Volker Hesse

Der 7. Lehrling


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spät noch auf den Beinen?“, neckte eine weibliche Stimme aus der Dunkelheit.

      „Guten Abend, Katalin!“, rief Meara der Stimme entgegen und eilte zur Kreuzung. Die beiden Hexen fielen sich um den Hals und betrachteten sich dann gegenseitig im Licht des Mondes. Katalin war eine von den Lehrlingen, die nun im letzten Lehrjahr sein mussten. Meara hatte sich über die Jahre mit ihr angefreundet.

      „Komm, wir gehen den Rest des Weges zusammen“, schlug Meara vor. „Nein, das geht nicht“, entgegnete Katalin. „Ich bin heute Nacht einer der Vorposten, die rings um Filitosa aufgestellt sind. Du hast jetzt noch etwa eine Stunde vor Dir.“ Sie grinste. „Oder muss ich Dir etwa den Weg beschreiben?“

      Nach ein paar weiteren freundschaftlichen Worten machte sich Meara auf, um das letzte Stück Weg so schnell es ging hinter sich zu bringen.

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      Quentin lag im Bett. Durch die ganze Grübelei war der Tag noch anstrengender gewesen, als er durch die Arbeit ohnehin schon war. Das musste ein Ende haben, und so hatte er beschlossen, nicht eher zu schlafen, bis ihm eine Lösung eingefallen war.

      Auf der einen Seite war der Wunsch immer noch groß, andere zu finden, die so waren wie er. Er wusste allerdings nicht, wie. Und niemand schien darüber zu sprechen. Auch seine Eltern hatte er niemals von so einer merkwürdigen Gabe sprechen hören.

      Auf der anderen Seite fühlte er sich bei Finja und Falk sehr wohl. Und dass Finja wusste, was mit ihm los war, machte ihm nichts aus – ganz im Gegenteil! Er fühlte sich seit langer Zeit zum ersten Mal verstanden, und das gab ihm ein gutes, geborgenes Gefühl.

      Er nahm seine kleine Kugel in die Hand, die sofort zu leuchten begann, und starrte hinein. Dann traf Quentin seine Entscheidung.

      Er würde zuerst seine Lehre beenden und nebenbei darüber nachdenken, wie er anschließend seine Suche nach den „anderen“ beginnen konnte. Finja konnte ihm dabei bestimmt mit ihrem Rat zur Seite stehen.

      Genau so werde ich es machen!, dachte Quentin und drehte sich zur anderen Seite um.

      Mit der leuchtenden Kugel in der Hand schlief er endlich ein.

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      Fast schon schlafwandelnd kam Meara an einer Kreuzung an. Sie kannte diese Stelle sehr gut, es war einer der Zugänge nach Filitosa. Normale Menschen hätten an dieser Stelle allerdings gar keine Kreuzung gesehen. Für sie erhob sich auf der rechten Seite des Weges eine lange Reihe von scheinbar undurchdringlichem Dornengestrüpp, auf das Meara jetzt ohne Zögern zuschritt.

      Kurz vor dem Dickicht bewegte Meara kurz die Finger und murmelte halblaut die Worte „Duram andæn“, worauf im Nu die Illusion verblasste. Nachdem sie den Zugang passiert hatte, verschwand mit einem kleinen Rascheln die Lücke zwischen den Büschen wieder. Nur noch eine knappe halbe Stunde!

      Ihre Müdigkeit verflog, als Meara die ersten Lichter des Dorfes durch den Wald schimmern sah. Ihr erstes Ziel war natürlich das Haupthaus. Dort angekommen, wurde sie von einem ziemlich schläfrigen Lehrling freundlich begrüßt. Er gab ihr den Laufzettel, erklärte ihr die Dinge, die sie am nächsten Tag zu erledigen hatte, und fragte sie zum Schluss, ob er sie jetzt zu ihrer Unterkunft führen dürfe.

      Meara aber hatte trotz aller Müdigkeit Hunger und Durst. Mindestens etwas trinken wollte sie noch, bevor sie sich ins Bett legen würde. „Kein Problem!“, sagte der Lehrling zu ihr, „die Küche ist rund um die Uhr geöffnet. Nur ob Du noch Schlaf bekommst, wenn Du erst einmal da bist, bezweifle ich stark ...“ Er lächelte wissend und begleitete die verwirrt dreinschauende Meara zum Speisesaal.

      Sie waren noch ein gutes Stück vom Speisesaal entfernt, als sich Meara schließlich das Lächeln erklären konnte: Schon aus dieser Entfernung konnte man deutlich hören, dass der Speisesaal alles andere als verlassen war. Laute Gespräche und Lachen drangen durch die massive Tür. Dort angekommen, verabschiedete der Lehrling Meara, wünschte ihr guten Appetit und verschwand wieder auf seinen Posten im Foyer.

      Meara zog die schwere Eichenholztür auf und sah in den vertrauten Raum, in dem sie schon als Lehrling manchen langen Abend verbracht hatte. Köpfe flogen zu ihr herum, und von mehreren Tischen wurden ihr Grüße entgegengerufen, die sie winkend und lachend erwiderte. Sie bewegte sich händeschüttelnd durch einen ausgelassenen Haufen von etwa dreißig bis vierzig Gesellen, bis sie sich zu einer Gruppe ihres Abschlussjahres durchgekämpft hatte. Dort ließ sie sich nieder und trank durstig aus dem Glas, das ihr sofort gereicht wurde.

      Der Lehrling im Foyer hatte recht gehabt: An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken!

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      Korbinian hatte gut geschlafen und war wie gewohnt früh auf den Beinen. Er war zufrieden, was seinen Teil der Vorbereitungen anging, und hatte deshalb für den Vormittag einen Spaziergang geplant.

      Zuerst jedoch ging er zum Speisesaal, um sich zu stärken. Als er die Tür öffnete, stellte er fest, dass er nicht der Erste an diesem Morgen war: Es saßen etwa zehn Gesellen dort und waren bereits beim Frühstück. Ein zweiter Blick verriet Korbinian allerdings sehr schnell, dass diese zehn nicht erst heute morgen hierhergekommen waren. Das Lächeln und die guten Wünsche, die ihm entgegengebracht wurden, kamen allesamt aus sehr, sehr müden Gesichtern.

      Korbinian holte sich schnell etwas zu essen und ging direkt zu den übernächtigten Gesellen. Nachdem er jedem die Hand geschüttelt hatte, setzte er sich auf einen freien Platz neben die ebenfalls noch wache Meara und bat einen nach dem anderen, ihm Neuigkeiten zu berichten.

      Während er sich mit dem Essen viel Zeit ließ, lauschte er aufmerksam den spannenden Geschichten, die die Gesellen in ihren ersten Jahren der Wanderschaft erlebt hatten. Dabei wurde ihm fast ein bisschen wehmütig ums Herz, denn auch er hatte seine Gesellenzeit – die natürlich schon viele Jahre zurücklag – sehr genossen.

      Als er mit dem Frühstück fertig war, ermahnte er die Gruppe noch schmunzelnd, sich zur Wiederherstellung ihres jugendlichen Aussehens doch bald einmal schlafen zu legen, und verließ mit den Worten „Gute Nacht!“ gut gelaunt den Saal.

      Draußen erwartete ihn ein sonniger Morgen. Aus den Kaminen stieg der Rauch der Back- und Räucheröfen, des Schmiedefeuers und des Gießereiofens kerzengerade in den Himmel, überall hatte das in den letzten Tagen zum gewohnten Bild gewordene geschäftige Treiben schon wieder begonnen.

      Auf dem Weg durch das Dorf begegnete er nicht nur den arbeitenden Lehrlingen, sondern auch bereits angekommenen Gesellen, die sich als Helfer in den Werkstätten und Betrieben angeboten hatten. Dies machte Korbinian sehr froh. Es war doch nach wie vor eine hilfsbereite und vielleicht gerade auch deshalb so starke Gemeinschaft.

      Sie würden den fehlenden Lehrling finden. Ihr kleines Dorf und mit ihm ihr Geheimnis würden auch weiterhin beschützt sein. Dessen war er sich sicher.

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      Auch Samuel war schon aufgestanden und wollte vor dem Frühstück schnell einen Blick in die Schneiderei werfen. Dort hatte gestern irgendein Teil einer großen Nähmaschine der Dauerbelastung nicht mehr standgehalten und musste repariert werden. Als er durch die Tür der Schneiderei trat, hörte er bereits wieder das surrende Geräusch der offenbar reparierten Maschine. Er beglückwünschte den Leiter der Schneiderei und seine drei Helfer, die die ganze Nacht mit der Reparatur zugebracht hatten und nun beim letzten Probelauf waren.

      „Gut, dass die restlichen vier Lehrlinge bald kommen“, sagte Gereon zu Samuel, „Wir müssen unbedingt ein paar Stunden schlafen. Ansonsten hat nachher noch jemand seine Finger an den Sachen festgenäht ...“. Gereon war so wie Amina und Adina kurz vor der Prüfung und ein durch und durch zuverlässiger Leiter der Schneiderei.

      Samuel nickte ihm zu. „Sicherlich können die ausgeruhten Lehrlinge auch erst einmal allein klarkommen. Du hast richtig entschieden, die Hälfte von Euch schlafen zu schicken.“ Er schmunzelte. „Auch wenn das den vieren gestern Abend ganz offensichtlich nicht gefallen hat, so sind sie doch jetzt ausgeruht und können ein wenig eurer Arbeit mit erledigen.“ Er erinnerte sich noch gut daran, dass die vier nur unter lautstarkem Protest gegangen