Marvin Roth

Hanky und der Mächtige


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fang mit der Suche an. Finde den Platz, das Gelände dieser Odin Force. Es ist wichtig, dass wir erfahren, was diese Leute treiben und wohin sie die Entführten bringen. Alles Weitere wird sich danach finden. Rich und Rita versuchen, Hintergrundinformationen zu sammeln, während Walt und ich schon mal unsere Sachen packen. Ich glaube, dass wir bald verreisen müssen. Melde dich, sobald du etwas weißt oder ich mich bei dir einklinken kann, um mit eigenen, Verzeihung, deinen Augen zu sehen, was geschieht.«

      »Okay, Hanky. Ich fange sofort an, aber es kann schon eine Weile dauern, bis ich diese Gangster und ihr Lager gefunden habe. Also, nicht ungeduldig werden. Bis bald!«

      Damit war Paul aus Hankys Gedanken verschwunden, was bei Hanky immer ein Gefühl der Einsamkeit hinterließ. Er schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken zu vertreiben, und kehrte zu den anderen zurück.

      ***

      Lager der Odin Force (früher Nachmittag)

      Kommandant Rudgar Kruger lief unruhig in seinem Büro hin und her. Er war nervös, und das war ein Zustand, den er hasste. Er wollte immer alles unter Kontrolle haben. Dieser Drang beruhte auf seiner angeborenen Unsicherheit im Umgang mit Menschen - insbesondere bei Vorgesetzten -, die er sorgfältig verbarg. Sein ganzes Leben lang hatte er den forschen Draufgänger ohne Angst und Skrupel gemimt. Das hatte ihm den Posten des Lagerkommandanten eingebracht und den Aufstieg in der Hierarchie. Trotzdem war seine geheime Lebensangst geblieben. In letzter Zeit fragte er sich immer öfter, wie alles weitergehen würde. Wann würde ihr Treiben auffallen, und was geschah dann? Er wusste keine Antwort. Er kannte noch nicht einmal die wirklichen Drahtzieher seiner Organisation. Wer hatte die Gruppe Phönix gegründet und zu welchem Zweck? Wer stand dahinter? Einmal hatte er bei einem Treffen von Odin- und Phönixmitgliedern Gesprächsfetzen belauscht. Von >dem Doktor< hatte man gesprochen. Wer war dieser Doktor, und wie konnte er eine solche Organisation gründen und aufbauen, ohne dass davon etwas öffentlich bekannt wurde? Er musste mächtige Freunde haben, dieser >Doktor<.

      Der Kommandant war dieser Frage nie ernsthaft nachgegangen. Dennoch hatte er immer aufmerksam zugehört und so herausgefunden, dass die Organisation über eine ganze Anzahl von Lagern verfügte. Dazu kamen die Gebäude, in denen die Spender untergebracht wurden. Er wusste von mindestens sieben Häusern mit insgesamt annähernd viertausend Spendern. Die Zahl schwankte natürlich ständig, das war nicht zu vermeiden. Was wirklich mit den Spendern geschah - den Begriff Menschen verwendete niemand - und was sie eigentlich spendeten, wusste er auch nicht.

      Normalerweise wurden die Häuser nicht bewacht, da außer den dort arbeitenden Technikern alle, die sich dort aufhielten, unter Drogen standen und damit ruhiggestellt waren. Herumlaufende Wachen hätten nur das Interesse möglicher Nachbarn geweckt. Nur bei einer neuen Lieferung oder der Entsorgung kamen seine Leute ins Spiel. Eine Ausnahme bildeten einzig Notfälle oder Unregelmäßigkeiten jeder Art. Dann musste er seine Männer schicken, um die Situation zu klären, was oft genug mit Blutvergießen verbunden war. Für solche Einsätze hatte er die richtigen Leute, die nur darauf warteten, anderen wehzutun oder sie gar abzuschlachten. Früher hätte er sich nicht vorstellen können, wie viele Menschen bereit waren, auf Befehl zu töten. Nicht, dass es ihm etwas ausmachte, jemanden zu erschießen oder auf andere Weise umzubringen, aber sich selbst sah man dennoch differenzierter. Ausreden, mit denen man seine Taten vor sich selbst rechtfertigen konnte, waren dem Kommandanten nicht fremd.

      Immer noch ärgerte ihn, dass dieser Spitzel seinen Leuten entkommen war. Natürlich hatte er den Vorfall nicht an seine Vorgesetzten gemeldet. Er hatte angenommen, die Angelegenheit selbst regeln zu können. Auf den Odin-Soldaten, der bei der Verfolgung sein Leben hatte lassen müssen, verschwendete er keinen Gedanken. Wer sich von einem Flüchtling überwältigen ließ, war selbst schuld und ohnehin nicht zu gebrauchen. Der Spitzel hatte sich bestimmt irgendwo verkrochen, und Odin würde ihn über kurz oder lang aufgreifen und kurzen Prozess mit ihm machen.

      Doch was war mit Haus Nummer zwei geschehen? Weshalb war die Kommunikation für mindestens eine Stunde unterbrochen gewesen? Er glaubte dem Techniker kein Wort, als dieser behauptete, es sei alles in Ordnung. Blödsinn!

      Mit einem Mal hatte er das Gefühl, nicht mehr allein im Raum zu sein. Unsicher blickte er sich um, aber es war nichts zu sehen. Und doch ... Wurde er überwacht? Gab es verborgene Kameras? Nein, das konnte nicht sein. Täglich überprüfte er den ganzen Raum, und noch nie hatte er auch nur den kleinsten Hinweis auf eine Überwachungsanlage gefunden.

      Sein Magen verkrampfte sich und wurde kalt. Seine natürliche Unsicherheit, gepaart mit Angst, kroch aus ihrem Versteck und drohte ihn in Panik zu versetzen. Gehetzt lief er zur Tür und durch einen kurzen Gang hinaus ins Freie. Unsicher blieb er stehen und schaute sich um. Das Lager lag völlig ruhig da, und er konnte keinen seiner Untergebenen entdecken. Mit drei, vier tiefen Atemzügen pumpte er seine Lungen voll Sauerstoff, was ihn sofort beruhigte. Verdammt, seine Nerven gingen mit ihm durch. Wo blieb im Übrigen der Bericht von Odin? Seine Leute mussten doch längst bei Haus zwei angekommen sein. Mit festen Schritten ging Rudgar Kruger zur Funkzentrale, froh, eine Aufgabe gefunden zu haben, um sich abzulenken.

      Unsichtbare Augen folgten dem Kommandanten.

      Kapitel 7

      Carefree, Arizona (früher Nachmittag)

      Der Mann, den die Mitglieder der Odin Force nur flüsternd mit dem Titel »der Doktor« bezeichneten, saß gemütlich auf der Terrasse seines Hauses. Es war nur eine seiner zahlreichen Immobilien weltweit. Er liebte es, hier zu sein, und die Bewohner von Carefree verhielten sich freundlich und hilfsbereit, was ihn aber im Zweifelsfall nicht davon abhalten würde, jeden dieser netten Leute ohne Gnade zu opfern.

      Hier war der Doktor als Geschäftsmann bekannt, der viel reiste und gern die freien Tagen in seinem Haus verbrachte, das nicht weit vom Reflecting Mountain Way am Ende einer namenlosen Privatstraße lag. Sein nächster Nachbar lebte über dreihundert Meter entfernt, was dem Doktor seine Privatsphäre sicherte. Ab und zu kamen Fremde in die Stadt, die ihn besuchten. Niemand sah darin etwas Besonderes, und niemanden interessierte, was für Geschäfte der Doktor tätigte.

      Diese “Geschäfte” waren, um es vorsichtig zu sagen, mehr als illegal. Vor allem waren sie sehr geheim. Was der Doktor und die Angehörigen des inneren Zirkels der Organisation in den vergangenen Jahrzehnten unter Verwendung brutalster Mittel aufgebaut hatten, übertraf alles bisher Dagewesene. Es war ein Gebilde entstanden, eine Struktur, die über ein weltweites Netz von Zweigstellen verfügte. Namhafte Firmengruppen waren ebenso ein Teil des Ganzen wie etliche Parteien und subkulturelle Gemeinschaften bis hin zu Teilen kirchlicher Institutionen.

      Der Doktor und seine Kameraden bündelten mehr Macht in ihren Händen als mancher Staat.

      Angefangen hatte alles lange vor dem zweiten Weltkrieg, bei einem Treffen, bei dem die Gruppe Phönix gegründet wurde.

      ***

      Deutschland, Freising, bei München, 12. September 1928 In dem an der Landshuter Straße gelegenen Gasthaus zum Löwen saßen in einem Nebenzimmer neun Männer, die gespannt einem Redner an der Stirnseite des Tisches lauschten.

      Manche der Männer stand vor Staunen der Mund offen, andere bekamen eine Gänsehaut, so unglaublich, ja ungeheuerlich war der Plan, den er mit ruhiger Stimme erläuterte. Sie alle waren erfahrene und durch das Leben gestählte Leute, die sich keine Gelegenheit entgehen ließen, ein Geschäft zu machen oder sich einen Vorteil zu verschaffen, aber das hier ...? Der Redner behielt, trotz seiner ausgefeilten Ansprache, seine Zuhörer genau im Auge und verfolgte ihre Reaktionen. Nach einer knappen Stunde beendete er seinen Vortrag mit den Worten: »Nun, meine Herren, ist es an Ihnen zu entscheiden, ob Sie diesen Weg mit mir gehen wollen. Ich weiß, ich begebe mich auf dünnes Eis, indem ich ihnen meine Ideen präsentiere, ich weiß aber auch, dass Sie alle genau die Männer sind, die diesen gewaltigen Plan zu einem erfolgreichen Ergebnis führen werden. Nochmals weise ich Sie darauf hin, dass hier vollkommene Verschwiegenheit geboten ist und absolut nichts an die Öffentlichkeit dringen darf.«

      Mit seinem stechenden Blick schaute er einem nach dem anderen in die Augen und erkannte, dass er sie alle in seiner Gewalt hatte. Dann fuhr er fort: »Mit diesem