Marvin Roth

Hanky und der Mächtige


Скачать книгу

ich da erfuhr, ließ mir den Atem stocken, obwohl ich das Gerede am Anfang als angeberisches Geschwätz abtat. Doch nach und nach glaubte ich den Geschichten. Natürlich hatte es in meiner Karriere bei der Odin Force kleinere Straftaten seitens meiner >Kameraden<gegeben, aber nichts, was ein Einschreiten und den Verlust meiner Tarnung gerechtfertigt hätte. Dann kam allerdings der Tag, der mich zur Flucht veranlasste und mich meinen Glauben an den Staat verlieren ließ.

      Schon am frühen Morgen waren wir angewiesen worden, das Gelände zu sichern, da hoher Besuch angekündigt war. Wir verteilten uns rund um eine große Lichtung, die ab und zu als Landeplatz für Helikopter genutzt wurde. Ich stand, ganz in schwarz gekleidet, mit einer geladenen M16 in der Armbeuge am Rand des Waldes. Um Punkt neun Uhr hörte ich das Knattern eines nahenden Hubschraubers. Kurz darauf schwebte eine schwarz lackierte Maschine ohne jegliche Kennung heran und landete sanft in der Mitte der Lichtung. Mehrere Männer in dunklen Anzügen verließen den Helikopter. Aus reiner Neugier schaute ich durch mein Fernglas zu den Männern hinüber. Was ich sah, war ein Schock für mich: Ich kannte einige der Männer dort drüben. Gerade wurde der stellvertretende FBI-Direktor Stuart Melanscy vom Lagerkommandanten Rudgar Kruger begrüßt. Direkt daneben standen, breit lächelnd, Staatssekretär Wilson Mac Adams und Senator Samuel Benjamin aus Nevada. Hinter diesen Repräsentanten der Vereinigten Staaten von Amerika hatten sich zwei meiner Kollegen postiert, die ich aus dem Washingtoner Büro kannte: Joe Curtis und Mike Stellino. Ich fragte mich, was diese Männer hier zu suchen hatten. War diese ganze Organisation ein getarntes Projekt des FBI? War ich einer falschen Fährte auf der Spur? Das konnte doch nicht sein.

      Nach einer Weile wurde ein gefesselter Mann zu der Gruppe gebracht. Mit angeekeltem Gesichtsausdruck blickte der Senator ihn an. Dann sagte er etwas zu ihm und spuckte verächtlich aus. Das Gesicht des Gefesselten war mit Blutergüssen übersät, was auf eine vorangegangene Folterung hindeutete. Der stellvertretende FBI-Direktor gab dem Agenten Curtis einen kurzen Wink, worauf dieser mit einer lässigen Bewegung seine Dienstwaffe zog und dem Gefangenen ohne Zögern in den Kopf schoss. Der Mann brach sofort zusammen und blieb liegen. Die Gruppe setzte ihr Gespräch fort, als sei nichts geschehen. Nach weiteren fünf Minuten brachten vier Odin-Mitglieder eine offenbar recht schwere Kiste herbei und verluden sie in den Hubschrauber. FBI-Agenten, Staatssekretär und Senator verabschiedeten sich vom Kommandanten und verschwanden einer nach dem anderen in der Maschine. Kurz darauf startete der Hubschrauber und flog dicht über den Baumwipfeln davon.

      Zwei Stunden später lag noch immer der Leichnam auf der Lichtung, gut sichtbar für jeden. Vor dem Haupthaus sammelten sich die Männer. Den leise geführten Unterhaltungen entnahm ich, dass es sich bei dem Erschossenen um einen FBI-Agenten handelte. Dieser Mann war für die Entsorgung der Leichen verantwortlich gewesen, die später auf den Müllhalden gefunden worden waren. Ich vermutete, dass der Agent die Toten mit Absicht dort platziert hatte, um die Ermittlungsbehörden aufmerksam zu machen. Ich kannte den Mann nicht, was aber auch nicht verwunderlich war, da über dreißigtausend Mitarbeiter des FBI in den USA tätig sind. Das ich die Insassen des Helikopters identifizieren konnte, war schon ein großer Zufall.

      Doch ehe ich weitere Schlussfolgerungen ziehen konnte, fuhren große Lastwagen auf das Haupthaus zu und hielten direkt davor. Wir wurden in Teams eingeteilt und eilten zu fünf bereitstehenden Geländewagen. Kurz darauf startete der Konvoi zu einem mir unbekannten Ziel. Wir mussten nicht weit fahren. Uber holprige Landstraßen gelangten wir nach einer halben Stunde in ein kleines, abgelegenes Tal. Dort befand sich ein alter, nicht mehr in Betrieb befindlicher Flughafen, der im Wesentlichen nur noch aus einer rissigen, mit Unkraut überwucherten Landebahn bestand. Windschiefe, rostige Hangars und ein nur noch in Fragmenten erhaltener Tower bildeten eine morbide Kulisse. Die Lastwagen hielten am Rand der Landebahn, unsere Geländewagen fuhren weiter direkt in die Hangars. Dort wurden wir von bewaffneten Männern empfangen, die uns eilig aus den Fahrzeugen winkten. Gruppenweise wurden wir zur Sicherung des Flugfelds losgeschickt. Im Laufschritt begaben wir uns zu den angewiesenen Positionen. Tiefes Brummen, verbunden mit einem leichten Vibrieren der Luft, kündigte die unmittelbar bevorstehende Landung eines größeren Flugzeugs an. Kurz verdeckte ein Schatten die Sonne, und schon setzte eine graue Hercules C-130 zur Landung an. Die dreißig Meter lange und fünfunddreißig Tonnen schwere Maschine setzte sicher auf und kam nach erstaunlich kurzem Bremsweg zum Stehen.

      Sofort setzten sich die Lastwagen in Bewegung und hielten hinter der Maschine. Die Heckladeklappe senkte sich nach unten. Männer sprangen aus den Lastwagen und eilten zum Flugzeug, stiegen die Landerampe hinauf, um kurz darauf mit Krankentragen wieder aufzutauchen. Undeutlich erkannte ich, dass es offenbar hilflose Menschen waren, die auf den Tragen lagen. Die Männer hoben sie auf die Ladefläche der Lastwagen. Verwundert und verständnislos schaute ich dem Entladen des Flugzeugs zu. Was hatte das alles zu bedeuten? Wer waren die Menschen, die hier auf Lastwagen verladen wurden, und wo kamen sie her? Was sollte mit ihnen geschehen? Mir schwirrte der Kopf. Etwa zehn Meter rechts von mir stand ein anderer Odin-Soldat, der meine Verwunderung offenbar bemerkt hatte. Er lachte und rief: »Na, wohl zum ersten Mal dabei, wenn wir die Spender abholen?«

      Die Spender? Ich konnte nichts mit der Bezeichnung anfangen. Ehe ich noch zu einer Antwort ansetzten konnte, fuhr er fort: »Du wirst dich schon noch daran gewöhnen. Alle zwei bis drei Wochen kommt eine neue Lieferung als Ersatz für die Ausfälle. Du glaubst ja nicht, wie schnell manche von denen den Geist aufgeben und einfach wegsterben. Die halten echt nicht viel aus. Der Dienst hier am Flugfeld gehört noch zu den angenehmsten Aufgaben. Warte nur, bis du zum Entsorgen eingeteilt wirst. Das ist echt widerlich. Na ja, du wirst schon sehen.«

      Er lachte noch einmal hämisch auf und konzentrierte sich dann wieder auf die Beobachtung des Flugfelds.

      Gedanken rasten durch meinen Kopf. Spender - Lieferung - Ausfälle - Entsorgung. Etwas in mir weigerte sich, dieses Geschehen als Realität zu akzeptieren. Wie war es nur möglich, dass ein organisierter Menschenhandel in diesem Umfang bisher unentdeckt geblieben war? Woher kamen die armen Menschen, die hier nur als Spender bezeichnet wurden, und was spendeten sie? Wer war für all das verantwortlich? Wer war so skrupellos? Hier wurden Menschen missbraucht und ermordet, in einer Dimension, die ich mir nicht ausmalen mochte. Wie viele Menschen waren schon gestorben und entsorgt worden? Ich befand mich unter Bestien in Menschengestalt.

      Das Anlaufen der Propeller lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf das Flugfeld. Die Lastwagen hatten bereits die Landebahn verlassen und die Landstraße erreicht. Wir bekamen den Rückzugsbefehl und rannten zu den Geländewagen in den Hangars.

      Auf der Fahrt zurück zu unserem Standort unterhielten sich die Odin-Soldaten so zwanglos und locker, als hätten sie eben dem Verladen von Obst und Gemüse beigewohnt und nicht dem Transport von Todgeweihten.

      Für mich standfest, dass ich noch in dieser Nacht verschwinden musste. In meiner Unterkunft verzog ich mich nach unserer Ankunft in die Toilette, um diesen Bericht zu schreiben. Ich werde versuchen, diese Machenschaften zu beenden, diese Bestien zur Strecke zu bringen.

      Damit endete der Bericht Roger Thorns.

      Ratlos legte Hanky die eng beschrieben Seiten auf den Tisch. Was sollte er nur machen, wie konnte er helfen? Suchend schaute er sich nach Walt um, doch der war nicht mehr in der Küche. Hanky war unsicher, ob er ihm den Brief zeigen, ihn in diese Sache hineinziehen sollte. Auf der anderen Seite brauchte er Hilfe. Dies war nicht nur ein Monster, das er jagen und hoffentlich am Ende besiegen konnte, sondern hier war die Anzahl der Monstren nicht abzusehen. Doch es ging nicht nur darum, diese Verbrecher dingfest zu machen, sondern vor allem um die Rettung unzähliger Menschenleben. Er würde Walt den Bericht lesen lassen, und danach sollte er selbst entscheiden, ob er Hanky helfen wollte.

      Entschlossen stand er auf und eilte in sein Büro. Er hatte schon zu lange gezögert. Allein konnte er keine Lösung finden, keine Entscheidung treffen. Er brauchte seine Freunde. Zuerst telefonierte er mit Paul Green, der sich sofort bereit erklärte, bei einer möglichen Ermittlung zu helfen, obwohl Hanky ihm noch keinerlei Auskünfte über die Art des Problems gegeben hatte. Paul wusste, dass es dringend war, wenn Hanky ihn um Hilfe bat.

      Richard Miller zu erreichen erwies sich anfangs als recht schwierig, da niemand zu wissen schien, wo er sich aufhielt. Das Problem erledigte sich von selbst, als Richard nebst seiner Frau Rita an Hankys Tür klingelte,