J.C. Caissen

Eisblumen im Blaubeerwald


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will. Die Tatsache, daß sie bereits in sechs verschiedenen deutschen Niederlassungen der Firma gearbeitet hat, ist von großem Vorteil. Firmeninterne Abkürzungen, Strukturen, Hierarchien und Organisationen sind identisch oder zumindest ähnlich, so daß sie sich sehr schnell zurecht findet. Auch für die Firma ist dies natürlich ein Gewinn. Die Einarbeitungszeit verkürzt sich dadurch erheblich.

      Corinnas Aufgabe soll darin bestehen, von internen Abteilungen identifizierte Problemgebiete zu untersuchen, zu analysieren und Lösungsvorschläge zu diskutieren, zu verabschieden und schließlich einzuführen. Eine interessante Aufgabe, findet sie. Und schon bald bekommt sie den ersten Auftrag von ihrer Chefin zugeteilt. Corinna kniet sich sofort hinein in die Aufgabe, es macht ihr richtig Spaß. Ihre bisherigen Tätigkeiten in Deutschland waren von ganz anderer Natur gewesen. Sie hatte Menschen geführt und mit ihnen gemeinsam das Abteilungsziel erreicht. Hier muß sie nun wieder selbst operativ Hand anlegen. Und sie will um jeden Preis eine gute Arbeit abliefern. Nach drei Wochen hat sie eine längere Besprechung mit ihrer Chefin, die sie fragt, wie sie voran kommt. “Ja, das Problem ist gelöst, ich muß nur noch die Dokumentation fertigstellen“, beginnt Corinna sachlich, aber auch ein klein wenig stolz. Ihre Chefin sieht sie fragend an „Wie meinst du das, gelöst?“. “Ich habe den Auftraggeber interviewt, das Problem beschrieben, - man benötigte eine kleinere Datenbank -, die Variablen habe ich aufgenommen, die Datenbank erstellt und zusammen mit der Abteilung getestet. Der Test lief gut, es gab keine negativen Überraschungen, der Auftraggeber ist zufrieden und hat die Arbeit gutgeheißen, so daß ich gestern damit anfangen konnte, die Dokumentation zu schreiben, nämlich wann und wie die Datenbank angewendet werden soll. Das ist der aktuelle Stand“. „Das hört sich ja richtig gut an. Mit welchem Programmierer hast du denn zusammengearbeitet? Wer hat die Datenbank erstellt?“ Corinna begreift die Frage nicht richtig. „Wie meinst du das? Mit niemandem. Die Datenbank habe ich selbst erstellt und zusammen mit dem Auftraggeber getestet“. Corinnas Chefin fängt an zu lachen. „Na, da hast du aber einiges falsch verstanden. Also, hier läuft das so, daß du das Problem analysierst und dann die Lösung vorschlägst. Dann kommt der Programmierer ins Spiel, der das Programm schreibt oder eine Programmänderung vornimmt. Du selbst mußt keine Programmierarbeiten durchführen. Du bist doch gar kein Programmierer, du bist doch der Analytiker.“ Ja, da ist sie mal wieder übereifrig gewesen, hat scheinbar auch nicht richtig zugehört. Und vor allem hätte sie sich die Abend- und Wochenendarbeit ersparen können, an denen sie sich unter Druck gesetzt hat, sich in die relativ einfache Programmiersprache einzulesen. Allerdings hat es ihr auch großen Spaß gemacht, wieder mal Neuland zu betreten. Ihr liegen alle typisch logischen Aufgaben, und Programmiersprache ist pure Logik. Jetzt ist sie ein wenig beschämt, aber auch ein wenig stolz, daß sie in so kurzer Zeit die Lösung bereits eingeführt hat, ganz allein. Was sie nicht weiß und hier wirklich noch lernen muß, ist, daß man in Schweden sehr großen Wert auf Teamwork legt. Die Leistung eines einzelnen, der aus der Gruppe hervorragt, ist hier nicht unbedingt gefragt. Hier trägt jeder in seinem Team dazu bei, daß das Gruppenziel erreicht wird. Jeder trägt dazu auf seine eigene Weise und entsprechend seinen eigenen Fähigkeiten bei. Es gibt immer in einem Team Menschen, die langsamer und andere, die schneller sind, solche die von strahlender Intelligenz sind und solche, die einfach nur das tun, was man von ihnen verlangt. Jeder wird in der Gruppe gleichermaßen benötigt und jeder hat denselben Stellenwert. Ach, das ist ja so eine völlig andere Denkweise als in Deutschland. Daran muß sich Corinna erst gewöhnen.

      In Deutschland kämpfte jeder für sich. Jeder wollte das beste Ergebnis vorweisen, besser sein als die anderen. Die anderen waren Konkurrenten, denen man so wenig wie möglich über die eigenen Gedanken zum Problem und noch viel weniger zu den Lösungen verriet. Jeder wollte den Lob als erster und möglichst allein einstecken.

      Diese andere Denkweise ist nun wohl die größte Herausforderung für Corinna und der größte Unterschied zwischen Corinnas alter und ihrer neuen Heimat. Und dem kann sie sich nicht mal eben in einem Monat anpassen. Corinna wird Monate, sogar Jahre dafür brauchen, sich in kleinen, steten Schritten an diese andere Kultur anzupassen.

      Zunächst einmal aber findet sie es befremdend, wenn sich niemand darüber aufregt, wenn ein Kollege unvorbereitet zu einer Besprechung kommt. Wie kann er mit dem Argument davonkommen, er habe keine Zeit gefunden, sich vorzubereiten. Und wie dreist darf jemand erst sein, der selbst zu einer Besprechung bittet und dann eine halbe Stunde vor Ende der anberaumten Zeit und mitten in einer Diskussion aufsteht mit den Worten “Ich muß jetzt gehen, meine Tochter vom Kinderhort abholen. Ihr macht bitte ohne mich weiter und informiert mich morgen, wie ihr euch geeinigt habt.“ Corinna hat immer in der Person, die eine Besprechung einberuft, eine Autoritätsperson gesehen. Und hier überläßt diese Person einfach so die Verantwortung an die gesamte Gruppe. Und niemand findet etwas Besonderes dabei. Die Besprechung und die Diskussion geht einfach reibungslos weiter. So etwas wäre in Deutschland unvorstellbar. Auch stört es sie anfangs furchtbar, daß während eines kleineren Meetings ein Teilnehmer einen Apfel aus der Tasche zieht und nun beginnt, ihn genüßlich und geräuschvoll zu verspeisen. Ein anderer hat sich die Schuhe ausgezogen und geht nun auf Strümpfen an das Whiteboard, um den Kollegen ein Detail seines Problems zu veranschaulichen. Unmöglich, denkt Corinna, und als dann schließlich auch noch diskutiert wird, ob ein interner Briefkasten am Ende der rechten Flurhälfte oder besser vielleicht doch am Ende der linken Flurhälfte aufgehängt werden soll, steht sie auf, entschuldigt sich mit leicht erregter Stimme und den Worten, sie habe heute noch Wichtigeres zu tun und sie würde dann schon mitbekommen, wie man sich nun entschieden hätte. Alle lächeln, keiner ist beleidigt, keiner kommentiert. Sie verlässt den Raum.

      Es dauert wie gesagt einige Zeit, bis Corinna die typisch deutsche und so offensichtliche Tüchtigkeit ein wenig in den Hintergrund stellt, statt dessen auch mal eine Kaffeetasse nimmt und sich bei einem Kollegen an den Schreibtisch setzt, um zu fragen, wie das Wochenende mit den Kindern war. Etwas, wofür sie in Deutschland meinte, niemals Zeit gehabt zu haben. Und je mehr sie von ihrer steifen Beherrschung ablegt, je offener werden hier die Kollegen. Sie kommen nun auch in ihr Zimmer und fragen nach Rat, wollen schnell mal etwas mit ihr diskutieren. Da erst lernt Corinna, daß nicht ein Mensch alles wissen kann und daß es keine Schande ist, selbst in Meetings an einen anderen Kollegen, der die besseren Sachkenntnisse hat, zu verweisen. Als Manager auf einen Mitarbeiter zu verweisen, empfand Corinna in Deutschland als reinen Autoritätsverlust. Der Chef mußte immer alles beherrschen. So war sie jedenfalls erzogen worden. Und nun ist sie hier auf dem besten Wege, eine totale Rundumerneuerung ihrer Wertvorstellungen zu durchleben. Spannend, bereichernd, aber durchaus nicht immer schmerzfrei.

      André ist ihr eine große Hilfe in diesen kulturellen Dingen. Er weiß, wie die Strukturen funktionieren, wie man hier im Norden erfolgreich und im Team zusammenarbeitet. Und er glättet die Wogen, wenn sich Corinna wieder mal furchtbar aufregt und ihm abends mit dem Erlebten in den Ohren liegt.

      Die kommenden Projekte löst Corinna gemeinsam mit einem Programmierer, was sie als sehr angenehm empfindet. Erstmals hat sie jemanden an ihrer Seite, mit dem sie Fragen erörtern kann und der mit ihr gemeinsam Verantwortung für das Resultat übernimmt. Jeden neuen Arbeitstag geht Corinna nun entspannt und mit Freude an. Der Stress, die Ängste, die sie täglich in Deutschland erlebt hatte, das gibt es hier erst gar nicht. Hier kann sie sich die Ruhe nehmen, die sie für ihre Arbeit braucht. So macht Arbeit wirklich Spaß. Nach wie vor kann sie es kaum fassen, und es fällt ihr immer noch schwer, die Zügel etwas lockerer zu lassen. Und selbst, wenn sie nur ein klein wenig gemütlicher arbeitet, als sie es gewohnt ist, ist sie immer noch ehrgeiziger und schneller als die Kollegen. Und so ist sie als die überaus tüchtige Deutsche beliebt und anerkannt, auch wenn sie sich selbst gar nicht mehr so tüchtig findet, jedenfalls gelassener als früher in Deutschland. Ein klein wenig des schlechten Gewissens nagt da immer noch irgendwo.

      „Heute abend lade ich Euch zu einem besonders leckeren Abendessen ein, mit Vorspeise und allem drum und dran“. Corinna stürmt aufgeregt in die Wohnung. Dennis und André sind bereits daheim. „Ach ja? Hast du etwa eine Gehaltserhöhung bekommen?“ André strahlt sie an. Dennis kommt neugierig aus seinem Zimmer gesprungen. „Viel besser! Mein Vertrag wurde wieder um ein halbes Jahr verlängert, obwohl die Kollegin nächsten Monat aus dem Mutterschutz zurückkommt. Sie wollen mich behalten. Leider kann ich momentan noch keine Festanstellung bekommen. Aber vielleicht später“. „Mach dir keine Sorgen, Liebes,