Miriam Frankovic

Kira und das Känguru


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schob es seinen Kopf mit den großen Ohren auch schon durch den Bildschirm. Die Vorderpfoten kamen hinterher, und schließlich quetschte es seinen pelzigen Körper durch den Monitor und plumpste mit einem Knall aus dem Computer heraus, direkt auf meinen Schreibtisch, wo es mit seinem Schwanz mein Mathebuch vom Tisch fegte. „Puh“, stöhnte es. „Ganz schön eng, dein Computer.“ Es kletterte unbeholfen vom Schreibtisch, baute sich in seiner voller Größe von ungefähr zwei Metern vor mir auf und schmatzte laut. Ich streckte meine Hand aus, um mich davon zu überzeugen, dass ich am helllichten Tag träumte. Aber statt ins Leere zu greifen, bekam ich seine flaumige Brust zu fassen. „Nicht!“, protestierte es. „Da bin ich kitzlig.“ Es war also kein Traum. Das Känguru stand leibhaftig vor mir. Plötzlich zog es ein paar rohe, glitschige Fische aus seinem Beutel und streckte sie mir hin. Ich nahm die Gabe entgegen und sah diesen ältesten Ureinwohner aller Australier verdutzt an. „Was soll ich damit?“ Es klopfte sich auf den Bauch. „Ich habe Hunger.“ Eigentlich war das auch kein Wunder nach einer so langen Reise. Jedenfalls dachte ich, dass es eine lange Reise hinter sich hatte. Also ging ich in die Küche und briet und würzte die Fische. Ich wunderte mich, da ich bis jetzt geglaubt hatte, dass Kängurus sich nur von Gras, Beeren und anderem Grünzeug ernähren. Als mein Vater das Känguru, das es sich auf unserem Wohnzimmerteppich gemütlich gemacht hatte, später vergnügt vor sich hin schmatzen sah, war er nicht besonders erstaunt. Es gab nur wenig, was ihn wirklich aus der Fassung bringen konnte. Also nahm er die Anwesenheit unseres ungewöhnlichen Gastes ohne sich zu wundern hin.

      In den kommenden Tagen machte das Känguru, das wir auf den Namen Cangoo getauft hatten, keine Anstalten auszuziehen. Ich glaube, es fühlte sich sogar richtig heimisch bei uns. Als ehemaliger Steppenbewohner hatte es große Probleme damit, sich in einer möblierten Wohnung zurechtzufinden und stieß alles um, was nicht niet- und nagelfest war. Es verging kein Tag, an dem er nicht einen Stuhl oder Tisch umrannte oder mit seinem buschigen Schwanz die Gläser von den Regalen fegte. Da es Januar war und Cangoo Schnee und Kälte nicht gewohnt war, fror er dauernd, und mein Vater lieh ihm einen dicken, gefütterten Mantel von sich. Der war Cangoo allerdings viel zu klein. Das Auffallendste an ihm war sein ständiger Hunger. Andauernd lag er uns damit in den Ohren. Weil wir ihn mit all seiner Tollpatschigkeit inzwischen lieb gewonnen hatten und nicht mehr hergeben wollten, ging fast all unser Geld für Lebensmittel drauf. Am liebsten mochte Cangoo gebratene Fische. Zum Frühstück fraß er gern Süßes. Morgens verschlang er manchmal zwanzig Tortenstücke auf einmal. „So geht das nicht weiter“, sagte mein Vater eines Tages zu mir. „Er frisst uns die letzten Haare vom Kopf.“ Vielleicht hatte Cangoo uns heimlich belauscht. Denn am nächsten Tag schleppte er ächzend vier prall gefüllte Einkaufstüten an und stellte sie neben den Kühlschrank. Wir waren ziemlich verblüfft, als er dann noch zwei Dutzend Fische, zehn Liter Milch, drei Sahnetorten und ein paar Pfund Kartoffeln aus seinem Beutel zog und alles auf dem Küchentisch stapelte. Sogar an Spülmittel, Spaghetti und Tomatensoße für uns hatte er gedacht, obwohl ich eigentlich wirklich gern einmal etwas anderes als Spaghetti gegessen hätte. „Ich habe totalen Hunger“, nuschelte er, schnappte sich die Pfanne und briet die Fische. Cangoo lernte wirklich sehr schnell. Mein Vater sah ihn verblüfft an. „Wo hast du das ganze Zeug her?“ Cangoo goss noch etwas Olivenöl in die Pfanne. „Aus dem Internet natürlich.“ Mein Vater runzelte die Stirn. „Wie? Aus dem Internet?“ Cangoo sah ihn an, als ob er schwer von Begriff wäre. „Ist doch ganz einfach. Im Internet gibt es jede Menge Seiten mit Lebensmitteln. Feinkosthändler zum Beispiel. Die haben alle Warenkörbe. Und da hab ich die Sachen reingetan.“

      „Und wer hat dir das Geld dafür gegeben?“ Wieder sah Cangoo meinen Vater an, als ob er vom Mond käme. „Geld?“, fragte er dann. „Hast du schon einmal von jemandem gehört, der Geld in einen Computer steckt? Ein Computer ist schließlich kein Spielautomat.“ Kopfschüttelnd zog er seine fertig gebratenen Fische aus der zischenden Pfanne, warf sie auf einen Teller und träufelte Zitrone drauf. Mein Vater und ich packten die Einkaufstüten aus, aus denen lauter leckere Delikatessen zum Vorschein kamen. Forellenfilets, frische Champignons, Tortellini in Sahnesoße, Tiramisu-Eis, Zitronenlimonade, Himbeeren, Wiener Würstchen, Rinderfilets, Erdbeertorte und Schweizer Schokolade. Sogar an eine Flasche Wein für meinen Vater hatte er gedacht. An diesem Abend gab es ein Festmahl, wie wir es schon seit Jahren nicht mehr erlebt hatten. Die Spaghetti verstauten wir in der hintersten Ecke unseres Küchenschranks. So ging es auch in den kommenden Tagen weiter. Jeden Tag quetschte unser neuer Mitbewohner sich aufs Neue in den Computer hinein und kam kurz darauf mit prall gefüllten Einkaufstüten und einem vollen Beutel zurück. Einmal brachte er sogar ein paar Kanister Heizöl mit. Denn in unserer Wohnung war es so kalt wie in einer Eishöhle. „Ich brauche zum Beispiel ein Bett“, verkündete Cangoo eines Tages. Ich war froh, dass er das Thema ansprach. Denn der Wohnzimmerteppich war auf Dauer keine Lösung, und mein Bett war zu klein für uns beide. Entschlossen sah Cangoo uns an. „Ich will auf einem Bonbon schlafen. Auf einem Himbeerbonbon.“ Es dauerte nicht lange, bis er einen großen Himbeerbonbon aus dem Internet besorgte, der von nun an sein Bett war. Ich fragte mich, wo er den wieder aufgegabelt hatte. Wahrscheinlich auf einer Seite für ausgefallene Möbelstücke. Aber inzwischen hatten wir uns schon daran gewöhnt, dass jeden Tag etwas Neues, Merkwürdiges passierte, seit er bei uns eingezogen war. „Ich brauche Gesellschaft“, verkündete Cangoo eines Tages. Ich glaube, es war ein Dienstag. „Freunde zum Beispiel. Zu Hause in Alice Springs hatte ich zwanzig. Und hier keinen einzigen. Das ist total langweilig.“ Das konnte ich nur zu gut verstehen. Niemand kommt auf Dauer ohne Freunde aus. Auch kein Känguru.

      „Vielleicht sollte ich noch einmal im Internet gucken, ob ich noch ein Känguru finde“, flüsterte ich meinem Vater zu. Cangoo schüttelte entschieden den Kopf. „Kein zweites Känguru!“ Unser neuer Mitbewohner stand eben gern im Mittelpunkt. „An was für einen Freund denkst du denn?“, fragte ich ihn.

      „Das kann man sich nicht vornehmen“, erwiderte er geheimnisvoll. „Die wichtigen Dinge im Leben passieren von ganz allein. Je mehr man etwas will, umso kleiner ist die Chance, dass man es bekommt. Deshalb darf man zum Beispiel nie etwas wollen. Man kann es sich nur wünschen. Aber wenn man sich etwas wirklich wünscht, mehr als alles andere, dann schickt man den Wunsch ins Internet oder in den Himmel, und irgendwann wird er erfüllt. Zum Beispiel.“ Ich sah Cangoo beeindruckt an. Meistens benahm er sich ziemlich kindisch, aber manchmal warf er mit klugen Sprüchen nur so um sich. „Lernt man so etwas in Australien?“

      „Ich zum Beispiel brauchte mal Luftveränderung“, wich er meiner Frage schmatzend aus. „Und da bin ich hergekommen.“

      „Aber wie? Du kannst doch unmöglich den ganzen Weg zu Fuß zurückgelegt haben.“ Ich hoffte, endlich eine Antwort auf die Frage zu bekommen, die ich mir schon stellte, seit er bei uns eingezogen war. Cangoo zwinkerte mir verschwörerisch zu: „Zum Beispiel versetzt der Glaube Berge. Und Schiffe und Flugzeuge auch. Außerdem hatte ich keine Lust, als Känguru-Emu-Spieß mit Süßkartoffelpüree auf einer Speisenkarte zu landen.“

      „Und deine Freunde in Alice Springs? Vermisst du die nicht?“, wollte mein Vater wissen. Cangoo stopfte sich einen rohen Fisch ins Maul. „Wir schicken uns E-Mails. Das ist total krass und zum Beispiel fast gebührenfrei.“ Großzügig hielt er mir das Schwanzende des Fisches hin. Ich schüttelte dankend den Kopf und sah mit leichtem Schaudern zu, wie er sich das ölige Schwanzende in sein geöffnetes Maul hielt. „Außerdem nerven die“, fuhr er kauend fort. „Jeder will immer der Größte sein. Dabei bin ich der Größte, zum Beispiel. Dann kommt erst einmal lange gar nichts, und dann wieder ich.“ Mein Vater malte einen roten Kreis auf seine Leinwand. „Hast du noch nie etwas von Nächstenliebe gehört?“ Cangoo schüttelte den Kopf. „Totaler Quatsch. So etwas gibt es nur in Büchern. Und die halten einen zum Beispiel vom Leben ab. Wer liest, hat keine Zeit mehr zum Essen. Und wer nicht isst, der fällt tot um.“ Als Beweis biss er ein Stück von einer Marzipantorte ab. Mein Vater sah von seiner Leinwand auf. „Es gibt auch noch andere Dinge zwischen Himmel und Erde.“

      „Marzipantorte zum Beispiel“, antwortete Cangoo und hielt mir die angefressene Torte fröhlich an die Lippen. Ich biss ein Stück davon ab und ließ mir den süßen, cremigen Rand genüsslich auf der Zunge zergehen. Und mit einem Mal wurde mir klar, dass Cangoo viel weniger egoistisch war als er immer tat. Er machte nur nicht gern viele Worte um seine guten Taten.