Marvin Roth

Hanky und der Mächtige


Скачать книгу

Wanderer hatte er nicht bemerkt, dass direkt neben ihm der FBI-Agent lag, nur einen halben Meter nach vorn versetzt. Zudem hielt er mit beiden Händen sein Gewehr. Unvermittelt traf ihn ein mörderischer Schlag auf den Hinterkopf, der ihm sofort das Bewusstsein raubte. Der Agent zog den schlaff gewordenen Körper vorsichtig tiefer in die Büsche, immer darauf gefasst, dass sein Gegner zum Gegenangriff ansetzen würde. Doch als er die heftig blutende Kopfwunde und den eingedrückten Hinterkopf seines Widersachers sah, erkannte er, dass dieser niemals mehr in der Lage sein würde, einem anderen Menschen Schaden zuzufügen.

      Nach einigen Minuten passierten die Wanderer die Buschgruppe, ohne etwas zu bemerken, und verschwanden kurz darauf im Wald. Ihre Stimmen wurden immer leiser und waren schon bald nicht mehr zu hören.

      Der FBI-Agent richtete sich auf und entwaffnete seinen Gegner. Dabei bemerkte er, dass der Mann nicht mehr atmete. Schnell durchsuchte er den Toten, fand aber keinen Hinweis auf dessen Identität. Er steckte sich ein langes Messer in die Jacke und eine SIG SAUER P220, eine der zielsichersten 45er- Pistolen, die auf dem Markt erhältlich waren. Dazu fand er noch einige Ersatzmagazine, die er ebenfalls in einer seiner Jackentaschen verstaute. Danach nahm er dem Mann noch das Funksprechgerät samt Headset ab, befestigte es an seinem Gürtel und den kleinen Lautsprecher an seinem Ohr. So hoffte er zu erfahren, was seine Gegner planten. Endlich deckte er die Leiche samt Gewehr mit Laub und Ästen zu, sodass sie, verborgen unter den Büschen, auf den ersten Blick nicht zu sehen war. Als er alles zu seiner Zufriedenheit erledigt hatte, marschierte er in die Richtung, aus der die Wanderer gekommen waren. Er hoffte darauf, einen Waldparkplatz zu finden, und auf eine Gelegenheit, aus der Gegend zu verschwinden.

      Kapitel 3

      Der Saal

      Sie erwachte mit fürchterlichen Kopfschmerzen. Noch nie hatte sie so grauenhafte Schmerzen erlebt. Sie versuchte sich im Bett umzudrehen, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht. Vorsichtig öffnete sie die Augen, um sie sogleich geblendet wieder zu schließen. Die Schmerzen schienen sich noch zu steigern, aber sie versuchte es erneut. Ihre gepeinigten Sehnerven leiteten nur das Bild einiger Neonröhren an das Gehirn weiter, die an einer unverputzten Betondecke befestigt waren. Vor Schmerz und Erschöpfung schloss sie die Augen. Bunte Kreise flimmerten vor den Pupillen, und Übelkeit breitete sich in ihr aus. Eine Frage, die entscheidende Frage formulierte sich in ihrem Geist: Wo war sie? Auch nach längerem Überlegen fand sie keine befriedigende Antwort. Das Letzte, an das sie sich erinnerte, war, dass sie sich auf dem Nachhauseweg befunden hatte. So wie an jedem Wochentag. Erst mit dem Bus bis in die Vorstadt und dann zu Fuß eine weitere halbe Stunde durch ihr Viertel. Alles war wie immer gewesen, oder etwa nicht? Hatte sie einen Unfall erlitten und war nun in einem Krankenhaus? Nein, das konnte nicht sein. Ein Krankenhaus mit einer rohen Betondecke gab es nicht in ihrer Gegend, und sie bezweifelte, dass es ein solches Krankenhaus überhaupt irgendwo in Mexico gab. War das überhaupt ihre Heimatstadt Juarez? Hier in dieser Millionenstadt, am Rio Grande gelegen und damit direkt an der Grenze zu den USA, hatte sie ihr ganzes Leben verbracht. Oft hatte sie an der Grenze gestanden und hinüber nach El Paso geschaut, wo sie doch so gern leben würde.

      Eine weitere Schmerzwelle unterbrach ihre abschweifenden Gedanken. Farbige Nebel schienen ihren ganzen Gesichtskreis auszufüllen. In ihrem Schädel tobte ein Sturm der Qual, als würden Tausende Nadeln zugleich auf sie einstechen. Nach einer Weile - sie konnte nicht einschätzen, wie lang die Pein dauerte - ebbten die Schmerzen wieder ab. Sie begann erneut nachzudenken. Wenn das kein Krankenhaus war, was dann?

      Auf einmal erinnerte sie sich an die vielen vermissten Frauen. Seit vielen Jahren verschwanden beinahe täglich Frauen und Mädchen aus ihrer Stadt spurlos, und niemand schien sich darum zu kümmern. Waren es Tausende oder gar schon Zehntausende, die verschwunden waren? Sie konnte sich nicht daran erinnern. War sie einfach nur ein weiteres Opfer? Anfangs hatten die Medien noch darüber spekuliert, dass die Polizei in die Entführungen involviert sei, doch das konnte nie bewiesen werden. Befand sie sich in den Händen dieser unbekannten Entführer? Was wollten diese Leute von ihr? Weshalb hatte sie solche Schmerzen? Was stellte man mit ihr an? Panik drohte ihr Bewusstsein davonzuschwemmen. Mühsam öffnete sie erneut die Augen. Wieder sah sie nur die Deckenlampen. Sie versuchte noch einmal, sich zur Seite zu drehen, aber auch dieser Versuch scheiterte. Alles, was sie bewegen konnte, waren ihre Augen. Angestrengt schielte sie nach links und konnte aus den Augenwinkeln unscharf eine Art Krankenbett ausmachen. Darauf lag eine nackte Frau. Aus ihrer Stirn führten mehrere Kabel und Schläuche zu einem Kasten. Einige kleine Lichter blinkten an seiner Vorderseite. Erschrocken schloss sie die Augen wieder. Was war das nur? War dies doch ein Krankenhaus? Es war also zumindest eine weitere Person in diesem Raum. Oder waren es noch mehr? Sie öffnete die Augen und rollte ihre Pupillen zur anderen Seite. Hier bot sich das gleiche Bild. Auch dort lag eine Frau nackt auf einem Bett, und auch aus ihrer Stirn ragten Kabel und Schläuche und verschwanden in einem Kasten. Sie schaute zu den Lampen an der Decke. Soweit sie sehen konnte, zogen sie sich in langen Reihen an der Decke entlang. Der Raum musste riesig sein. Voller Angst ließ sie ihre Augen nach oben wandern, um herauszufinden, ob auch aus ihrem eigenen Kopf Kabel und Schläuche ragten. Doch noch ehe sie etwas erkennen konnte, kam der Schmerz zurück, so heftig diesmal, dass sie in eine erlösende Ohnmacht versank.

      ***

      New York City (einige Tage später)

      Hanky hatte schlecht geschlafen. Albträume hatten ihn in dieser Nacht heimgesucht, mit wilden Verfolgungsjagden, Monstern und lachenden Mördern. Verdrossen setzte er sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Er wusste nicht, was ihm so zu schaffen machte. Irgendwas bahnte sich an, dass spürte er ganz deutlich. Besorgt griff er zum Telefon, das auf seinem Nachttisch stand, und wählte die Nummer seines Großvaters. Zwar wusste er, dass es noch früh war, doch er wusste auch, dass sein Großvater meist früh auf den alten Beinen war. Es hatte kaum dreimal geklingelt, als eine müde, aber dennoch unendlich vertraute Stimme aus dem Hörer drang. »Hallo, wer ist da? Hier spricht Ray Berson. Hallo ...«

      »Guten Morgen, Großvater, hier ist Hanky. Habe ich dich etwa geweckt?«

      Hanky versuchte fröhlich zu klingen, damit der alte Ray sich keine Sorgen machte, aber da hatte er seinen Großvater unterschätzt.

      »Was ist los, Hanky? Stimmt was nicht? Du rufst doch sonst nicht so früh an.«

      »Nein, nein, Großvater, alles in Ordnung. Ich wollte einfach nur mal deine Stimme hören. Ich vermisse dich halt. Willst du nicht für ein paar Tage nach New York kommen? Wir könnten ein paar Museen besuchen oder in ein Musical gehen. Einfach Zeit miteinander verbringen.«

      »Nein, Hanky, lass mich mal, wo ich bin. Der eine Besuch bei dir hat mir fürs Erste gereicht. So viele Leute und so wenig Natur vertrage ich nicht so gut. Es genügt schon, dass du mir dieses Höllending aufgeschwatzt hast.« (Damit meinte er das Telefon. Hanky hatte nicht lockergelassen, bis der alte Ray schließlich zugestimmt hatte. Hanky hatte sogleich ein Handy gekauft und seinen Großvater eindringlich gebeten, das Gerät jeden Abend auf die Ladestation zu stellen, um sicherzugehen, dass sein Großvater in jeder Situation Hilfe herbeirufen konnte. Schließlich war der alte Ray ja nicht mehr der Jüngste.)

      Sie unterhielten sich noch eine Weile, wobei Ray herauszufinden versuchte, was seinen Enkel so beunruhigt hatte. Hanky wiegelte ab und war zugleich beruhigt, dass es seinem Großvater ganz gut ging. Dann beendete er das Telefonat mit der Zusicherung, sich bald wieder zu melden.

      Er legte das Telefon auf die Station und begab sich ins Bad. Was hatte seine Unruhe ausgelöst, fragte er sich. Jeden Tag passierten schreckliche Dinge, doch solange sich Hanky nicht bewusst damit befasste, schlug sein Unterbewusstsein auch keinen Alarm. Doch hier war es anders. Immer noch fühlte Hanky ein gewisses Unbehagen, als ob etwas sehr Schlimmes auf ihn zukäme. Jemand steckte in einer bösen Klemme und dachte an ihn. Das war die einzige, sehr nebelhafte Erklärung, die Hanky zu seiner Vorahnung einfiel.

      Als er einige Minuten später in die Küche kam, schlug ihm der angenehme Duft frisch gekochten Kaffees entgegen. Walt stand hinter dem Küchentresen, pfiff ein fröhliches Lied und bereitete das Frühstück vor. Als er Hanky bemerkte, unterbrach er sein Tun und fragte lächelnd: »Na, alter Junge, gut geschlafen?«

      »Nein, Walt, eher nicht. Mich haben beunruhigende Träume