Volker Hesse

Der 7. Lehrling


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es funktioniert, ist so gering wie die Aussicht, dass Du jeden Tag zum Tee kommst.“

      Lächelnd schob sie ihn zur Tür. „Schick das Mädchen zu mir, wenn sie wieder da ist. Wir werden es versuchen. Mehr kann ich nicht versprechen.“

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      Amina war an der Stelle angekommen, an der der Weg vor dem Höhenzug nach Osten abbog. Sie hatte aus der Erfahrung des Vormittags gelernt und den Rappen meist nur noch im Schritt gehen lassen. Das hatte natürlich Zeit gekostet – die Sonne hatte den Zenit schon weit überschritten.

      Wie weit war es noch? Sie ritt ein Stück den Weg entlang, hielt an und rief nach Milan. Nichts. So ritt sie Stück um Stück weiter und versuchte ihr Glück. Weit vom Weg konnte Milan nicht sein, er hatte gesagt, er hätte ihn kurz vor seinem Sturz in die Wolfsfalle bereits gesehen.

      Milan saß am Boden der Grube, hungrig und durstig, und haderte mit seinem Schicksal, als er plötzlich glaubte, seinen Namen zu hören. Rasch stand er auf und lauschte. Ja, da war etwas, jemand rief seinen Namen, aber noch weit entfernt. Amina hatte es tatsächlich geschafft! Sein Herz machte einen Sprung.

      Er wartete noch ein wenig, um Amina näherkommen zu lassen. Das nächste Mal, als er seinen Namen hörte, war es schon viel näher. Milan holte tief Luft und schrie aus vollem Hals: „AMINA!! HIER BIN ICH!!“ Und noch einmal: „AMINA!! HIER BIN ICH!!“ Dann lauschte er.

      Es war bereits der fünfte oder sechste Versuch, als Amina die vertraute Stimme antworten hörte. Sie hatte ihn gefunden! Schnell schätzte sie die Richtung ein, aus der der Ruf gekommen war, und setzte den Rappen in Trab. Ein Stück weiter im Wald wiederholte sie ihren Ruf, und nun kam die Antwort aus nächster Nähe.

      Wenige Meter vor sich sah sie die Kante der Wolfsfalle. Geschickt ließ sie sich vom Rücken ihres treuen Begleiters fallen und ging am Rand der Grube in die Knie.

      „Milan!“

      „Amina! Ich bin so froh, dass Du da bist!“

      „Was soll ich tun?“

      „Hast Du ein Seil dabei?“

      „Ja. Ich binde es an einem Baum fest und werfe Dir das andere Ende herunter, dann kannst du daran hochklettern, in Ordnung?“

      „Ja, alles klar.“

      Wenige Augenblicke später war Milan seinem Gefängnis entkommen. Unschlüssig und ein wenig verlegen standen er und Amina sich gegenüber, bis Milan die Spannung durchbrach, Amina in seine Arme schloss und „Danke!“ in ihr Ohr flüsterte.

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      Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, und es wurde langsam Zeit für die Versammlung. Korbinian nahm das Abendessen in seinem Kontor zu sich. Er brauchte Ruhe, um seine Rede nochmals durchzugehen. Der Plan war ausgereift, die Reihenfolge der Zauberer und Hexen, Lehrlinge und Gesellen namentlich festgelegt. Würde es klappen? Wo war der eine Lehrling, den sie noch brauchten?

      Nach einigem nutzlosen Grübeln schob Korbinian schließlich die dunklen Gedanken beiseite. Es war ihr einziger Plan. Und er würde funktionieren!

      Korbinian stand auf und ging zum Spiegel. Er hatte ein festliches Gewand angelegt, um die Ernsthaftigkeit ihres Anliegens zusätzlich zu unterstreichen. Noch einmal kontrollierte er den Sitz seines Umhanges, dann machte er sich auf den Weg zum See.

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      Amina musste einige Zeit auf Milan einreden, bis sie ihn überzeugen konnte, dass er wegen seines verletzten Knöchels auf dem Rappen reiten und sie danebenhergehen würde. Milan gab nach, bevor es ernsthaft zum Streit kam. Allerdings nur unter der Bedingung, dass Amina hinter ihm aufsitzen würde, wenn sie müde war.

      Dann brachen sie auf. Es war längst dunkel, und Amina döste langsam beim Gehen ein. Sie hielt sich am Zaumzeug des Pferdes und trottete fast mechanisch neben dem Rappen her. Milan war Aminas Müdigkeit nicht entgangen. „Wann hast Du eigentlich das letzte Mal geschlafen?“, fragte er sie.

      „Gestern Abend ein wenig, bevor ich aufgebrochen bin“, antwortete Amina schläfrig.

      „Na komm, steig auf und ruh Dich ein bisschen aus. Der Rappe ist kräftig, er kann uns beide wenigstens ein Stück weit tragen.“ Er zog Amina mit einer Hand mühelos vom Boden hoch und hinter sich auf das Pferd. „Lehn Dich an meinen Rücken und halt Dich gut fest, damit Du nicht herunterfällst“, ermahnte er sie.

      Amina legte die Arme um Milans Hüften und verschränkte die Hände vor seinem Bauch. Dann legte sie den Kopf auf seinen breiten Rücken. Für kurze Zeit war ihre Müdigkeit wie weggeblasen. Ihr Magen oder irgendetwas anderes in dieser Gegend schlug einen Purzelbaum nach dem anderen. Sie schmiegte sich eng an Milan und seufzte ganz leise und sehr glücklich. Dann schlief sie ein.

      Milan ließ den Rappen weiter im Schritt gehen und bewegte sich so wenig wie möglich. Ihm war der leise Seufzer hinter seinem Rücken nicht entgangen. Er war wie elektrisiert, und das Kribbeln in seinem Magen, das er schon vor ein paar Tagen gespürt hatte, wollte nun nicht mehr weichen. Sein Herz pochte so laut in seinen Ohren, dass er schon glaubte, es könne Amina aufwecken. Er vergaß sogar zwischendurch, dem Pferd die Richtung nach Filitosa zu geben, aber der Rappe kannte seinen Weg nach Hause zum Glück auch allein.

      Der Plan

      Der Weg vom Haupthaus zum See war gesäumt von kleinen Lichtern. Korbinian ging ihn gemessenen Schrittes entlang. Dann stand er an der Stelle, an der der Boden sich zum See hin absenkte. Eine grandiose Kulisse tat sich vor ihm auf. Beeindruckt blieb er stehen.

      Wie die Strahlen eines Sterns waren Fackeln in aufsteigenden Linien am Hang verteilt. Zwischen den Fackeln waren lange Reihen von Bänken aufgestellt, auf denen die Hexen, Zauberer, Gesellen und Lehrlinge saßen. Das Zentrum der Fackeln war am Ufer, wo auf dem See ein Podest festgemacht war. Das Podest war selbst ebenfalls mit mehreren Fackeln versehen. Alle Aufmerksamkeit war durch die Beleuchtung geradezu automatisch auf diesen Punkt ausgerichtet.

      Auf der gegenüberliegenden Seite des Sees war der Mond gerade über dem Horizont aufgegangen. Er leuchtete groß und rund auf den See und die wartende Gemeinschaft.

      Es mussten weit über zweihundert sein, die dort auf den Bänken saßen. Niemand sprach ein Wort. Niemand hatte ihn bemerkt. Gespenstische Stille.

      Wie aus dem Nichts tauchte lautlos Meara neben ihm auf. Sie flüsterte: „Komm, Korbinian. Es ist alles bereit.“ Dann nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn mitten durch die Menge nach unten.

      Die Gesichter der Wartenden folgten ihm, aber noch immer sprach niemand ein Wort. Korbinian betrat das schwimmende Podest und wandte sich der Menge zu. Das Podest schwankte ein wenig, und kreisrunde Wellen ließen das Spiegelbild des Mondes zu abenteuerlichen Zerrbildern verschwimmen. Dann begann Korbinian mit seiner tiefen, vollen Stimme zu sprechen.

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      „Liebe Brüder und Schwestern! Ich bin glücklich, dass Ihr in dieser Menge erschienen seid, zeigt es doch, dass die meisten Magier und Gesellen es rechtzeitig geschafft haben. Euch gilt mein besonderer Gruß. Es würde vermutlich mehrere Abende füllen, jedes einzelne Abenteuer zu hören, das ihr auf eurem Weg hierher erlebt habt, aber dafür ist leider nicht die Zeit. Lasst euch im Namen aller anderen sagen: Wir sind glücklich, dass ihr unversehrt hier eingetroffen seid. Die wenigen Übrigen, die noch nicht hier sind, werde ich in den nächsten Tagen gesondert begrüßen.“ Er wandte sich den jüngeren Teilnehmern zu.

      „Liebe Lehrlinge. Es wartet eine Herausforderung auf euch, die vorher noch niemals ein Lehrling bestreiten musste. Ich bin trotz alledem zuversichtlich, dass ihr sie meistern werdet. Immerhin werdet ihr auf Eurem Weg in erfahrener Begleitung sein. Ihr werdet die Erwartungen, die wir in euch setzen, hervorragend erfüllen, dessen bin ich mir sicher.

      Nun denn. Eine nie da gewesene Aufgabe liegt vor uns allen. Das meiste wird sich in den letzten Tagen bereits herumgesprochen haben, aber lasst es mich noch einmal zusammenfassen. Wir müssen einen Lehrling finden. Sie oder er ist