Marvin Roth

Hanky und der Mächtige


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er sich eine Scheibe Schinken in den Mund stopfte. Die nächsten Worte konnte Hanky nicht verstehen, ließ Walt aber in dem Glauben, dass er seinem Monolog folgen würde. Müde setzte er sich an den Küchentisch und schaute blicklos aus dem Fenster. Etwas lauter und vor allem deutlicher, so eine Scheibe Schinken konnte sich schon sehr negativ auf die Kommunikation auswirken, sagte Walt: »Sag mal, interessiert es dich denn nicht brennend, was in dem Brief von Roger steht?«

      »Was für ein Brief?«, wunderte sich Hanky.

      »Ja, von was rede ich denn eigentlich die ganze Zeit? Heute Morgen war ein Brief von diesem FBI-Mann in der Post, Roger Thorn, und ich hab dich gerade gefragt, ob du nicht mal nachschauen willst, was er denn will.«

      »Entschuldige, ich bin noch nicht ganz wach. Wo ist denn der Brief?«

      Walt legte die Stirn in Falten, ersparte sich aber jeglichen Kommentar. Er kam um den Tresen herum, verschwand kurz im Flur und kam gleich mit einem zerknitterten Umschlag zurück. Diesen legte er vor Hanky auf den Tisch und kehrte zur Küchenzeile zurück. Gespannt verfolgte er von dort aus, wie Hanky den Umschlag von allen Seiten betrachtete und schließlich aufriss.

      ***

      Der Saal

      Die ganzen Tage hatte sie - wann immer die Kopfschmerzen erträglich waren - ihre Umgebung im Auge zu behalten versucht. Ihr Name war Carmen Galinda, doch daran konnte sie sich nicht erinnern. Sie konnte sich an nichts erinnern, nur an den Schmerz, den fürchterlichen Schmerz, der in ihrem Kopf wütete wie ein wildes Tier. Suchend glitten ihre Augen hin und her und blieben an der Frau zu ihrer Rechten hängen. Über ihrem Kopf war jetzt ein Bildschirm positioniert. Carmen konnte nicht erkennen, was darauf zu sehen war. Nur einen rötlichen Schimmer auf der Haut der Frau sah sie und ihr gequältes, schmerzverzerrtes Gesicht.

      Zwei Männer in grünen Krankenhauskitteln traten in ihr Blickfeld, einen glänzenden Wagen aus Aluminium vor sich herschiebend. Am Bett der Frau hielten sie an. Einer von ihnen beugte sich über sie und begutachtete die Schläuche, die aus ihrer Stirn ragten. Offenbar zufrieden, richtete er sich wieder auf und grinste. Fast fröhlich wandte er sich an seinen Kollegen: »Mit der werden wir eine gute Ausbeute erzielen. Ihre Panik begünstigt den Ausstoß des Serums. Der Chef wird zufrieden sein.«

      Der andere nickte nur und deutete mit dem Kinn in Carmens Richtung. Ein hämisches Grinsen breitete sich auf seinen Lippen aus. »Ja, wird er wohl. Morgen kümmern wir uns um die Schönheit da drüben.« Er starrte Carmen unverwandt an und ließ seine begierigen Blicke über ihren Körper schweifen. Sein Partner bemerkte den Blick und die Gier darin und warf rasch ein: »Tu ja nichts Unüberlegtes. Der Boss wird sauer, wenn sich jemanden an den Spendern zu schaffen macht.«

      Der Angesprochene grinste breit. »Nun mach dir mal bloß nicht ins Hemd«, brummte er abfällig. »Man wird ja wohl noch schauen dürfen. Außerdem, was macht es am Ende für einen Unterschied? Wenn die Ziegen keine Milch mehr geben, werden sie sowieso entsorgt. Du weißt, was ich meine!« Verschwörerisch zwinkerte er seinem Kollegen zu. Die beiden hantierten noch eine Weile an den Geräten herum, die auf einem Tisch hinter der Frau standen, und verließen dann Carmens Sichtfeld. Noch einige Zeit hörte sie die Männer, bis schließlich das Klacken einer Tür verriet, dass sie den Raum verlassen hatten.

      Carmen versuchte die Worte einzuordnen. Spender? Was bedeutete das? War sie ein Spender? Für was? Sie wollte kein Spender sein. Sie wollte ihr Leben leben, auch wenn es nur ein einfaches, bescheidenes war. Angst breitete sich in ihr aus. Das Wort “Entsorgung” flößte ihr noch mehr Furcht ein. Sie fing an zu zittern, Schweiß brach aus allen Poren ihres Körpers. Nein, nein, nein! Sie wollte nicht entsorgt werden, sie wollte hier heraus. Sie musste fliehen. Adrenalin, ungeheuer konzentriert, verlieh ihrem Körper eine Kraft, die sie selbst nie für möglich gehalten hätte. Verzweiflung kämpfte gegen Chemie und bewirkte Unvorhergesehenes. Die Chemikalie, verantwortlich für die Lähmung ihres Körpers, wurde absorbiert. Carmen spürte sich selbst wieder, wenngleich brennende Schmerzen ihre Muskulatur peinigten. Mühsam hob sie den Arm und tastete über ihre Stirn. Doch da war nichts. Keine Kabel, keine Schläuche. Erleichtert atmete sie auf. »Morgen kümmern wir uns um die Schönheit da drüben«, hallte es in ihrer Erinnerung wider. Morgen würden diese Männer Schläuche in ihren Kopf stecken. Morgen würde sie verloren sein. Sie musste handeln, aus diesem Saal des Grauens fliehen, hinaus in die Freiheit, zurück ins Leben, nach Hause.

      Unter unsäglichen Mühen richtete sie sich auf und hielt auf der Bettkante sitzend inne. Sie schwankte leicht, Übelkeit stieg in ihr auf. Hastig atmend, mit offenem Mund, saugte sie ihre Lungen voll Sauerstoff und konzentrierte sich darauf, den Brechreiz zu unterdrücken. Nach einigen Minuten stand sie auf, hielt sich noch mit einer Hand am Bettgestell fest, ehe sie einige unsichere, mit steigender Zuversicht immer sicherere Schritte wagte. Der Fußboden war kalt, was ihr half, sich der Realität ihrer Situation zu stellen. Kalte Füße signalisierten, dass sie immer noch unter den Lebenden weilte und dies hier keinesfalls ein Alptraum war. Suchend blickte sie sich nach einem Ausgang um. Absichtlich ließ sie den Blick an den unzähligen Betten mit den Menschen darin vorübergleiten, sah nicht genauer hin. Erst einmal musste sie sich in Sicherheit bringen, dann konnte sie versuchen, den Elenden hier zu helfen. Endlich erblickte sie eine Tür, gute fünfzig Meter entfernt. Sofort eilte sie dem Ausgang zu - sie hoffte, dass es ein Ausgang war. Es war wie ein Lauf durch die Hölle, vorbei an all den bemitleidenswerten Gestalten, die nackt und gepeinigt in den Betten lagen. Carmen hielt den Blick nach unten gerichtet, konzentrierte sich nur darauf, die Tür zu erreichen. Augenblicke später umfasste ihre Hand die Türklinke. Sie atmete einige Male tief durch, um ihren jagenden Puls zu beruhigen. Dann lauschte sie. Wo waren die Männer geblieben, die sie vorher beobachtet hatte? Waren sie dort draußen hinter der Tür? Doch so sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte keinen Laut vernehmen. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt weit und spähte hinaus.

      Vor ihr lag ein dunkler Flur, Schatten deuteten Türöffnungen an. Alles war ruhig. Carmen schlüpfte in den Gang und schloss behutsam den Eingang zum Saal. Erstaunt stellte sie fest, dass es hier muffig roch, nach altem, nassem Gemäuer, nicht, wie sie erwartet hatte, steril wie in einem Krankenhaus. Darauf bedacht, die Füße so geräuschlos wie möglich aufzusetzen, schlich sie zum Ende des Gangs und zu einem sich anschließenden Treppenhaus. Sie entschied sich, den Weg nach unten zu nehmen.

      Zwei Etagen tiefer fand sie endlich den ersehnten Ausgang. Durch ein kleines, in die Tür eingelassenes Fenster konnte sie auf den Hof eines Fabrikgeländes hinausschauen. So vermutete sie zumindest, da sich alte, aus Backstein errichtete Lagerschuppen an größere Gebäude schmiegten, und weiter hinten konnte sie schemenhaft einen hohen Schornstein erkennen. Draußen war Nacht, und dichter Nebel hüllte die Szenerie ein. Eisig lief ein Frösteln über ihre Haut, und sie wurde sich ihrer Nacktheit bewusst. Doch Kleidung zu finden, war im Moment von untergeordneter Bedeutung. Erst einmal musste sie von hier verschwinden.

      Wie ein Phantom huschte sie nach draußen und verschwand im nächsten Schatten. Sie lauschte erneut auf verdächtige Geräusche, doch das ganze Gelände lag verlassen da. Nichts deutete darauf hin, was sich hinter diesen Mauern abspielte. Carmen tastete sich von Schuppen zu Schuppen, bis sie vor einem maroden Maschendrahtzaun stand. Zum Glück war er an vielen Stellen löchrig, zum Teil lag er ganz am Boden. Mit großer Vorsicht, da ihre Füße ungeschützt waren, stieg sie über die Überreste des Zauns, um dann über eine angrenzende Wiese zu einem Maisfeld zu laufen. Zwischen den mannshohen Stauden tauchte sie unter und verschwand.

      Kapitel 4

      Philadelphia

      Roger Thorn war verdreckt und lag, nahe der Interstate - in diesem Teil der Stadt Lincoln Highway genannt -, unter einer Brücke. Mitten im Straßengewirr hatte die Stadt freundlicherweise jede Menge Bäume gepflanzt, die in all dem Beton eine grüne Insel bildeten. Diese Grünzone, fast ein kleiner Park, wurde von der Vine Street, der Interstate 676 und weiteren Straßen begrenzt. Dies war ein beliebter Platz für Obdachlose, Tramps und Leuten, die eine Weile von der Bildfläche verschwinden wollten. Genau das beabsichtigte auch Roger. Seine Verfolger mussten seine Spur längst verloren haben, und er hoffte, dass dem Hippiepärchen nichts zugestoßen war. Nie hätte er geglaubt, diesen Tag zu überleben. Doch umso besser. Auf seinem W;g aus den Wäldern