Volker Hesse

Der 7. Lehrling


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Ein solcher Auftritt konnte einfach nicht überboten werden. Er nahm den Korb und wandte sich zum Gehen, als erneut der kleine Mann mit der roten Jacke auf die Bühne trat und mit großen, bedeutungsschweren Worten die Hauptattraktion des Wanderzirkus ankündigte: den Magier.

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      Meara war sehr zufrieden. Durch die Ebene war sie viel weiter gekommen, als sie noch am Morgen angenommen hatte. Die Sonne schien heiß vom Himmel, und Meara sehnte sich nach etwas Schatten, in dem sie ihre Mittagsrast verbringen konnte.

      Nicht weit vor sich sah sie einen großen, einzeln stehenden Baum, unter dessen mächtiger Krone bereits ein Fuhrwerk stand. Ein Mann machte sich am Pferdegeschirr zu schaffen.

      Als Meara etwas näher gekommen war, stellte sie fest, dass das Pferd ausgespannt war und der Mann unter dem Baum im Schatten saß. Offensichtlich machte auch er eine Pause. Eigentlich legte Meara keinen Wert darauf, in ein Gespräch über woher und wohin verwickelt zu werden, aber es gab nun einmal keinen anderen Baum, so weit das Auge reichte, und so fügte sie sich in ihr Schicksal.

      Kurze Zeit darauf trat sie unter die große Kastanie und grüßte den Fremden, einen jungen Mann mit einem offenen Gesicht und stahlblauen Augen. Er stellte sich als Hendrik vor und lud sie ein, sich zu ihm zu setzen.

      Noch bevor Meara ihre wenigen Früchte auspackte, um eine Kleinigkeit zu Mittag zu essen, bat er, ihr etwas von seinen Vorräten abgeben zu dürfen. Er habe es nicht mehr so weit, und sein Rücken würde sich über etwas weniger Gewicht im Rucksack sehr freuen. Meara fragte lachend, warum er den Rucksack nicht auf den Wagen legte.

      Da erzählte ihr Hendrik, irgendetwas würde mit dem Pferd nicht stimmen, es lahme auf der rechten Vorderhand und könne den Wagen kaum noch ziehen. Ob er es überhaupt nochmals anspannen könne, wisse er nicht. Und wie er die Ladung Kürbisse und Gurken nach Hause bringen solle, könne er auch noch nicht sagen.

      Meara hatte noch gar nicht gemerkt, dass mit dem Pferd etwas nicht in Ordnung war. Nun ging sie hinüber zu dem Hengst, der unruhig im Schatten stand und es offenbar vermied, mit dem rechten Vorderhuf aufzutreten. Behutsam nahm sie seinen Kopf, streichelte über die Nüstern und beruhigte ihn mit leisen Worten. Dann tastete sie vorsichtig seinen rechten Vorderlauf ab, bis sie an der Fessel eine heiße, angeschwollene Stelle bemerkte. Der Hengst zuckte unter der Berührung zusammen und schnaubte, tat aber weiter nichts, sondern blieb geduldig stehen.

      Meara drehte sich zu Hendrik um. „Das Pferd könnt Ihr auf keinen Fall wieder einspannen, die Fessel ist vollkommen entzündet! Wie weit ist es bis zu Eurem Hof?“

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      Gespannt stellte Quentin den Korb wieder zu Boden und wartete. Dann trat begleitet von lautem Trommelwirbel der Magier auf die Bühne.

      Es war ein großer schlanker Mann im mittleren Alter. Die gesamte Kleidung war schwarz. Über der Hose und dem Hemd trug er einen robenähnlichen Umhang, über dessen Kragen das schwarze glänzende Haar bis weit auf den Rücken hinunterhing. Die gepflegten Hände waren genau wie das Gesicht fast weiß. Über dem schmalen Mund erhob sich zwischen markanten Wangenknochen eine fast raubvogelartige Nase. Die gesamte Erscheinung zog sofort die Zuschauermenge in ihren Bann. Stille breitete sich aus.

      Quentin hatte ein ganz seltsames Gefühl in der Magengegend. Er registrierte jedes noch so kleine Detail der Kleidung, die doppelte Reihe silberner Knöpfe am Revers, die filigrane silberne Gürtelschnalle, bemerkte den reich verzierten silbernen Ring am linken Zeigefinger, der mit einem blutroten Stein besetzt war – der einzige Farbfleck an der ansonsten schwarz-weißen Erscheinung.

      Das Faszinierendste jedoch waren die Augen des Magiers. Quentin hatte noch niemals einen Menschen mit so pechschwarzen Augen gesehen. Unter buschigen dunklen Augenbrauen erforschten sie mit durchdringendem Blick aufmerksam die Menge, es machte fast den Eindruck, als wenn sie etwas suchen würden. Langsam schweiften sie von Mann zu Frau und weiter zu den Nebenstehenden. Dann blieb ihr forschender Blick auf Quentin ruhen.

      Der Magier sah ihm fest in die Augen. Quentin bekam Angst. Er hatte das Gefühl, als würde ihm der Magier mit seinem stechenden Blick bis auf den tiefsten Grund seiner Seele schauen. Quentin wollte wegrennen, aber seine Füße waren wie mit Eisen an den Boden geschlagen. Es kam ihm vor, als sei die Zeit stehen geblieben, und er glaubte zu spüren, wie der Magier in seinen Gedanken las wie in einem Buch. Dann zuckte ein kaum wahrnehmbares Lächeln um die schmalen Lippen des Magiers, und er wanderte mit seinem Blick weiter.

      Quentin schwitzte. Er wollte gleichzeitig vor Angst weglaufen, aber auch vor Neugier unbedingt dableiben. Die Neugier siegte.

      Der Magier hatte inzwischen die Erforschung der Menge fast beendet. Jetzt sah er ein hübsches junges Mädchen in der ersten Reihe mit seinen durchdringenden Augen an. Sie war wie erstarrt. Langsam ging er auf sie zu. Die Zuschauer wurden unruhig, aber niemand traute sich, ein lautes Wort zu sprechen. Direkt vor dem Mädchen blieb der Magier stehen und bewegte die Hände in seltsamen Bewegungen direkt vor dem verängstigten Gesicht. Dann, wie aus dem Nichts, hatte er einen kleinen Blumenstrauß in der Hand.

      Er lächelte ein unglaublich gewinnendes Lächeln und gab dem Mädchen die Blumen. Damit brach der Bann, der über der Menge lag. Laut applaudierten die Zuschauer, schlugen sich gegenseitig auf die Schulter und nannten einander Angsthase. Keiner wollte mehr davon wissen, welch tiefe Furcht noch vor einer Sekunde das eigene Herz gefesselt hatte.

      Auch Quentin fühlte sich erleichtert. Dann kamen Schlag auf Schlag die wunderbarsten Kunststücke. Der Magier ließ Kartenspiele in seinen Händen erscheinen und verschwinden, zog einem kleinen Jungen ein buntes Tuch scheinbar aus dem Mund, angelte hinter dem rechten Ohr eines Zuschauers ein Hühnerei hervor und hinter dem linken Ohr einer Zuschauerin einen Taler. Tosender Applaus.

      Quentin versuchte die ganze Zeit, die Tricks zu durchschauen, zu sehen, aus welchem Ärmel oder welcher Rockfalte der Magier die ganzen Gegenstände hervorholte, aber er konnte beim besten Willen nichts erkennen.

      Der Magier bat eine Frau mit einem Kranz aus geflochtenen Haaren aus dem Publikum auf die Bühne. Er stellte sie so, dass sie ihn anblickte, streckte die Hände mit den Handflächen nach unten vor sich, drehte sie um und hatte plötzlich in jeder Hand eine wunderschöne weiße Rosenblüte. Die Frau bekam vor Überraschung nur ein kleines „Huch!“ über die Lippen, war aber ansonsten völlig gebannt und bewegte sich kaum, als der Magier ihr die Rosen in den Haarkranz legte.

      Dann trat er hinter sie. Er hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt und beugte sich langsam mit dem Gesicht zu ihren Haaren vor. Er blies ganz sanft in die Rosenblüten, und plötzlich waren in den Haaren keine Blüten mehr, sondern zwei weiße Tauben, die erschreckt aufflatterten und in den Himmel davonstoben.

      Ungläubiges Staunen, dann verfiel die Menge in einen neuen Beifallssturm. Aber die Vorführung war noch nicht vorbei.

      Der Magier entließ die immer noch ungläubige Frau zurück in die Menge und nahm dann ein elegantes Kurzschwert aus einer Kiste. Er ging damit zu einem kräftigen Mann, der die Schärfe prüfte. Offensichtlich war dieser von der Echtheit und dem Schliff überzeugt, was angesichts des blutenden Ritzes in seinem Daumen auch niemanden verwundern durfte. Um den Rest des Publikums zu überzeugen, warf der Magier ein seidenes Tuch in die Luft und ließ es beim Herunterschweben auf dem Schwert landen. Das Tuch teilte sich in zwei Hälften. Jetzt war auch der letzte Zweifler überzeugt davon, dass das Schwert nicht nur echt, sondern auch äußerst scharf war.

      Der Magier trat in die Mitte der Bühne, das Schwert ausbalanciert auf der ausgestreckten flachen Hand. Dann warf er es mit einem kraftvollen Schwung in die Luft. Das Schwert blieb völlig waagerecht und wirbelte dabei um die eigene Achse. Es stieg mehrere Meter hoch und kam dann zurück. Der Magier stand mit ausgebreiteten Armen und wartete. Die Blicke der Zuschauer flogen zwischen Schwert und Magier hin und her. Was hatte er vor?

      Immer schneller fiel das Schwert, aber der Magier stand vollkommen ruhig und wartete. Noch drei Meter, noch zwei. Die weit ausgebreiteten Arme des Magiers flogen nach vorn.

      Er wollte doch wohl nicht klatschen? Das Schwert würde seine linke Hand mühelos durchstoßen! Die rechte Hand würde dabei noch von hinten auf