Tom Bleiring

Schattenwelten


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deine Eltern mit einem falschen Namen vor dem Waisenhaus ausgesetzt haben könnten? Wir konnten nicht sicher sein, und in solch einem speziellen Fall muss man schon zu hundert Prozent richtig liegen. Jeder falsche Schritt gefährdet unsere gesamte Welt, das muss dir klar sein. << >>Unsere Welt, << wiederholte Duncan verächtlich. >>Von der habe ich bisher nichts gehabt. Ich durfte in einem Waisenhaus aufwachsen, nur so zur Erinnerung. Da gab es keine Wärme, kaum was zum Lachen und Einsamkeit, soviel man wollte. Warum hat man mich da nicht früher rausgeholt? << >>Du bist das, was man bei uns als Insider bezeichnet, << erklärte Piper geduldig. >>Und die Fähigkeiten, die einen Insider auszeichnen, entwickeln sich erst zur Volljährigkeit hin. Darum bist du auch sowas wie die Ausnahme von der Regel, denn du scheinst schon jetzt gewisse Eigenschaften nutzen zu können. Für einen jungen Menschen ist es außerdem gefährlich, zu früh in unsere Welt einzutreten. Dir muss bewusst sein, dass nicht alle, die die Fähigkeit haben, die andere Seite zu betreten, dies uneigennützig tun. Es gibt unter diesen Leuten einige, die ihre Kräfte nutzen, um damit Böses zu tun. Und diese sind immer daran interessiert, Verbündete zu gewinnen, um ihr destruktives Tun fortsetzen zu können. Sie entführen sogar Kinder, wenn es sein muss, um diese ganz nach ihren Vorstellungen zu erziehen. Das dabei wenig Gutes entsteht, kannst du dir denken. Und das bringt uns zur Agentur, von der du ja schon gehört hast. Die Agentur funktioniert ein bisschen wie die Nachrichtendienste in der realen Welt. Alle Mitglieder der Agentur sind Insider, und davon gibt es wirklich nicht viele. Sie sorgen dafür, dass unsere Welt verborgen bleibt. Sie wirken nicht nur im Hintergrund, sondern sind aktiv daran beteiligt, unser Geheimnis zu bewahren. Störenfriede, egal von welcher Seite sie kommen, werden von ihnen aufgespürt und in ihre Schranken verwiesen. << >>ich bin also ein sogenannter Insider, <> und dazu ausersehen, einmal für diese Agentur zu arbeiten, um eure Welt zu schützen. << Piper rollte verzweifelt mit den Augen. >>Es ist nicht nur unsere, sondern nun auch deine Welt, begreif das doch. Jetzt, wo du den Blick für alles hast, bist du untrennbar mit der anderen Seite verbunden. In diesem Fall gibt es nur Schwarz oder Weiß, aber keine Grautöne dazwischen. Tut mir Leid, dass so sagen zu müssen, aber es ist nicht so, dass du eine Wahl hättest. Du musst dich damit abfinden. Renegaten kennt unsere Welt nicht, denn so kann es nicht funktionieren. << Duncan starrte ins Leere, als sein Gehirn die Unmenge an Information zu sortieren begann. >>Dann zeig mir die Schattenbreite, << sagte er schließlich und blickte Piper dabei fest in die Augen. Zu seiner eigenen Überraschung wich sie seinem Blick aus und schüttelte den Kopf. >>Kann ich nicht, << sagte sie. >>Neulinge wie du müssen eines der Portale nutzen, denn es ist durch unser Gesetz strengstens untersagt, jemanden von dieser Seite aus in die Schattenbreite mitzunehmen. Doch ich kann dir den Weg zu einem Portal zeigen, wenn du es wünschst. << >>Moment mal, wir wollen nichts überstürzen, << erwiderte Duncan und wedelte hektisch mit den Händen herum. >>Es gibt noch eine Menge Fragen, die ich beantwortet haben möchte. << >>Das glaube ich dir gerne, aber ich bin nicht die Person, die dir deine Fragen beantworten darf. Es gibt keine Akademie für Neulinge, du wirst mit der Zeit an Wissen und Erfahrung gewinnen. << >>Und was passiert, wenn ich zu langsam lerne ?<< >>Dann wirst du sterben, << erwiderte Piper regungslos. >>Das ist auch der Grund, warum es so wenig Insider gibt. Die natürliche Auslese, wenn wir sie mal so nennen wollen, ist hart und endgültig. << >>Echt motivierend, << flüsterte Duncan. Piper erhob sich und ihre Haare rollten sich von selbst dabei wieder auf, so dass sie nur noch die Haarklammer anzubringen brauchte. >>Ich werde dich zu einem Portal bringen, damit du die Schattenbreite betreten kannst. Wenn du einmal dort gewesen bist, dann gibt es kein Zurück mehr. Du wirst die Seiten ganz nach Belieben wechseln können, ohne Portale nutzen zu müssen, doch so bald du die Schattenbreite betreten hast, ist dein bisheriges Leben zu Ende. << Duncan, der begriffen hatte, dass ihm gar nichts anderes übrig blieb, erhob sich und folgte Piper. Schweigend gingen sie in Richtung der Innenstadt. Duncan blickte sich nicht um, sondern trottete einfach hinter Piper her. Es gefiel ihm nicht, in eine Rolle gezwungen zu werden, zumal er nicht einmal wusste, was ihn erwarten würde. Für ein Kind wäre der Gedanke reizvoll, in eine Welt der Märchen reisen zu können, doch nach den bisherigen Erlebnissen hielt er es nicht mehr für sonderlich erstrebenswert. Gut, sein bisheriges Leben hatte nicht gerade Rosen auf ihn herabregnen lassen, doch was konnte er schon gegen das Schicksal und Bestimmung ausrichten? Insgeheim verfluchte er sich dafür, nicht noch weiter geflohen zu sein. >>Du bist ein netter Junge, << sagte Piper plötzlich, >> doch ich muss auch dem Folge leisten, was mein Schöpfer mir aufträgt. << >>Selbstständiges Denken scheint wohl auch per Gesetz verboten zu sein, wie? << >>Es wäre mein Untergang, wenn er mich verstoßen würde, << erwiderte Piper ernst. >>Ich würde wahnsinnig werden und zu einer Gefahr für alle um mich herum. Es gibt solche Einzelgänger, das kann ich nicht verheimlichen, und sie werden von der Agentur aufgespürt und unschädlich gemacht. << >>Wie? , << fragte Duncan. >>Nun, sie werden zu ihrer und unser aller Sicherheit in ein Gefängnis gesperrt, denn ein herrenloser Avatar birgt große Wut und Zorn in sich, da er keine Nähe mehr zur Seele seines Erschaffers hat. Es gibt Wesen, die frei existieren können, wie etwa die Kobolde, aber bei einem Avatar ist das anders. Ohne einen Herren verliert er jeden Respekt vor dem Leben und kann extrem aggressiv werden. << Sie bogen in eine düstere Seitenstraße ein, weg vom Verkehr und den belebten Hauptverkehrsadern. Überquellende Mülltonnen standen am Straßenrand, Ratten huschten durch das Halbdunkel und obszönes Graffiti bedeckte die Wände der Häuser ringsum. Dem Tageslicht schien es auch nicht zu gelingen, die Straße zu erhellen. Die Düsternis war bedrückend und furchteinflößend. Vor einer rostigen Tür blieb Piper stehen und klopfte an. Eine Sichtluke wurde aufgeschoben und das finster dreinblickende Gesicht eines Mannes erschien. >>Was willst du? , << fragte er in harschem Ton. >>Ich bin im Auftrag von Mister Miller hier und soll diesen jungen Neuling durch das Portal führen, << erwiderte Piper gelassen, als würde sie diese Prozedur kennen. Das Gesicht wandte sich Duncan zu und musterte ihn gleichgültig, dann schloss sich die Luke und ein Rasseln und Schnarren erklang, als ein Riegel geöffnet wurde. Die Tür schwang auf und gab den Weg in einen von flackernden Lampen erhellten schmalen Gang frei. Die Tapete löste sich durch Feuchtigkeit von den Wänden und auf dem Boden lag allerlei Unrat. Piper ging hinein, ohne weiter darauf zu achten, Duncan aber versuchte, dem Müll auszuweichen, so gut es ging. Nach einigen Metern gelangten sie an eine Wendeltreppe, die in die Tiefe führte. Ein übler Gestank drang von unten herauf und ließ Duncan erahnen, wohin der Weg führen würde. Und er sollte sich nicht irren, denn die Treppe endete in der Kanalisation. Direkt neben ihnen dümpelte ein grauer Strom vorbei, die Kloake, die die Abfälle London’s aufnahm und fortspülte. Nur ein schmaler und schlüpfriger Steg führte darüber hinweg an der Wand des Tunnels entlang. Nach einigen Minuten veränderte sich die Bauweise und das Material des Abwasserkanals. Die glatten Kacheln und Fliesen der modernen Kloake wurden abgelöst von roten Ziegelsteinen, die bereits vermodert waren und aus denen Moos zu wachsen begann. Eine Bewegung an der Decke des Tunnels erregte Duncan’s Aufmerksamkeit, und als er aufblickte, bemerkte er eine Art Seilzug, an dem eine Gondel in Miniformat hing. Darin saß ein Kobold (schon wieder, schoss es ihm durch den Sinn), der damit beschäftigt war, das Moos von den Steinen zu lösen. Gelegentlich verspeiste er kleiner Fladen davon und schmatzte dabei genüsslich. Angewidert folgte er Piper durch die stinkende Dunkelheit weiter, bis sie schließlich an eine runde Stahltür gelangten. Die junge Frau packte den Griff daran und zog die Pforte auf. Duncan erkannte eine weitere Treppe, die noch tiefer hinab führte. >>Noch etwas tiefer und wir kommen im Keller eines Chinesen raus, << bemerkte er bissig, doch Piper schien es überhört zu haben. Die Treppe führte etwa vierzig Schritte hinab und endete an einer vermoderten Holztür, an der sich schon Holzwürmer gütlich getan hatten. Vorsichtig öffnete Duncan die Tür und war sofort geblendet vom grellen Licht, dass ihm entgegen flutete. Als er sich daran gewöhnt hatte, blickte er voller Überraschung in einen großen Saal, der über und über mit Büchern, Schriftrollen, Aktenordnern und Dokumenten vollgestopft war. In etlichen Metallregalen ruhten eiserne Kisten, in denen Duncan weitere Bücher und Schriftstücke vermutete. Viele der Kisten trugen das Wappen des Königshauses, andere das der britischen Regierung. >>Willkommen im Archiv, << verkündete Piper in geradezu feierlichem Tonfall und schloss die Tür, die knarrend ins Schloss fiel. >>Während des zweiten Weltkrieges schafften die