J.C. Caissen

Eisblumen im Blaubeerwald


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hat am Vortag schnell noch mit einem Freund gesprochen. Der hat eine Spedition und transportiert jede Woche Produkte vom Zentrallager von Andrés Firma, das sich in der Nähe von Frankfurt befindet, nach Stockholm zur Niederlassung. Er sieht eine Möglichkeit, Corinnas wenige Möbel und Kartons zu einem geringen Preis einem solchen Transport beizuladen. Die Sachen müssen nur rechtzeitig am Abhollager bereitstehen. Corinnas Freundin Alice hat sich gottseidank sofort angeboten, das ganze Hab und Gut in Kartons zu verpacken, was sie einige Tage und einige Hin- und Herfahrten gekostet hat. Sie wohnt schließlich nicht gerade um die Ecke, sondern in einer entfernten Stadt. Ein Anruf bei ihr am Vortage brachte die freudige Überraschung, daß Alice bereits mit allem fertig war. Corinna war ihr unheimlich dankbar dafür. Und so stehen Möbel und Kartons abholbereit in Corinnas Wohnung, für die sie noch bis zum Monatsende Miete bezahlte hat.

      Nun fahren André und Corinna mit einem kleinen Lastwagen vom Hof eines Autoverleihs, hinüber zu Corinnas Wohnung, lasten alles ein, um dann zweihundert Kilometer zum Abhollager zu fahren, wobei sie gut hundert Kilometer davon in dickstem Schneesturm voran kriechen. Die Uhr tickt, das Lager schließt die Tore in einer Stunde. Sie müssen es einfach schaffen, dann den Transporter wieder zurückbringen, schnell wieder die lange Fahrt nach Schweden und am nächsten Tag direkt wieder zur Arbeit. Sie kommen rechtzeitig auf den Hof und können die Ladung einlagern. Die passende Tour nach Schweden steht noch nicht fest. Das kann dauern. Man muß eine Lieferung abwarten, die nicht den ganzen Lastwagen in Anspruch nimmt, so daß noch Platz ist für Corinnas Möbel. Es sollte tatsächlich vier Wochen dauern, bis Corinna und André die Fracht dann endlich im Stockholmer Lager abholen konnten. Jetzt fahren sie erst einmal die zweihundert Kilometer zurück, wieder im Schneesturm, währenddessen André dann vor Müdigkeit auf dem Beifahrersitz zusammensackt, aber sogleich wieder hellwach wird, als sie auf den Hof der Autovermietung fahren. Corinna beschwert sich noch im netten Ton bei dem Angestellten. “Irgendwas muß kaputt sein. Immer bei hundertzehn Stundenkilometern leuchtete eine kleine rote Lampe auf. Keine Ahnung, was das sein kann.“ „So so. Gute Frau, diese Lampe hat ihnen nur immer wieder angezeigt, daß sie das Tempolimit für diesen Wagentyp überschritten haben.“ „Ach du liebe Güte, ich hatte keine Ahnung.“ Na ja, sie haben es ja auch eilig gehabt.

      Sie steigen um in Andrés Auto und weiter geht es wieder in Richtung Schweden. Der Wagen ist vollgepackt bis unter das Dach, darunter auch endlich einige Spielsachen, die sie aus Walters Wohnung abholen duften. Walter selbst wollte nicht zu Hause sein, wenn sie kommen, die Sachen zu holen. Allerdings sollten sie auch noch ein verpacktes Fahrrad mitnehmen, ein verspätetes Weihnachtsgeschenk von Walter an Dennis. Darüber wird Dennis sich sicher freuen.

      Die lange Strecke zieht sich. Obwohl sie sich jede Stunde ablösen, werden ihnen die Augen immer schwerer und irgendwann wird es einfach zu gefährlich noch weiterzufahren. Sie müssen unbedingt eine Pause machen. Als sie in Puttgarden als erste in der Autoschlange zur Fähre einparken, lesen sie, daß die nächste Fähre erst in einer Stunde geht. Hinter ihnen füllt sich schnell die Reihe mit Autos, die auf die Fähre wollen. Sie verriegeln die Türen und lehnen sich in die mitgebrachten Kissen zur Mitte hin, mit den Köpfen aneinander, und schlafen sofort erschöpft ein. „Das gibt’s doch nicht. Du, wir haben verschlafen“. Corinna ist mit einem Ruck hellwach. Der Blick auf die Uhr zeigt, daß sie eine viertel Stunde zu lange geschlafen haben. Vor ihnen die Fähre ist weg, hinter ihnen steht nicht ein einziges Auto mehr. Alle sind schön artig an ihnen vorbeigefahren. Nicht einer hat gehupt oder sie aufmerksam gemacht. Überhaupt nicht nett.

      Mit der nächsten Fähre kommen sie weiter. Während der Überfahrt können sie noch einmal kurz einnicken, und auf der Fähre von Dänemark nach Schweden dann auch noch einmal. Diese kurzen Ruhepausen ersetzen natürlich nicht den gesunden Tiefschlaf. Als sie schon eine Weile durch Schweden fahren, geht die Sonne auf und das Weiterfahren im Hellen wird etwas einfacher. Gegen Mittag erreichen sie wieder ihr Zuhause, nach der Schule nachmittags holen sie Dennis ab. „Nochmals vielen Dank“. „Ist doch kein Problem“. Nur schnell wieder heim und dann ab ins Bett. Dennis ist glücklich über das Fahrrad und über seine anderen Spielsachen und endlich, endlich hat er jetzt auch wieder seine heißgeliebten Bücher. Er verschwindet in sein Zimmer, und André und Corinna fallen erst mal in tiefen Schlaf. Erst zum Abendessen sitzen sie dann wieder gemeinsam im Eßzimmer bei einer schnellen Fertigpizza, bevor sich alle drei wieder in die Betten verkriechen.

      Alles ist gut gelaufen, obwohl es eine anstrengende Tour war. Es ist schon erstaunlich, wie alle einzelnen Puzzleteilchen so reibungslos ineinander gehakt haben. Die fertigen Papiere, die gepackten Kartons und Möbel, der gekündigte Mietvertrag für die Wohnung, der Möbeltransport, alles hätte ja auch ganz, ganz anders laufen können. Es ist wirklich wichtig und wohltuend, wenn man richtige Freunde hat, und manchmal braucht man einfach auch ein wenig Glück.

      Ein Vierteljahr später findet Corinna einen Brief im Briefkasten. Sie liest die Androhung eines Zahlungsbefehls von einem Versandhaus, wenn nicht innerhalb der angegebenen Frist das auf Rechnung gekaufte Fahrrad bezahlt würde. Sie versucht, Walter telefonisch zu erreichen, der aber meldet sich tagelang nicht. Sie setzt sich sofort hin und verfaßt ein Antwortschreiben, in dem sie erklärt, daß das Fahrrad ein Geschenk von Walter sei, der den Kauf getätigt hätte. Vorsichtshalber bittet sie die Firma, ihr den angeblich von ihr selbst unterschriebenen Kaufvertrag zuzuschicken. Im äußersten Fall, so schreibt sie, stehe das Fahrrad zur Abholung bereit.

      Damit war die Rechtslage eindeutig. Die Firma meldete sich nie wieder.

      8

      „Du, was hältst du davon, wenn wir nächstes Wochenende nach Finnland fahren. Ich würde dir gern mein Elternhaus zeigen.“ „Das ist eine prima Idee. Dann lerne ich ja auch gleich deine Mutter kennen. Wie unterhalte ich mich denn mit ihr. Ich kann doch kein Finnisch?“ „Na, sie spricht doch Schwedisch. Sie kann überhaupt kein Finnisch. Du weißt ja, wir Finnland-Schweden sind eine Minderheit in Finnland, etwa dreihunderttausend von den fünf Millionen Einwohnern in Finnland. Die wohnen an der Küste zum Bottnischen Meerbusen. Das fängt um Vaasa herum an, da bin ich geboren. Dann geht es weiter um Turku herum und auch um Helsinki herum. Dort wird Schwedisch als Muttersprache gesprochen. Einige sprechen zusätzlich noch Finnisch. Es wird zwar in der Schule gelehrt, aber viele wollen es ja gar nicht sprechen. Ich spreche deshalb Finnisch, weil ich finnische Freunde hatte und auch, weil ich in Helsinki gearbeitet habe. Da kommt man nicht ohne Finnisch aus. Aber meine Mutter ist auf dem Land groß geworden, die Eltern waren einfache Bauern. Und sie hat nie Finnisch gelernt. Mein Vater dagegen, der ein Fuhrunternehmen und überwiegend Aufträge von Shell hatte, wäre nicht ohne Finnisch ausgekommen. Der mußte einfach auch Finnisch sprechen.“ „Das ist ja alles interessant. Davon habe ich noch nie etwas gehört.“ „Das rührt von der Zeit her, als Finnland ein Teil von Schweden war. Das war bis 1809. Damals verlor Schweden den Krieg gegen Russland, woraufhin Finnland eine russische Provinz wurde. 1918 dann wurde Finnland selbständig.“ „Danke für die Geschichtsstunde. Na, jedenfalls ist es mir wesentlich lieber, deine Mutter zu treffen, als die alten Russen.“

      André, Corinna und Dennis verbringen das kommende, verlängerte Wochenende in Vaasa bei Andrés Mutter. André ist als Dolmetscher unverzichtbar. Corinnas Schwedisch reicht einfach noch nicht aus, um eine Unterhaltung anzufangen, aber sie und Dennis plappern munter drauf los, André übersetzt und Andrés Mutter ist eine so liebe Frau. Der Besuch ist in keiner Weise beschwerlich. Corinna bietet an, an einem Tag zu kochen, denn die alte Dame ist schon recht wacklig auf den Beinen. Es schmeckt ihr ausgezeichnet, das kann Corinna auch ohne Andrés freundliche Übersetzung verstehen. Und Dennis kichert immer wieder mal über das “Tack, tack“, das Danke, Danke von Andrés Mutter.

      „Ich würde gern an das Grab meines Vaters gehen.“ „Ja klar, können wir machen.“ Sie gehen an der Friedhofsgärtnerei vorbei und wählen eine ganze Tüte mit kleinen Pflanzen aus, die sie einsetzen wollen. Als sie vor dem Grab stehen, kommt Corinna irgendetwas komisch vor, aber sie weiß nicht was. Dennis zieht Corinna am Ärmel. „Guck mal, Mama, das Todesdatum von Andrés Vater.“ Jetzt fällt es ihr auch auf. Es ist das Geburtsdatum von Dennis, derselbe Tag, derselbe Monat, dasselbe Jahr. „Seltsam,André, als ich glücklich meinen neugeborenen Sohn in den Armen hielt, standst du trauernd am Totenbett deines Vaters.“ Sie nimmt André in den Arm und so stehen sie eine Weile.

      Am nächsten