sagte der Schamane fast gleichmütig und wies mit seiner linken Hand nach oben.

      Paul legte den Kopf in den Nacken und schaute - ja, wohin schaute er denn? Es schien, als schwebe er über einer Landschaft. Er schaute nach oben und doch gleichzeitig nach unten. Sein Magen wusste nicht, was er davon halten sollte, und forderte vorsorglich mehr als genug Magensäure an, was Paul mit einem heftigen Übelkeitsempfinden quittierte. Die Stadt, auf die er aus sicher tausend Metern Höhe hinabschaute, lag tatsächlich am Zusammenfluss zweier mächtiger Ströme, umgeben von dichtem Urwald. Der Umstand, eine solch große Ansiedlung inmitten tropischen Urwalds zu sehen, erstaunte Paul. Er kniff die Augen zusammen und versuchte Einzelheiten zu erkennen. Doch so sehr er sich auch anstrengte, seine Sicht verbesserte sich nicht. Verzweifelt überlegte er, um welche Stadt es sich handeln konnte.

      Mit einem Mal wusste er es. Großstadt, Dschungel, zwei Flüsse. Das musste Manaus in Brasilien sein. Hier vereinigten sich der Rio Negro und der Amazonas. Erleichtert, die Antwort gefunden zu haben, richtete er sich aus seiner nach hinten geneigten Position auf und schaute auf das Armaturenbrett seines Autos.

      ***

      Sand Lake, New York State (später Nachmittag)

      Vor wenigen Minuten waren Hanky und Walt in Sand Lake eingetroffen. Hanky war sehr erstaunt, wie sehr diese Gegend seiner Heimat glich. In ihm stieg ein unangenehmes Gefühl der Hilflosigkeit anderen gegenüber auf, dass er oft in seiner Kindheit und als junger Erwachsener verspürt hatte. In New York City hatte er völlig vergessen, wie er früher manchmal von Leuten gedemütigt worden war, nur weil er damals langsam beim Denken gewesen war.

      Er richtete sich im Beifahrersitz auf und verbannte diese Unsicherheit aus seinen Überlegungen. Er hatte sich verändert und konnte sich in der Welt behaupten. Die Spötter von damals lebten immer noch ihr kleines Leben, doch er, Hanky, war in eine neue Zukunft unterwegs, und darauf war er sehr stolz.

      Seine trüben Gedanken wurden unterbrochen, als Walt abbog und vor einem kleinen Restaurant parkte. »Lass uns eine Pause einlegen. Ich habe ziemlichen Hunger.«

      Ohne auf eine Antwort zu warten, stieg Walt aus und winkte ihm ungeduldig zu. Mit einem Seufzer schnallte Hanky sich ab, öffnete die Wagentür und stieg aus. Seine Gelenke knackten wie altes Holz, als er sich ausgiebig streckte. Er hatte den größten Teil der Fahrt geschlafen und war schon vor einer Viertelstunde in einer unbequemen Haltung erwacht, ohne dass Walt es registrierte, da er sich auf die Straße konzentriert hatte. Paul hatte ihn geweckt und ihm von seiner Vision erzählt. Mit weiterhin geschlossenen Augen unterhielt sich Hanky auf telepathischem Weg mit Paul. Nach dem Gespräch dachte er intensiv nach und gelangte zu der Überzeugung, dass er Richard nach Brasilien schicken wollte. Am liebsten wäre er selbst nach Manaus geflogen, doch er musste zuerst herausfinden, was hier geschehen war.

      Hanky zog sein Handy aus der Tasche und rief seine Festnetznummer zu Hause an. Richards Ehefrau Rita nahm das Gespräch an. Aufgeregt erzählte sie Hanky, dass es einen Zwischenfall in der Nähe von Sand Lake gegeben hatte. Genaueres war allerdings noch nicht aus den Medien zu erfahren. Das war vermutlich genau der Polizeieinsatz, über den sie gesprochen hatten, und sie vermuteten, dass die Odin Force ihre Hände im Spiel hatte. Rita wollte an der Geschichte dranbleiben und Hanky informieren, sobald sie mehr wusste. Hanky stoppte ihren Redefluss und berichtete ihr seinerseits von seiner Unterhaltung mit Paul. Walt, der neben Hanky vor dem kleinen Restaurant stehen geblieben war, zog erstaunt die Augenbrauen nach oben, als er hörte, was Paul in seiner Vision erlebt hatte, enthielt sich aber jeglichen Kommentars, um Hanky nicht bei seinem Telefonat zu stören. Schweren Herzens erklärte Hanky Rita, dass es wohl notwendig sei, dass Richard nach Brasilien flog, um dort der Spur zu folgen, die der Schamane gewiesen hatte. Rita versprach Hanky, mit Richard zu sprechen, wollte aber dessen Entscheidung nicht vorgreifen. Hanky spürte, dass Rita ganz und gar nicht begeistert war, dass ihr Mann nach

      Manaus fliegen sollte. So unterließ er es, Rita zu drängen, und vertraute darauf, dass sie mit Richard zusammen die richtige Entscheidung traf.

      Ehe Rita das Gespräch beendete, gab sie Hanky noch eine Handynummer. Jemand hatte in Hankys Wohnung angerufen, sich aber nicht namentlich vorgestellt. Es sei überhaupt ein sehr kurzes Telefonat gewesen, erzählte sie, und sie habe gerade genug Zeit gehabt, sich die Nummer aufzuschreiben. Hanky notierte sich die Zahlenfolge, verabschiedete sich rasch von Rita und wählte die mysteriöse Nummer. Walt verfolgte Hankys Telefonate kommentarlos, legte aber die Stirn in Falten, was seine Besorgnis über das unausweichlich Kommende eindrucksvoll demonstrierte.

      Nach kurzem Klingeln meldete sich eine Männerstimme mit einem vorsichtigen »Hallo?«

      Hanky wusste auf Anhieb, wer da am anderen Ende der Verbindung war.

      »Hallo Roger, hier ist Hanky. Geht es dir gut?«

      »Ah, Hanky, ja, danke. Woher hast du gewusst, dass ich es bin? Aber gut, dass du dich meldest. Wo bist du gerade?«

      Hanky schaute Walt fragend an, doch der konnte ja nicht wissen, worum es ging. Also wiederholte Hanky Rogers Frage. Walt zeigte mit einem Finger auf das Restaurantschild, das über dem Eingang angebracht war. Lächelnd nickte Hanky und verdrehte die Augen. Da stand es groß und breit: Sand Lake Kitchen.

      »In Sand Lake. Wir stehen dort vor einem kleinen ...«

      Rasch unterbrach ihn Roger: »Ich bin so in einer Stunde bei euch. Dann können wir reden. Ich traue den Telefonen nicht. Wer weiß schon, wer da alles mithört? Melde mich, sobald ich da bin. Okay?«

      »Geht klar. Bis gleich.« Damit beendete Hanky das Gespräch.

      Roger erreichte Sand Lake mit mehr als einer Stunde Verspätung. Unterwegs hatte es auf der Landstraße einen Unfall gegeben, und es gab kein Durchkommen.

      Hanky und Walt hatten gerade das Besteck aus den Händen gelegt und dachten über einen Nachtisch nach, als Roger durch die Tür trat. Er hatte sie gefunden, obwohl Hanky ihm nicht mitgeteilt hatte, wo sie warten würden. Allerdings bot Sand Lake auch nicht allzu viele Möglichkeiten, um sich zu treffen, wenn man fremd in der Gegend war.

      Für einen Moment überwog die Wiedersehensfreude, ehe den dreien das Gewicht kommender Aufgaben die Mundwinkel wieder nach unten drückte. Sie setzten sich, und Roger bestellte einen Kaffee. Danach berichtete er von seiner Zeit bei der Odin Force, und Hanky erzählte ihm, was er und seine Freunde bisher herausgefunden hatten. Ein überraschender Punkt für Roger war der Hinweis von Paul. Der Schamane war für Roger ein neuer Mitspieler, und Hanky hatte es damals bei seiner Befragung durchs FBI auf Pauls Bitte hin verstanden, den indianischen Traumseher aus der Geschichte herauszuhalten. Während Roger noch über die neuen Möglichkeiten nachdachte, die sich durch Pauls Fähigkeiten im Zusammenspiel mit Hanky boten, und Walt seinen doch noch georderten Nachtisch verspeiste, wurde Hanky auf einen Mann an der Theke aufmerksam. Irgendetwas unterschied ihn von den übrigen Gästen im Lokal. Unauffällig musterte er den Fremden und streckte beinahe selbstverständlich seine mentalen Fühler nach ihm