Volker Hesse

Der 7. Lehrling


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dass der Rappe wieder einigermaßen erfrischt war. Dann schwang sie sich auf seinen Rücken, tätschelte ihm noch einmal den Hals und setzte ihren Weg nach Nordosten fort.

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      Falk stand in Quentins Kammer und lachte. „Was ist, Du Langschläfer? Willst Du den ganzen Tag im Bett verbringen?“ Quentin öffnete verschlafen die Augen. Dann setzte er sich mit einem Ruck und einem schuldbewussten Gesicht auf. „Wie spät ist es? Wie lange habe ich verschlafen?“

      „Immer ruhig mit den jungen Pferden!“ Falk lachte immer noch, und langsam wich die Angst von Quentin, er könnte etwas falsch gemacht haben. „Ich hatte gedacht, wir könnten heute mit dem Gespann aufs Land fahren und ein Picknick machen. Aber wenn Du lieber im Bett bleiben willst ...“

      Da dämmerte Quentin endlich, dass Sonntag war. Dass sie heute nicht arbeiten mussten. Und dass Falk schon am gestrigen Abend von einer Überraschung gesprochen hatte.

      Picknick! Quentin sprang aus dem Bett. „Ich bin sofort unten!“, rief er und griff nach seinen Sachen.

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      Milan hatte Rückenschmerzen. Die Nacht über hatte er in einer unbequemen Haltung auf dem kalten Boden der Grube versucht zu schlafen. Dazu kam ein ziehender Schmerz in seinem linken Knöchel. Offensichtlich war sein Sturz in die Wolfsfalle doch nicht ganz ohne Folgen geblieben.

      Nach dem Licht, das von oben in sein Gefängnis fiel, konnte er abschätzen, dass es ungefähr Mittag sein musste. Gegessen hatte er schon seit dem vergangenen Abend nichts mehr. Immerhin war noch ein kleiner Schluck Wasser in seinem Schlauch, aber den wollte er sich für später aufheben.

      Ob Amina tatsächlich kommen würde? Immer wieder stellte er sich diese Frage, und inzwischen war er sich manchmal nicht ganz sicher, ob er nicht vielleicht beim Sturz mit dem Kopf angeschlagen war und das alles nur geträumt hatte. Er hatte sogar versucht, den Kontakt zu Amina wiederherzustellen, aber außer dass er sich an die seltsame Erfahrung der vergangenen Nacht erinnerte, war dabei nichts herausgekommen.

      Aus eigener Kraft konnte er der Falle nicht entkommen, das hatte er bei Tagesanbruch schnell festgestellt. Die Wände waren zu glatt und zu steil, als dass er irgendwo ausreichend Halt gefunden hätte. Er hatte zwar trotzdem versucht, an den Wänden hinaufzuklettern, aber das hatte ihm lediglich einen abgerissenen Fingernagel und mehrere schmerzhafte Landungen auf seinem ohnehin schon verletzten linken Fuß eingebracht. Irgendwann hatte er aufgegeben.

      So saß Milan grübelnd und hungrig in der Wolfsfalle und tat das Einzige, was möglich war: Er wartete.

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      Alle Bänke und Stühle standen in langen Reihen und bedeckten etwa ein Viertel des sanft abfallenden Hanges, das Podium für Korbinian hatten sie im Uferbereich des Sees auf mehreren Booten vertäut auf dem Wasser platziert. Meara war mächtig stolz auf ihre Arbeit, schließlich waren sie nur zu siebt gewesen!

      Das i-Tüpfelchen sollte die Beleuchtung werden. Gemeinsam hatten sie beim Mittagessen darüber beraten, und Sebastian war auf die Idee mit den Fackeln gekommen. Diese sollten zwischen den Bankreihen so aufgestellt werden, dass sie sich strahlenförmig vom Podium durch die Zuhörer ausbreiteten und so ein sehr stimmungsvolles Bild erzeugten.

      Meara war schon ganz gespannt, was Samuel dazu sagen würde!

      Gespräch mit einer alten Hexe

      „Komm herein, Korbinian!“, sagte eine Stimme hinter der Tür, an die das Oberhaupt der Magier geklopft hatte. Korbinian musste sich bücken, um nicht mit dem Kopf am niedrigen Türsturz anzuschlagen. Dann stand er in Linneas kleiner Hütte.

      Linnea war sehr alt. Niemand wusste genau, wie alt sie war, aber ohne Zweifel war sie mit weitem Abstand die älteste Hexe der Gemeinschaft. Korbinian war bereits als Junge zu ihr in die Lehre gegangen. Damals hatte er die Kunst der Heilung bei ihr gelernt. Und auch Korbinian war inzwischen ein alter Zauberer.

      Linnea war eine der wenigen, die außerhalb des Haupthauses wohnten. Ihre kleine Hütte lag noch hinter der Pferdekoppel am nördlichen Rand des Dorfes und duckte sich in den tiefen Schatten einer uralten, turmhohen Tanne.

      Die Hütte bestand aus nur drei Räumen. Der Kleinste war eine Kammer mit Vorräten und allerlei Fläschchen und Tiegeln mit kaum erkennbarem Inhalt. Nur ein klein wenig größer war ihre Schlafkammer. Außer dem Bett war nur noch Platz für einen winzigen Schrank. Im größten Raum stand auf der linken Seite am Fenster ein kleiner Tisch mit drei Stühlen. Dahinter, nah an der Tür zur Schlafkammer, stand ein großer, gemütlicher Sessel. Die Wand zwischen dem Hauptraum und den beiden Kammern war vollständig bedeckt von einem großen Regal mit Büchern. Nur der Herd, in dem immer ein Feuer brannte, fand noch einen kleinen Platz. Den meisten Raum im Zimmer beanspruchten ein großer Tisch in der Mitte und ein kleinerer langer Tisch an der anderen Fensterseite. Auf ihnen standen in scheinbar vollständigem Durcheinander unzählige Mörser, Schmelztiegel, Glasröhrchen, bauchige Flaschen, Vasen mit frischen und Dosen mit getrockneten Kräutern, Fläschchen und Gläser mit Flüssigkeiten und Pasten in allen möglichen und unmöglichen Farben, kurzum: die Ausstattung einer Heilerin.

      Linnea saß in dem großen Sessel und schaute von einem alten Buch auf, in dem sie offenbar gerade gelesen hatte. „Welch seltener Besuch“, lächelte sie Korbinian an. „Tu einer alten Frau einen Gefallen und mach uns einen Tee, mein Junge.“

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      Korbinian musste lächeln. Es gab nicht viele, die so alt waren, dass sie ‚Mein Junge‘ zu ihm sagen konnten – Linnea war eine dieser wenigen, und Korbinian fühlte sich dann immer ein bisschen wie damals, als er ihr Lehrling war.

      „Glaub nicht, dass ich nicht gesehen hätte, dass Du Dich gerade über eine alte Frau lustig machst!“, schalt sie ihn, allerdings mit einem Lächeln auf den Lippen. „Du kommst mich überhaupt viel zu selten besuchen. Ich dachte schon fast, Du hättest mich vergessen!“

      Sie winkte ab, als Korbinian zu einer Entschuldigung ansetzte. „Ich weiß ja. Dein neues Amt als Oberhaupt und die Suche nach dem siebten Lehrling.“ Als Korbinian sie erstaunt ansah, fuhr sie fort: „Guck nicht so. Ich mag zwar alt und tatterig sein, aber das eine oder andere bekomme ich schon noch mit, auch wenn ich nur selten ins Dorf gehe. Meinst Du, Du wärst der Erste meiner ehemaligen Schüler, der sich in den vergangenen Tagen zu mir verirrt hätte?“

      Linnea war aufgestanden und zu Korbinian hinübergegangen, der inzwischen am Herd das Wasser für den Tee kochte. „Komm, mein Junge, gieß uns beiden ein und dann wollen wir reden, Ich sehe doch, dass Du nicht nur wegen meiner leckeren Teesorten zu mir gekommen bist.“

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      Sie setzten sich an den kleinen Tisch, und Korbinian erzählte von Amina und wie sie scheinbar zu Milan Kontakt aufgenommen hatte.

      „Und Du denkst nun, sie hat das Zweite Gesicht.“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. „Das wäre wirklich ein großes Glück! Das Zweite Gesicht ist so selten, dass man manchmal den Eindruck haben könnte, es wäre nur eine Sage. Die letzte Hexe mit dem Zweiten Gesicht hat uns vor mehr als zwei Generationen verlassen, wie Du weißt. Und Du denkst, ich könnte ihr helfen, ihre Gabe zu verstehen und besser zu nutzen.“

      Wieder eine Feststellung. Manchmal war Linnea Korbinian unheimlich. Er nickte und nahm noch einen Schluck Tee.

      „Auch wenn ich gedacht hatte, ich würde mein langes Leben in Ruhe beschließen können, für diesen Zweck werde ich gern noch einmal die Ärmel aufkrempeln! Aber ich werde eine Menge Zeit brauchen, also schick sie am besten gleich, wenn ihre Lehrzeit um ist“, fuhr sie fort.

      Korbinian erhob sich und ging zum Herd hinüber. „Weißt Du, Linnea, ich hatte eigentlich gedacht, wir könnten die Suche nach dem Lehrling mit ihrer Begabung unterstützen ...“

      „Unmöglich“, war Linneas knappe Antwort. Aber Korbinian ließ nicht locker. Er argumentierte, bat und flehte, bis er Linneas Herz schließlich erweichte.