J.C. Caissen

Eisblumen im Blaubeerwald


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Nach drei Sekunden ist alles vorbei. „Die hat noch nicht einmal gekaut“ beklagt sich Corinna. Und weil das Schauspiel so interessant ist, werden dann noch weitere vier Heringe geopfert. Das ist ihnen dieses Naturerlebnis wert. Corinna studiert die neu entdeckte Möwenhierarchie. „Sieh mal, Dennis, hier vorn die Möwen sind wohl die, die den Ton angeben. Die anderen, weiter hinten, sitzen nur und schaukeln auf den Wellen. Die sind noch nicht einmal aufgeflogen, als ich wieder einen Hering geworfen habe.“ „Ja, ich weiß nicht, ob das etwas mit Hierarchie zu tun hat. Ich glaube, die erkennen nur einfach, daß sie diesmal keine Chance gegen die Konkurrenz haben, oder sie sind einfach nur satt. Beim nächsten mal sind die vielleicht wieder ganz vorn dabei.“ In Deutschland hat sich Corinna nie Gedanken darüber gemacht, wenn sie mal am Rhein ein paar Möwen gesehen hat. Wie sich doch plötzlich alles ändern kann. Auch hat sie gern in der Stadt gelebt, mit all den Geschäften und dem bunten Treiben. Jetzt, hier draußen in der unberührten Natur, würde sie am liebsten für immer mit André auf einem Hausboot leben und von einer Inseln zur nächsten fahren. „So, einpacken und weiter geht's, für heute haben wir genug Fisch, alles andere wäre Raubfischung“ André wickelt seine Angelschnur mit den Haken wieder auf die Papprolle. „Wäre was?“ Dennis sieht André fragend an. Andrés Deutsch ist ausreichend gut, so daß jeder weiß, was er sagen will, aber es kommen doch immer wieder Ausdrücke hinein, die er direkt vom Schwedischen ins Deutsche zu übertragen versucht, was nicht immer glückt. Ganz lustig eigentlich. „Na ja, wie heißt denn das auf Deutsch, wenn man mehr Fisch fängt, als man eigentlich zum Leben benötigt. Auf Schwedisch heißt das 'rovfiske'“ „Ja, vielleicht Überfischung oder räuberisches Fischen oder so etwas ähnliches. Wir wissen jedenfalls, was du meinst“. Corinna hält Dennis den Angelkasten hin, der schaut immer noch in Gedanken ins Leere, seine Lippen bewegen sich. „Hier, räum deine Sachen da hinein und stell den Kasten wieder in den Schrank.“ Corinna deckt den Eimer mit den Fischen gut ab und stellt ihn wieder unter die Spüle. Dort steht er gut während der weiteren Fahrt. André geht zur Ankerleine, beginnt mit kräftigen Zügen den Anker hochzuziehen, schaukelt ihn noch einmal hin und her im Wasser, um den Bodenschlamm abzuspülen, und verstaut dann Anker mitsamt Ankerleine im Ankerkasten. Jetzt schwingt er sich wieder auf den Fahrersitz und läßt den Motor an. Alle sitzen wieder auf ihren Plätzen und André steuert das Boot langsam durch die Passage. Wieder liegen rechts und links proper unterhaltene Sommerhäuser, manche könnte man sogar als Sommerresidenzen bezeichnen, so groß und feudal sind sie dort in die Natur eingebettet. Markisen sind an den Fenstern angebracht, weiter unten am Wasser, beim eigenen Bootssteg, gibt es noch ein schmuckes, kleineres Strandhaus, in dem wahrscheinlich Schwimmwesten und anderes Bootzubehör aufbewahrt wird, vielleicht sogar Wasserskier oder ein Wakeboard. Am Anleger liegt eine strahlend weiße, nicht gerade kleine Motoryacht vertäut. Draußen auf dem geräumigen Sonnendeck, das aufs Wasser hinaus gebaut ist, stehen an einer Seite Sonnenliegen mit hellen Auflagen, die zur Sonne gerichtet sind, auf der anderen Seite, in gemütlichen weißen Korbsesseln, sitzen vier Leute in luftiger, bunter Sommerkleidung, beim Kaffee. Aus einer Laune heraus winkt Dennis plötzlich hinüber zu ihnen, und die zwei Frauen winken spontan zurück. Nett. Weiter vor ihnen, hinter einem der nächsten Felswände hervor, kommt eine kleinere Segelyacht aus einem Seitenarm. Segelboote mit gehisstem Segel haben Vorfahrt. Lautlos zieht sie vor ihrem Bug dahin, mit leicht geblähtem Segel. Auf den Sitzbänken neben dem Ruder, hinter dem der Skipper steht, sitzen eine Frau und zwei kleine Kinder, alle in Segler-Schwimmwesten gekleidet. Ja, hier hat man Respekt vor dem Wasser. Im Schlepptau führen sie eine kleine Jolle mit. André hebt die Hand zum Gruß und der Skipper grüßt freundlich nickend zurück.

      Nach der nächsten Biegung gibt André dann wieder Gas und im herrlich sommerlichen Fahrwind hebt sich der Bug des Bootes erst wieder aus dem Wasser, um dann langsam wieder abzusinken. Fast auf dem Wasser schwebend rauscht es dahin. Corinnas Haare wehen im Wind. Sie schließt die Augen und atmet tief ein. Das ist Leben. Sie öffnet die Augen wieder, denn sie will ja nichts von dem verpassen, was hier rundherum geboten wird. Die Landschaft ist einfach faszinierend schön, diese weichen graubraunen Felsen, dann wieder schroffe Klippen, Birkenhaine, Gruppen von Krüppelkiefern, dann wieder einzelne, hoch hinausragende Kiefern. Bemooste Felsen, brauner Waldboden. Sie fahren vorbei an einem Felsen, von dem lachende und kreischende Kinder hinter- und nebeneinander Anlauf nehmen und im hohen Bogen ins spritzende Wasser springen und dort herumplantschen. André winkt und alle Kinder juchzen und winken zurück. 'Das ist Sommer. Was für eine schöne Kindheit die doch haben', denkt Corinna.

      Wieder erreichen sie eine Stelle, ab der sie nur sieben Knoten fahren dürfen, und André drosselt den Motor. Ruhig und leise gleitet das Boot dahin. Corinna sieht seitlich voraus neben dem Boot eine ganze Entenfamilie kopfüber eintauchen und verschwinden. „Sieh mal, das sind doch keine gewöhnlichen Enten. So welche habe ich ja noch nie gesehen?“ fragt sie André und der hat natürlich die richtige Antwort . „Det är Ejdrar. Äh, das sind Eiderenten. Meine Lieblingsvögel hier draußen. Die Weibchen sind braun, die Männchen schwarz weiß mit einem grünen Fleck an den Bäckchen, und vorn auf der Brust sind sie rosa. Und sie schnattern auch nicht, 'gagagagack', sondern sie machen eher 'gockockock', und wenn Gefahr aus der Luft droht, rufen sie laut mit zum Himmel gestrecktem Hals 'ruuuhhh, ruuuuhhhh'. Die leben nur hier draußen in der Ostsee. Im Süßwasser gefällt es ihnen nicht.“ Dennis hört wieder aufmerksam mit glasigem Blick zu. Plötzlich hört Corinna ein immer lauter werdendes, singendes 'Wuiwuiwuiwuiwuiwui'. Sie dreht sich nach dem Geräusch um und ruft „Sieh mal Dennis, was da angeflogen kommt.“ Erst hinter ihrem Boot, dann neben ihnen und schließlich vorbei an ihnen und in schnellem Flug voraus rauschen sieben Höckerschwäne an ihnen vorbei, entfernen sich schnell und fliegen im sanften Bogen nach links weg über der Wasseroberfläche, erheben sich dann über die Baumwipfel hinweg und sind dann dahinter verschwunden. Corinna ist völlig ergriffen. Dieses Geräusch der Flügel ist für sie wie Musik und sie wird es fortan immer als etwas Besonderes lieben. Was sie hier innerhalb von nur wenigen Stunden zu sehen bekommt, hat sie in Deutschland nicht in mehreren Monaten zu Gesicht bekommen. Sie ist so dankbar. „Das ist einfach wunderschön, André“. Der lächelt nur „Du wirst noch viel mehr von unserer schönen Natur sehen, warte es ab.“ Nach einer weiteren Stunde Fahrt sind sie in der Bucht und an der Insel angekommen, die André für ihr Wochenende ausgewählt hat. Er hatte ihr vorher auf der Seekarte gezeigt, wohin sie fahren würden und ihr erklärt, an welcher Seite der Insel er mit dem Boot anlegen würde. „Ist das nicht egal? Und muss man überhaupt anlegen? Liegt man nicht einfach im Wasser vor Anker?“ hatte sie gefragt, und geduldig hatte er ihr erklärt, daß das Wasser nie völlig ruhig sei, vor allem dann nicht, wenn andere Boote vorbeiführen, so daß einem eher mulmig im Magen würde und Kaffeekochen schon mal flachfallen würde. Nein man höre sich immer den aktuellen Seewetterbericht im Radio an, was zum allabendlichen Prozedere im Boot gehöre. Danach entscheide man, abhängig von der Windstärke und der Windrichtung, an welcher Seite einer Insel man in absoluter Windstille liegen könne.

      André steuert das Boot auf eine Bucht zu, die in völliger Windstille liegt, was natürlich am anderen Tag schon wieder ganz anders aussehen kann. Ungefähr fünfzehn Meter vom Land entfernt, läßt er ruhig den Anker ins Wasser gleiten. Corinna bittet er vorher, ausgestattet mit zwei losen Verankerungsleinen, auf das Vordeck zu gehen, dort rechts und links die Leinen in den Pollern zu vertäuen und dann vom Deck an Land zu springen, wenn das Boot nahe genug herangefahren war. An Land sollte sie dann die Leinen so lange halten, bis André den Anker provisorisch gestreckt hatte. Das klappt schon mal prima. André kommt mit Dennis an Land. Er hält einen Leinenbeutel in der Hand, aus dem er Bergkeile und einen Hammer holt. Jetzt werden zwei Keile im dreieckigen Winkel zum Boot in Felsspalten geschlagen und an deren Ringen die beiden Leinen befestigt. Angezogen und mit einem Palstekknoten gesichert, halten die Leinen, zusammen mit der Ankerleine das Boot gerade und am Platz. Corinna lernt schnell: Die Leine durch den Ring, linkes Ende zu einer Schleife legen, dann kommt das Krokodil von unten aus dem Wasser, geht durch die Schleife, dann um den Baum herum und wieder rein durch die Schleife ins Wasser, perfekt. Diese Eselsbrücke wird sie nicht vergessen. Das Wichtigste bei diesem Knoten ist, daß auf der Leine ruhig Spannung liegen darf, was bei plötzlich aufkommenden Wind der Fall sein kann, man bekommt ihn immer wieder los, was bei anderen Knoten oft nicht möglich ist. André geht wieder an Bord und zieht den Anker stramm, so daß das Boot nun wirklich gerade und völlig ruhig liegt.

      „Willkommen auf unserer Wochenendinsel“. Freudestrahlend