Volker Hesse

Der 7. Lehrling


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      Aminas Tagesablauf hatte sich eingespielt. Sie stand in aller Frühe auf, war die Erste in der Metzgerei und machte den Plan für den Tag. Wenn dann die anderen zur Arbeit kamen, war schon alles vorbereitet.

      Wenn am späten Abend die letzte Wurst in der Räucherkammer hing, die Geräte gründlich gereinigt waren und alle gegangen waren, saß Amina noch in ihrem kleinen Kontor und war mit dem Führen der Listen beschäftigt. Wenn sie dann endlich damit fertig war, löschte sie das Licht und ging noch auf einen Plausch zu Adina hinüber.

      Die Vorräte stapelten sich in den Lagerräumen. Amina hatte noch ein Nachbarhaus als Lager dazunehmen müssen, sonst hätte gar nicht alles hineingepasst. Sie war schon ein bisschen stolz darauf, was sie mit ihrer Handvoll Helfer alles hinbekommen hatte.

      Immer wieder dachte sie an Milan, aber ein solch starkes Gefühl wie zwei Abende zuvor hatte sie nicht mehr gehabt. Sie war sehr gespannt auf seine Ankunft, nicht zuletzt, weil sie sich selbst davon überzeugen wollte, dass es ihm gut ging.

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      Quentin grübelte. Den ganzen vergangenen Tag hatte er auch schon gegrübelt. Er wusste einfach nicht, wie es weitergehen sollte.

      Einerseits mochte er Finja und Falk sehr gern und, wenn er es sich recht überlegte, sogar Medard ein bisschen. Außerdem machte ihm die Arbeit viel Spaß. Andererseits wusste er seit dem nächtlichen Gespräch mit Finja, dass er nicht der Einzige war, der „anders“ war. Und er wollte unbedingt diese „anderen“ finden, denn er wusste, dass nur sie ihn wirklich verstehen würden.

      Wenn er allerdings an den Magier vom Marktplatz dachte, lief ihm auch jetzt noch ein kalter Schauer über den Rücken. War der Magier auch einer von den „anderen“? Was von dem, was er aufgeführt hatte, war ein Trick, und gab es tatsächlich Kunststücke darunter, die in Wirklichkeit Magie waren?

      Wenn das stimmte, dann war der Magier vom Markt ja ein echter Zauberer! Und war er selbst, der Müllerssohn Quentin, dann auch ein Zauberer?

      Nein, das konnte nicht sein. Oder doch?

      So drehten sich seine Gedanken ständig im Kreis, bis Medard ihn recht ruppig in die Seite knuffte und anmaulte: „Wenn Hoheit dann mit Nachdenken fertig sind, könntet Ihr vielleicht die Güte besitzen, Eure hochwohlgeborenen Hände an diesen schlichten Kornsack anzulegen?“

      Medard war echt sauer, aber er hatte ja recht: Quentin hatte wirklich schon genug Zeit mit Grübeln vertan. Mit ein paar entschuldigenden Worten machte er sich an die Arbeit.

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      Meara war in einem Landstreifen angekommen, den sie gut kannte. Als sie noch Lehrling in Filitosa war, hatte sie ab und zu mit anderen lange Wanderungen unternommen. Natürlich nicht nur zum Spaß: In dieser Gegend gab es seltene Kräuter, die in Filitosa nicht wuchsen. Schon ein paar Generationen vor ihr hatten die Bewohner den Versuch aufgegeben, diese Kräuter in Filitosa anzupflanzen: Es klappte einfach nicht. Und so wurden regelmäßig ein paar Lehrlinge ausgesandt, um die Vorräte wieder aufzufüllen.

      In Gedanken war sie wieder bei einer dieser Wanderungen, als sie an einem Wald vorbeikam, in dem sie schon einmal diese besonderen Kräuter gefunden hatte. Fast unbewusst ging sie vom Weg ab und in den Wald hinein.

      Wenig später kam sie an die Stelle, an der die Kräuter innerhalb eines kreisrunden Hexenrings wuchsen. Meara fing sofort an, die Kräuter vorsichtig abzuschneiden und in ihrem Beutel zu verstauen. Konnte ja nicht schaden, wenn sie den jetzigen Lehrlingen einen Weg abnahm, oder?

      Als sie mit den Kräutern fertig war, entdeckte Meara in der Nähe einen wilden Apfelbaum. Schnell pflückte sie ein paar von den reifen Früchten und setzte sich, um zu Mittag zu essen.

      Kauend und gleichzeitig grinsend blickte sie zu dem Hexenring hinüber. Wenn die Menschen wüssten, dass diese Hexenringe überhaupt nichts mit Zauberei zu tun hatten, sondern nur eine besondere Art von Pilzen waren ... Aber so waren die Kräuter jedenfalls bestens geschützt!

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      Milan hatte am Vormittag einem Bauern geholfen, eine Kuh wieder einzufangen, die sich von ihrem Strick losgerissen und anschließend auf den Weg gemacht hatte, um die große, weite Welt auf eigene Faust zu erkunden. Der Bauer war schon völlig verzweifelt, als Milan ihn traf, denn er war allein, und so konnte ihm die Kuh immer wieder ausbrechen, bevor er sie einfangen konnte.

      Nach ein paar schweißtreibenden Versuchen hatten sie die Kuh endlich zu fassen bekommen. Nun stand sie wieder friedlich mit den anderen beiden Kühen zusammen, die der Bauer ins nächste Dorf zum Schlachter bringen wollte.

      Der Bauer hatte sein Brot mit Milan geteilt, dessen Proviantbeutel ja auf dem Grund der Schlucht lag. Es war ein einfaches, aber schmackhaftes Mahl. Nach ein paar herzlichen Abschiedsworten war Milan dann in die eine, der Bauer in die andere Richtung weitergezogen.

      Jetzt war es bereits wieder Nachmittag. Vor Milan lag ein kleines Dorf. Er wäre zu gern in die Schänke eingekehrt, aber sein Geld war fast alle, und er wollte mit seinen zerrissenen Sachen auch nicht auffallen.

      Also umging er die Häuser in einem weiten Bogen. Gegen Abend kam er an einem Aussiedlerhof an, wo er um ein wenig Essen und ein Nachtlager im Heu bat. Die Bäuerin schnitt ihm eine dicke Scheibe leckeren Schinken ab und gab ihm ein halbes selbst gebackenes Brot dazu. Milan verschlang sein Essen mit großem Appetit und legte sich bald zum Schlafen nieder. Am Morgen sollte es in aller Frühe weitergehen.

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      Meara war bei Sonnenuntergang einfach weitermarschiert. Sie wusste zwar, dass sie noch ein gutes Stück Weg vor sich hatte, aber die Spannung hätte sie ohnehin nicht schlafen lassen.

      So stapfte sie zielstrebig durch die stille Nacht dahin. Gegen Abend war sie noch ein paar Wanderern begegnet, aber nun war sie ganz allein unter einem prächtigen Sternenhimmel.

      Ein neugieriges Käuzchen begleitete sie ein Stück ihres Weges und flatterte mal hierhin, mal dorthin von Baum zu Baum. Meara versuchte es zu locken, aber es blieb immer in sicherem Abstand. Nach einer Weile flatterte es ein paar Mal um sie herum und verschwand dann mit einem letzten „Hu-huuh!“ in die Richtung, aus der es gekommen war.

      Gegen Mitternacht erreichte Meara eine Quelle, die neben dem Weg aus einem Hang sprudelte. Durstig trank sie das kühle, erfrischende Wasser und setzte sich dann ins Gras, um zu verschnaufen. Noch etwa fünf Stunden, dann müsste sie am Ziel sein.

      In Gedanken an die Zeiten als Lehrling aß sie ihr letztes Stück Brot und dazu die beiden Äpfel, die vom Mittag noch übrig waren. Es war eine schöne Zeit gewesen in Filitosa. Immerzu hatte sie mit den anderen Lehrlingen Spaß gehabt, auch wenn es viel zu lernen gab. Es war eine kleine, behütete, starke Gemeinschaft gewesen. Meara war gespannt, ob das immer noch so war.

      Als sie aufgegessen hatte, trank sie noch ein wenig von dem frischen Wasser und machte sich wieder auf den Weg. Stunde um Stunde verging. Die Sterne zogen über Meara auf ihrer alten Bahn dahin. Es wurde immer dunkler, und wenn der Mond nicht gewesen wäre, hätte Meara ihren Plan irgendwann aufgeben müssen. Sie schaute nach oben. In zwei Tagen würde Vollmond sein. Hoffentlich ein gutes Omen für den Grund der Zusammenkunft, was auch immer es sein mochte.

      Meara kam Filitosa immer näher, und ihre Vorfreude wuchs mit jedem Schritt, den sie auf das Dorf der Magier zuging. Plötzlich spürte sie etwas.

      Sofort war sie vom Weg verschwunden und versuchte aus einem Gebüsch heraus den Grund für ihre Unruhe zu entdecken.

      Eine Weile sah sie nichts, nur den Weg vor sich, der auf eine Kreuzung zulief. Dann spürte sie mehr, als sie es wirklich sah, eine Bewegung neben dem Weg direkt an der Kreuzung. Mit all ihren Sinnen konzentrierte sie sich auf den Punkt, an dem sie die Bewegung wahrgenommen hatte.

      Schlagartig wich die Anspannung von ihr. Sie stand auf und ging mit einem Lächeln auf die Kreuzung zu. „Ich glaube, wir haben den gleichen Weg!“, rief sie in die Dunkelheit.

      Viele Wiedersehen und letzte Vorbereitungen