Tom Bleiring

Schattenwelten


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denn viel weiter ist sie nie von einem entfernt. Hast du schon einmal hinter deinen Schatten geblickt? << >>Natürlich nicht, das ist physikalisch gesehen auch unmöglich, << erwiderte Duncan, als wäre das eine Selbstverständlichkeit. >>Oh, wir haben hier einen Gelehrten. Aber deine Physik kannst du dir an den Hut kleben, mein Bester, soviel taugt sie im wirklichen Leben. Die Schattenbreite ist da zu finden, wo Schatten entstehen. Man tritt beiseite, sozusagen, und dann tritt man nochmal beiseite. Verstehst du, was ich meine? << Duncan schüttelte den Kopf. Trashcan wischte sich mit der Hand über das Gesicht, wodurch er den Dreck nur verteilte, aber nichts davon entfernte. >>Hör zu , << brummte er missmutig, >> so schwer ist es im Grunde nicht. Solange man an etwas glaubt, ist es auch real. Glaube definiert fast alles, er bestimmt Form und Aussehen der Dinge, die man normalerweise nie zu Gesicht bekommt. All diese Dinge haben eine Heimat, und diese Heimat nennt man die Schattenbreite. Und die Agentur sorgt dafür, dass die Großen nichts davon erfahren. Sie sind dafür da, alles geheim zu halten , aber manchmal geht halt was schief. Dann lesen die Großen davon in den Zeitungen und glauben wieder daran. Oder ihre vorhandenen Erinnerungen an eine Sache werden dadurch wieder geweckt. << >>Ich habe noch nie von solchen Sachen gelesen, << erwiderte Duncan ungläubig. Trashcan ließ von seinen Fingern ab und reichte Annabelle etwas von dem, was unter seinen Fingernägeln gewesen war und das Duncan nicht genauer in Augenschein nehmen wollte. >>Nie davon gelesen, wie? Keine Geistergeschichten gehört? Oder Geschichten von Spukhäusern? Solche Sachen meine ich. Und diese regen den Verstand der Menschen an, sie befassen sich dann damit, jeder auf seine Weise. Und solange auch nur ein Mensch diese Geschichten in seinem Kopf trägt, solange wird es mich, die Schattenbreite und alles andere geben. Nebenbei, da kommt ne heiße Braut auf uns zu. << Er grinste anzüglich, machte jedoch keinerlei Anstalten, sich zu verbergen. Duncan folgte seinem Blick und erstarrte vor Schreck. Nur noch wenige Schritte entfernt von ihm stand Piper auf dem Gehweg und blickte zu ihm hinüber. >>Können wir in Ruhe reden oder willst du aufspringen und wieder türmen?, << fragte sie und blieb stehen. Duncan, der keinen Fluchtweg für sich mehr sah, nickte wortlos und ließ Piper näher kommen. >>Hey Baby, wie wärs mit uns beiden? , << fragte Trashcan und zwinkerte ihr frech zu. >>Halt du dich da raus, Müllfresser, << gurrte Piper mit gespielt freundlicher Stimme. >>Süße, dein Wunsch ist mir wie immer Befehl, << antwortete der Kobold und wandte sich wieder dem Abfall zu. Piper setzte sich neben Duncan und blickte zum Himmel über London, der inzwischen fast wolkenfrei war, hinauf. >>Warum bist du abgehauen? , fragte sie schließlich nicht unfreundlich. >>Ich habe heute Nacht gehört, was Jonathan und der Fremde in seinem Büro besprochen haben, << erwiderte er heftig und richtete seinen Zeigefinger anklagend auf sie. >>Es war die Rede davon, mich einem Blutritual zu unterziehen. Glaubt ihr etwa, ich lasse mich freiwillig in Scheiben schneiden? Sucht euch einen anderen für eure okkulten Rituale! << >>Ach, so ist das also, << entgegnete Piper gelassen. >>Und du dachtest vermutlich, du wärst bei einer obskuren Sekte gelandet, die junge Männer opfert, um ihr Blut in düsteren Ritualen einer längst vergessenen Gottheit darzubringen.<< >>Ja, so etwas Ähnliches ging mir durch den Kopf! << rief Duncan. >>Und wenn ihr mich von hier verschleppen wollt, schreie ich so laut um Hilfe, bis die ganze Straße sich hier versammelt hat. << >>Das traue ich dir sogar zu, << erwiderte Piper, lehnte sich zurück und löste die Klammer, die ihre Haare zusammen hielten. Langsam glitt eine Woge nussbraunen Haares hinab, mehr sogar, als es der Vernunft nach hätte sein dürfen. Schließlich reichte es fast bis auf den Boden hinab, doch es wellte sich von selbst und schien sich zu bewegen. Trashcan pfiff, und selbst das klang bei ihm anzüglich. Piper’s Blick richtete sich auf ihn, und ihre Stimme war kalt wie Eis, als sie sagte: >>Wenn du nicht sofort verschwindest, dreh ich dir deinen dreckigen Hals um! << Der Kobold begriff nun, dass er es übertrieben hatte, und wurde blass. >>Bitte um Verzeihung, << murmelte er, sprang aus der Mülltonne und verschwand im nächsten Gebüsch. Annabelle umschwirrte Piper noch einmal zornig und folgte ihm dann. >>Dieser grüne Ekelbold ist ein Plage, << sagte Piper verdrießlich. >>Aber ich vermute mal, dass er dir gewisse Dinge erzählt hat. Ich will dir erklären, um was es geht, Duncan, damit du verstehst. Ich bin kein Mensch. Zumindest nicht im eigentlichen Sinne. << >>Aha, << antwortete Duncan misstrauisch,>> und was bist du dann? Die Zahnfee? Ich glaube, in eurer Sekte sollten weniger berauschende Mittel verabreicht werden. << >>Die würden eh nicht bei mir wirken, < >>Weißt du, was ein Avatar ist? Vermutlich nicht, also sag ich es dir lieber gleich. Es steht für Inkarnation oder Verkörperung. Und ich bin ein solcher Avatar, erschaffen von Jonathan Miller. << >>Und was verkörperst du bitte schön? << Duncan‘s misstrauische zweite Gedanken wurden wieder aktiv und gewannen für einen Augenblick die Kontrolle über seine Zunge. >>Genau das, wonach sich mein Schöpfer im Moment meiner Entstehung gesehnt hat, << antwortete Piper ohne Umschweife. >>Eine attraktive junge Frau? << fragte Duncan irritiert. >>Nein, << erwiderte Piper lachend, >> aber danke für das Kompliment. Mein Aussehen ist nur äußere Form und steht, was mich angeht, nicht in Verbindung mit meiner Aufgabe. Er sehnte sich nach etwas mehr Hoffnung und Vertrauen in der Welt. Und genau das kann ich den Menschen um mich herum ins Herz legen. Meine Bestimmung liegt darin, den Hoffnungslosen und im Herzen Einsamen wieder Kraft zu geben, sie zu ermutigen und zu neuen Taten zu beflügeln. << >>Dann hast du sicher ne ganze Menge zu tun. << Etwas Besseres fiel Duncan in diesem Moment nicht ein. >>Ich bin ja nicht für die gesamte Menschheit zuständig, << erwiderte Piper rasch. >>Nur für den Teil, der mit mir in Kontakt kommt, oder mit Jonathan. Ich höre jedes stumme Gebet und jeden Satz, der dem Herzen entspringt. Auch bei dir war das schon einmal der Fall. Der Moment, als du deine Freundin im Waisenhaus zurücklassen musstest. Du hast dich an den Gedanken geklammert, dein Versprechen ihr gegenüber einzuhalten. Dein Herz hat fast gebrüllt, wenn ich dies als Vergleich mal so sagen darf. << >>Sie ist nicht meine Freundin gewesen, << antwortete Duncan erbost, doch in seinem Innersten fühlte er sich seltsamerweise so, als hätte man ihn bei etwas Unanständigem erwischt. Scham wuchs in ihm und er wandte den Blick von Piper ab. >>Und woher weiß ich, dass du mir nicht ein Lügenmärchen auftischst? , << flüsterte er mit heiserer Stimme, um vom Thema abzulenken. >>Naja, du könntest auf deine neuen zweiten Gedanken hören. Oder du nimmst endlich zur Kenntnis, dass du mit Kobolden gesprochen hast, mit Fabelwesen. << >>Das kann alles davon herrühren, dass ihr mir bewusstseinsverändernde Drogen gegeben habt, << konterte Duncan sofort. Piper sah ihn für einen Moment fassungslos an, dann begann sie zu lachen, klar und hell wie ein junges Mädchen. >>Du kannst nicht echt sein, << brachte sie hervor, als sich der Lachanfall etwas gelegt hatte. >>Sowas wie du ist mir noch nie untergekommen. Was willst du denn hören oder sehen, damit du mir Glauben schenkst? Selbst wenn der heilige Petrus jetzt vom Himmel steigen würde, selbst dann würdest du wohl noch an Gott und den Heiligen zweifeln. << >>Warum habt ihr mich aus dem Waisenhaus geholt? << antwortete Duncan ernst. Piper’s Lachen verklang, und mit besorgter Miene sah sie Duncan in die Augen. >>Ich glaube nicht, dass ich dir das erklären sollte, << erwiderte sie. >>Und ich glaube schon, dass du es tun solltest, << antwortete Duncan. Piper holte tief Luft und seufzte. >>Wir haben dich dort raus geholt, weil wir nicht genau wussten, was an dir dran ist. Klingt dämlich, ich weiß, aber manchmal zeigt es sich nicht auf Anhieb, ob ein junger Mensch die Gabe hat. Wir erfuhren, dass deine Geburt mit dem Verschwinden einer ganzen Familie, die unseren Reihen entstammte, vom Datum her zusammen fiel. Wir stellten Nachforschungen an, konnten aber keine klaren Beweise für eine Verbindung erbringen. Also entschlossen wir uns, dich kurzerhand zu adoptieren, ehe die Falschen dich zufällig fänden. Und das Blutritual ist kein Vorgang, bei dem an dir rumgeschnippelt wird, sondern ein Test für mentale und physische Kräfte. Zumindest wissen wir, dass du zu uns gehörst, denn niemand hätte Trashcan sehen können, wenn er oder sie keine von uns ist. Allerdings entsprichst du nicht der Norm. << >>Es gibt Normen für Andersartigkeit?, << rief Duncan. >>Ich bin ein Freak, und ihr habt Kategorien dafür, na hervorragend. << >>Du bist kein Freak, Duncan, << erwiderte Piper heftig, >> und es besteht kein Anlass für so viel Sarkasmus. Du hast eine Begabung, die dich aus der grauen und gesichtslosen Masse aus Menschen hebt. Du bist etwas Besonderes. << >>Ihr wusstet also, wie ich heiße. Konntet ihr so nicht herausfinden, ob ich zu dieser