Marvin Roth

Hanky und der Mächtige


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Küche. In den Schränken und an den Wänden sah sie reich dekorierte Kaffeetassen und Landschaftsbilder, vermutlich Erbstücke, die über Generationen liebevoll zusammengetragen worden waren. In diese Szenerie gediegener Gutbürgerlichkeit trat nun aus dem Flur eine grauhaarige, etwas dickliche Frau mit leicht gerötetem Gesicht, die einen großen Topf trug, den sie ächzend auf den emaillierten Gasherd stellte. Erschrocken und mit offenem Mund fuhr sie herum, als Carmen zaghaft ans Fenster klopfte. Mit einigen schnellen Schritten war sie beim Fenster, hob die Arme und rief laut aus: »Ach du liebe Güte, Kind, was ist denn mit Ihnen geschehen?«

      Damit verließ sie das Fenster, eilte mit wehender Schürze aus der Küche und war in erstaunlich kurzer Zeit draußen angelangt. Hier erst sah sie, dass Carmen völlig unbekleidet war. Sofort riss sie sich die Schürze vom Leib und bedeckte notdürftig Carmens Blöße. Als sie Carmen beruhigend den Arm um die Schulter legte, sackte diese fast in sich zusammen. Schock und Anspannung der vergangenen Tage und Stunden forderten ihren Tribut. Die besorgte Hausfrau führte sie unter einem Schwall beruhigender Worte ins Haus und dann in ein kleines Gästezimmer. Dort setzten sich beide aufs Bett. Die Frau wartete einen Moment und ließ Carmen erst einmal zur Ruhe kommen. Währenddessen schaute sie sich deren zerschundenen, verschmutzten Körper genauer an. »Du armes Kind«, begann sie und schüttelte besorgt den Kopf. »Was um Himmels willen ist dir denn widerfahren?« Sie nahm Carmen in den Arm und streichelte ganz mütterlich über ihr verfilztes, schwarzes Haar.

      »Ich bin Molly Barns«, stellte sie sich vor. »Und du bist nun in Sicherheit. Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht. Leg dich erst mal hin, und ich lass dir in der Zwischenzeit ein heißes Bad ein. Du wirst sehen, wie schnell es dir dann wieder besser geht.« Mit diesen Worten drückte sie Carmen sanft auf das Bett und deckte sie mit einem dicken Federbett zu. Dann eilte sie in das gleich nebenan liegende Badezimmer.

      Kapitel 5

      New York City

      Der Brief hatte Hanky erschüttert. Nicht etwa das Schreiben an sich, das eher sachlich verfasst war, sondern die Emotionen, die mit diesem Schriftstück reisten.

      Hanky war sich noch immer nicht über alle seine Fähigkeiten im Klaren. Nun war schon etwas mehr als ein Jahr vergangen, seit er den Tausendschläfer besiegt hatte, dennoch entdeckte er fast jeden Tag kleine Hinweise darauf, dass die Welt des Übersinnlichen - oder, wie er lieber sagte, der Extrafähigkeiten - scheinbar grenzenlos war. Seine wichtigste Fähigkeit war es, von jeder beliebigen Person Informationen telepathisch zu empfangen und sie in seinem Gehirn zu speichern. Diese Fähigkeit erlaubte es Hanky, ungeheures Wissen anzuhäufen, und machte das Lernen leicht. Die Gefahr solcher Übungen lag darin, dass es häufig schwierig war, sich von den Gefühlen anderer Menschen zu distanzieren. Dass allerdings ein sogenannter toter Gegenstand Emotionen transportieren konnte, war neu für ihn. Zum Glück bewies Walt großes Einfühlungsvermögen und hatte ihn in Ruhe gelassen. Eine ganze Weile hatte Hanky unschlüssig auf dem Sofa gesessen und aus dem Fenster gestarrt. Ihm war noch nicht klar, wie er Roger helfen konnte. Instinktiv wusste er, dass der FBI-Mann noch am Leben war, doch das war auch schon alles. Wie sollte Hanky vorgehen, wo mit den Ermittlungen beginnen? Alles war sehr verschwommen und nebulös. Schließlich nahm er den Brief noch einmal zur Hand und las ihn erneut.

      Bei den Ermittlungen zu mehreren mysteriösen Mordfällen im Gebiet der Staaten New York und New Hampshire hatten örtliche Einheiten der Mordkommission das FBI um Unterstützung gebeten.

      Vier Leichen im nördlichen New York und drei Leichen in New Hampshire, aufgefunden auf Mülldeponien, stellten die Beamten der Mordkommission und die zuständigen Gerichtsmediziner vor ein schwieriges Problem. Alle Leichen hatten drei Millimeter große Löcher in der Stirn, die laut Obduktionsbericht aber nicht die eigentliche Todesursache waren. Alle Opfer starben an akutem Herzversagen, was normalerweise auf extrem hohe Stressbelastung zurückzuführen ist. Auffallend und bei allen Untersuchten identisch war die ungewöhnlich hohe Konzentration von Adrenalin. Bei der Öffnung der Schädeldecken wurde bei allen Opfern eine Perforation der Zirbeldrüse festgestellt. Die Mediziner waren ratlos und konnten sich keine Prozedur vorstellen, bei der es nötig war, durch die Stirn die Zirbeldrüse zu punktieren. Die ermittelnden Beamten wussten noch weniger mit diesen Informationen anzufangen. Ungewöhnlich war auch die Tatsache, dass die Täter ihre Opfer einfach auf Mülldeponien ablegten. Vermutlich hatten sie gehofft, dass die Leichen unter den Müllbergen begraben würden und niemand Notiz nehmen würde. Tatsächlich war das erste Opfer auch nur zufällig gefunden worden. Da die herbeigerufenen Polizeibeamten mehr als nur eine Leiche fanden, verständigte der zuständige Staatsanwalt seine Kollegen der angrenzenden Staaten, was zum Fund der Leichen in New Yorkführte.

      In diesem Stadium wurde ich vom New Yorker Büro auf den Fall angesetzt. Ich sollte verdeckt ermitteln und versuchen, die Leute zu finden - wir waren uns von Anfang an sicher, dass es sich um mehrere Täter handeln musste -, die für die Morde verantwortlich waren. So streifte ich durch Kneipen und Bars, die von der Fundstelle aus in einem Radius von zwanzig Meilen aufgefunden worden waren.

      Anfangs hörte ich nur das übliche Geschwätz angetrunkener Kleinstadtbewohner. Jeder hier hatte seine eigene Theorie über die Morde, sogar von Außerirdischen wurdegefaselt, bis ich eines Abends Zeuge eines leise geführten Gesprächs wurde.

      Zwei Männer mittleren Alters saßen etwas abseits an der Theke einer kleinen Bar, die ich in den vergangenen Tagen schon des Öfteren besucht hatte. Den einen kannte ich schon vom Sehen, der andere Gast aber war mir unbekannt. Aus dem Gespräch konnte ich bruchstückhaft heraushören, dass der Unbekannte versuchte, seinen Gesprächspartner anzuwerben. Der Unbekannte hatte einen militärisch kurzen Haarschnitt und wirkte sehr durchtrainiert. Nach einer Weile ging er fort, und zurück blieb der offenbar tief in Gedanken versunkene andere Mann. Ich musste herausfinden, um was es in dem Gespräch gegangen war. Also bestellte ich zwei Drinks und rückte näher an ihn heran. Zunächst war er misstrauisch, im Verlauf des Abends und weiterer Getränke wurde er dann doch noch gesprächig. Er berichtete mir von einer Vereinigung, die sich Gruppe Phönix nannten. Diese Leute waren sehr konservativ und rassistisch. Mein Gesprächspartner war erschrocken über die krassen, gewaltbereiten Äußerungen des PhönixMitglieds und wollte deshalb in der nächsten Zeit Bars meiden, um diesen Leuten aus dem Weg zu gehen. Er hatte sichtlich Angst, ich hingegen wollte und musste jeder Spur nachgehen, die mich möglicherweise zu dem Täterkreis führen konnte. Also warum nicht hier beginnen? Gleich am nächsten Tag informierte ich mich im Internet über diese ominöse Gruppe. Ich fand nur sehr wenige Informationen. In entsprechenden Foren wurde jedoch erschreckend offen dem Rassismus gehuldigt und unverblümt eine weiße Vorherrschaft gefordert, um die minderwertigen Rassen< in die Schranken zu weisen. Doch niemand sprach direkt von der Gruppe Phönix und der ihr untergeordneten Odin Force. Trotzdem gab es diese Organisationen, und ich vermutete, dass diese Leute etwas mit den Morden zu tun hatten. Dieser Frage wollte ich auf den Grund gehen, und so wartete ich in der Bar einige Tage auf das Auftauchen des militärischen anmutenden Mannes. Eine Woche später war es so weit. Der Kerl kam herein und schaute sich suchend um. Ich hatte mir extra paramilitärische Kleidung gekauft und gab mich entsprechend progressiv. Laut schimpfte ich über die Ungerechtigkeit der Welt und die der Gruppen, jeder wisse ja wohl, wen ich damit meine, die das ganze Finanzsystem steuerten und damit Elend über alle rechtschaffenen Leute brächten. Ich dachte schon, ich hätte etwas zu dick aufgetragen - der Wirt schaute mich ganz verwundert an - als der Militärische auf mich zugeschritten kam. Er versuchte mich zu beruhigen, was ich zu Anfang nicht zuließ. Er blieb aber hartnäckig, und schon bald fing er mit seinem Anwerbungsgespräch an. Kurz gesagt, schon am nächsten Tag wurde ich der Ortsgruppe vorgestellt, durchlief am folgenden Wochenende einen Eignungstest, der meine sportliche und moralische Eignung prüfen sollte. Da ich erstaunlich gut abschnitt, wurde ich unter großem Tamtam feierlich aufgenommen und musste einen Treueeid ablegen. So wurde ich Woche um Woche weiter nach oben empfohlen, da meine Eignung für den militärischen Arm der Organisation nicht zu übersehen war. Schließlich wurde ich Mitglied einer mobilen Einheit mit dem heroischen Namen Odin Force. In dieser Gruppe, die mit allen Arten moderner, beweglicher Waffen ausgestattet war, besuchte ich weitere Fortbildungskurse. In abgelegenen Gegenden wurde trainiert, die Wälder im nördlichen Territorium des New York State waren nun mein neues Zuhause. An den abendlichen Lagerfeuern wurde