Volker Hesse

Der 7. Lehrling


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Medard, der ihn sonst immer nur ärgerte, kamen ein paar lobende Worte über die Lippen.

      Als alles für den nächsten Tag gerichtet war, löschten sie das Licht in der Mühle und gingen wieder zum Wohnhaus hinüber.

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      Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne weckten Milan. Er zitterte vor Kälte und stöhnte vor Schmerzen, als er sich aufrichtete. Der letzte Abend schoss noch einmal in schrecklichen Bildern durch seinen Kopf. Das Letzte, an das er sich erinnern konnte, war ein Gedanke an Amina gewesen; ihr hübsches Gesicht schien glücklich, aber trotzdem auch irgendwie so, als ob sie geweint hätte. An etwas anderes konnte er sich nicht erinnern. Er war offensichtlich keine drei Schritte vom Abgrund erschöpft zusammengebrochen und eingeschlafen.

      Besorgt tastete Milan seinen Körper nach Brüchen ab. Zum Glück war alles mehr oder weniger heil geblieben. Ein paar tiefe Schrammen und viele schmerzhafte Prellungen waren offensichtlich alles, was vom Sturz übrig geblieben war. Mit etwas Wasser und einem halbwegs sauberen Tuch tupfte er den Schmutz aus den Wunden. Dann überprüfte er seine Habseligkeiten.

      Der Trinkschlauch war noch etwa halb voll. Die Gürteltasche mit vielen nützlichen Reiseutensilien war zum Glück auch noch da. Aber sein Beutel mit dem Essen war fort.

      Vorsichtig schob sich Milan an den Rand des Abgrundes heran. Die Reste der Brücke hingen schlaff an der steilen Felswand herab. Milan starrte in die gähnende Tiefe. Irgendwo weit unter sich konnte er das abgerissene Ende der Seilbrücke sehen, an dem er sich bei seinem Sturz gerade noch hatte festhalten können und das nun im Halbschatten hin- und herschwang. Einen Grund konnte er nicht ausmachen. Die Schlucht war so unglaublich tief, dass das Tageslicht es nicht schaffte, bis auf den Boden vorzudringen, und die steilen Felswände endeten einfach irgendwann im Dunkel.

      Schaudernd und mit schmerzverzerrtem Gesicht stand Milan auf. Er nahm noch einen Schluck aus dem Wasserschlauch, dann machte er sich langsam und humpelnd auf den Weg.

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      Meara war früh auf den Beinen. Sie hatte hervorragend geschlafen, kurz gefrühstückt und war schon wieder auf dem Weg Richtung Filitosa. Der Himmel war klar, die Morgenfrische noch nicht ganz von der Sonne verdrängt. Mit einem lustigen Lied auf den Lippen ging es mit beschwingtem Schritt auf einem Weg entlang, der sich zwischen sanften Hügeln durch eine weite Ebene schlängelte.

      Überall am Wegesrand wuchsen schöne Sommerblumen, roter Mohn wechselte sich mit tiefblauen Kornblumen ab, hier und da große weißgelbe Büsche von Margeriten, kurzum: Es versprach ein wunderschöner Tag zu werden. Zum ersten Mal, seitdem sie der „Eilt herbei!“-Ruf erreicht hatte, grübelte Meara nicht darüber, was wohl in Filitosa los war.

      Langsam stieg die Sonne am Himmel empor. Der Tau verflüchtigte sich aus dem Gras, und die Grillen begannen ihr Sommerlied. Meara schritt wacker aus. Heute würde sie wieder ein gutes Stück schaffen!

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      Es war Zeit für das zweite Frühstück. Quentin wusch sich am kalten Bach und lief dann eilig zum Wohnhaus hinüber. Ihm tat alles weh. Seine Hände konnten nicht richtig zupacken, seine Arme kaum einen viertelvollen Sack Mehl heben. Sein Rücken fühlte sich an, als sei ein Fuhrwerk darübergefahren. Aber Quentin grinste immer noch, wenn er an seine Klettertour vom vergangenen Abend dachte. Das hätte Medard ihm sicher nicht nachmachen können!

      Finja hatte Pfannkuchen gemacht, was, wie Medard kauend bemerkte, nicht so oft beim zweiten Frühstück vorkam. Es schmeckte ganz hervorragend, und als alle Teller leergeputzt waren, schaute Quentin immer noch kauend fast ein bisschen traurig drein – einen oder zwei hätte er bestimmt noch geschafft!

      „Habt Ihr heute viel zu tun?“, fragte Finja ihren Mann.

      „Geht so“, antwortete Falk. „Wir sind ganz gut vorangekommen. Und Quentin stellt sich für einen Jungen in seinem Alter recht geschickt an!“

      Quentin wurde mit einem Schlag puterrot im Gesicht und hätte sich fast verschluckt. Falk klopfte ihm auf die Schulter. „Da gibt es keinen Grund, rot zu werden, mein Junge. Man merkt eben, dass Du in einer Mühle groß geworden bist!“ Er wandte sich wieder zu Finja. „Warum fragst Du?“

      „Es gibt da einige Sachen zu besorgen. Und da heute Markttag ist, könnte Quentin ja vielleicht zwischendurch schnell mal einkaufen gehen.“

      Nun war es doch so weit. Quentin verschluckte sich am letzten Bissen und hustete, was das Zeug hielt. Lachend kam Finja zu ihm herüber und klopfte so lange auf seinem Rücken herum, bis der Husten nachgelassen hatte. Finja erklärte ihm, bei welchen Händlern er Brot, Früchte und Eier kaufen sollte, und schickte ihn mit mit einem Korb auf den Weg. Quentin strahlte über das ganze Gesicht, als er Richtung Marktplatz losmarschierte. Dass Falk hinter ihm herrief, er solle spätestens zum Mittag wieder da sein, hörte er fast nicht mehr, so sehr war er mit seinen Gedanken an den Markt beschäftigt.

      Verwirrende Begegnung und magische Geschichten

      Es war ein buntes und geschäftiges Treiben auf dem Marktplatz. Händler priesen laut ihre Ware an, feilschten mit Kunden um den besten Preis oder verteilten Kostproben ihrer Lebensmittel. Es war unglaublich voll. Die Menschen schoben sich in Trauben zwischen den einzelnen Ständen hindurch. Es grenzte schon fast an ein Wunder, dass Quentin relativ schnell alle Händler fand, die Finja ihm beschrieben hatte.

      Als er mit den Einkäufen fertig war, sah Quentin zur Turmuhr des Rathauses hinauf. Es war erst kurz vor elf, er hatte noch jede Menge Zeit! Also ließ er sich willig mit der Menge durch die Gassen zwischen den Ständen treiben und nahm alles begierig in sich auf. Es gab die unterschiedlichsten Händler und Stände. Hier bot ein Tuchhändler Stoffe in den herrlichsten Farben feil, dort war ein Besenbinder während des Verkaufens damit beschäftigt, weitere Birkenreiser zu einem neuen Besen zusammenzubinden.

      Bei einem Gewürzhändler blieb Quentin etwas länger stehen. Was er hier vor sich liegen sah, konnte er kaum glauben. Düfte und Farben in einer Pracht, die fast zu viel für seine Augen und seine Nase waren. Immer wieder roch er an Substanzen, die er nie zuvor gesehen hatte. Der Händler erklärte ihm, dass die gelben Fäden Safran seien, so wie viele andere Sachen hier ein sehr seltenes Gewürz aus einem fernen Land, das dort sei Kreuzkümmel, das rote Pulver sei Paprika, die schwarzen Körner Pfeffer. Henna, Alizarin und Indigo zum Färben von Tüchern. Das, was Quentin erst für übergroße Haselnüsse hielt, wurde ihm als Muskatnuss vorgestellt, er roch zum ersten Mal in seinem Leben Zimt und Ingwer, Piment, Koriander, Cardamom und Kurkuma. Für die Hälfte seines Trinkgeldes erstand Quentin nach zähem Handeln ein wenig Koriander und eine halbe Muskatnuss. Diese Gewürze wollte er Finja mitbringen.

      Immer noch schwindelig von den ganzen Düften ging es weiter.

      Die Menge schob ihn auf einen größeren Platz, auf dem eine einfache Holzbühne aufgebaut war. Schausteller! Gerade trat ein Artist auf, der mit Keulen, Fackeln und allerlei anderen Gegenständen jonglierte. Quentin klatschte begeistert.

      Kaum hatte der Artist seinen Auftritt beendet, da kam ein kleiner Mann in einer roten, mit vielen glänzenden Knöpfen besetzten Jacke auf die Bühne und kündigte als nächsten Künstler einen Derwisch an.

      Der Derwisch war in den buntesten Farben gekleidet. Als die fremdartige Musik begann, fing er auf seltsame Art an zu tanzen. Immer schneller ging die Musik, und immer schneller wurde der Tanz. Dann fing der Künstler an, sich zu drehen. Immer schneller, immer schneller. Die weiten bunten Kleider sahen aus wie ein Regenbogen. Die Musik wurde noch schneller, aber der Derwisch hielt den Takt.

      Dann plötzlich verstummten die Instrumente schlagartig, und genauso plötzlich stoppte der Derwisch mitten in der Bewegung. Quentin rechnete damit, dass er jetzt vor Schwindel in die Menge taumeln und hinfallen würde, doch der Derwisch ging mit festen Schritten zum vorderen Rand der Bühne und verneigte sich lächelnd.

      Quentin war begeistert. Er hatte den Einkaufskorb zwischen seine Füße gestellt und klatschte wie wild Beifall. Die Menge tobte ebenfalls. Ein paar Schausteller gingen mit Körben umher, um Geld einzusammeln, und Quentin gab gern