Miriam Frankovic

Kira und das Känguru


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Dame mit schwarzen, zu einem Dutt aufgetürmten Haaren und einer Brille, die sie an einer Kette um den Hals trug. „Das ist Frau Steinhaus“, erklärte ich ihm. „Ihr gehört die Konditorei nebenan.“ Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, lief Cangoo schon wieder das Wasser im Mund zusammen. Ich knuffte ihn in die Seite. „Reiß dich zusammen. Und wehe, du klaust Kuchen!“ Frau Steinhaus wunderte sich zwar etwas über unseren neuen Mitbewohner, sagte aber nichts und verschwand wieder in ihrem Laden. Ich zeigte auf den Gitterzaun, der das kleine, ziemlich schief stehende Haus, in dem unsere Dachwohnung war, von dem modernen Gebäude aus Glas nebenan trennte. „Und hier gibt es im Sommer die saftigsten Brombeeren, die du dir vorstellen kannst. Sie wachsen hier durch, genau zwischen den Zaunlöchern.“ Ich lief ein paar Schritte weiter und zeigte ihm ein rotes Backsteinhaus, das rechts von unserem stand. „Ganz oben wohnt meine Lieblingsnachbarin, Frau Meyer. Manchmal, wenn mein Vater oder ich keine Lust zum Kochen haben, esse ich bei ihr. Sie ist achtzig, groß und kräftig und kocht den besten Haferflockenbrei mit Zimt, den es gibt. Und ihre Weihnachtsplätzchen sind genial.“ Cangoo fuhr sich mit der Zunge über die Schnauze, was ein Zeichen dafür war, dass er Frau Meyers Plätzchen für sein Leben gern mal probiert hätte. „Jetzt will ich das Meer sehen!“, rief er entschlossen, zog seine Wollmütze tiefer ins Gesicht und hoppelte neben mir auf der Straße her. Ein eisiger Wind fegte uns ins Gesicht, als wir die schmale Straße Richtung Wald entlangliefen, die zum Meer führte. Auf dem Weg zur Promenade zeigte ich Cangoo, wo ich zur Schule ging, in welcher Imbissbude die Pommes Frites am leckersten schmeckten und wo man im Sommer das cremigste Eis bekam. Schließlich kamen wir an einem grauen Haus mit Gardinen vor den Fenstern vorbei. Der Vorgarten des Hauses war mit Stacheldraht eingezäunt. Ein Cockerspaniel, der im Garten hin und her raste, bellte aus Leibeskräften, als wir näher kamen. „Das ist Rocko“, erklärte ich. „Er bellt jedes Mal, wenn jemand vorbeigeht.“ Cangoo sah den Hund teilnahmsvoll an. „Kein Wunder. Eingesperrt zu sein, macht zum Beispiel keinen Spaß.“ Bisher hatte ich eigentlich immer gedacht, dass Rocko es nicht gern hatte, wenn ihm jemand zu nahe kam. Aber vielleicht würde Rocko wirklich aufhören zu bellen, wenn er frei herumlaufen könnte. Wir bogen in den Waldweg ein, kamen auf eine große Wiese zu, und ich zeigte Cangoo meinen Lieblingsplatz. „Hier stand letztes Jahr noch eine Trauerweide. Aber dann hat ein Orkan sie entwurzelt.“ Nachdem ich ihm noch den Froschteich, den Leuchtturm, die Fähre und schließlich das Meer gezeigt hatte, machten wir noch einen kleinen Umweg zu meinem Lieblingsplatz, dem Seerosenteich, mit der einsamen, halb verfallenen Villa, die sich am Rand des zugefrorenen Teichs erhob. „Vor ungefähr 200 Jahren hat der Herzog von Aurelien hier gelebt. Aber seit er gestorben ist, steht das Haus leer“, erklärte ich Cangoo. „Warum zum Beispiel?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Es wäre viel zu teuer, die Villa wieder instand zu setzen. Und die reichen Leute kaufen sich lieber ein modernes Haus. Außerdem wird sie wahrscheinlich sowieso bald abgerissen.“ Grüblerisch betrachtete Cangoo das alte Haus mit den halb blinden Fenstern. „Können wir zum Beispiel nicht da einziehen?“ Ich schüttelte den Kopf. „Mein Vater ist ja schon froh, wenn er das Geld für die Wohnungsmiete jeden Monat zusammenbekommt.“ Ziemlich durchgefroren machten wir uns wieder auf den Nachhauseweg. Ich hatte das Gefühl, dass unsere kleine Stadt am Meer Cangoo gefiel. Und das machte mich froh. Als ich mich am nächsten Morgen an einem verregneten, grauen Tag aus dem Bett quälte, saß Cangoo wie angewurzelt auf einem unserer Wohnzimmersessel und starrte gebannt den Stuhl an, der am anderen Tischende stand. Er war so versunken, dass er sogar vergaß, den Zimt-Pfannkuchen, den er sich gerade ins Maul gestopft hatte, zu Ende zu kauen. „Siehst du Gespenster?“, murmelte ich verschlafen. „Bloß eins“, antwortete er sehr ernsthaft, ohne seinen Blick abzuwenden. „Es heißt Albert.“ Mein Vater sah von seiner Zeitung auf, tippte sich dreimal mit dem Finger auf die Stirn und ging in die Küche, um Kaffeewasser aufzusetzen. „Er ist 873 Jahre alt“, sagte Cangoo, den es überhaupt nicht störte, dass mein Vater ihm nicht glaubte. „Und unsterblich ist er auch.“

      „Niemand ist unsterblich“, belehrte ich ihn.

      „Albert schon. Hat er mir jedenfalls erzählt.“

      „Wenn er reden kann, wieso sagt er dann nichts?“, fragte ich. „Weil er zum Beispiel seit ein paar hundert Jahren nicht mehr geredet hat und sich erst einmal wieder dran gewöhnen muss.“ Ich hockte mich neben Cangoo und starrte nun ebenfalls den leeren Stuhl an. „Ich sehe keinen Albert.“

      „Du musst genau hingucken.“ Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und machte Stielaugen. Kein Albert weit und breit. Cangoo wedelte ungeduldig mit seinem buschigen Schwanz und beförderte eine Obstschale vom Tisch. Apfelsinen und Äpfel rollten auf den Boden. „Siehst du nicht, wie er leuchtet?“ Ich kniff meine Augen zusammen und sah plötzlich eine Art rosa Hülle in der Größe einer mittelgroßen Dschungelpflanze vor mir. Aber das konnte ich mir auch genauso gut nur einbilden. „Du meinst, Albert steckt unter dieser Hülle?“

      „Er kann verschiedene Gestalten annehmen“, erklärte mir Cangoo. „Im Moment ist er unsichtbar. Dich kennt er noch nicht. Logisch, dass er sich da erst einmal bedeckt hält.“

      „Und seit wann kennst du ihn?“

      „Seit heute Morgen um zehn vor fünf. Da wollte er im Internet zwei Kabel zusammenlöten. Die Dinger sind in Flammen aufgegangen. Und auf der Feuerwolke ist er aus dem Computer in dein Zimmer geschleudert worden.“

      „Warum bitten wir ihn nicht, mit uns zusammen zu frühstücken? Albert hat doch sicher Hunger.“ Cangoo schüttelte den Kopf. „Albert ernährt sich zum Beispiel nur von geistigen Dingen. Von Literatur.“

      „Albert liest?“ Cangoo nickte nachdenklich. „Meistens philo... philo...“ Der Rest ging in einem unverständlichen Kauderwelsch unter. Mein Vater, der wieder reinkam und den Anfang des Gesprächs mitbekommen hatte, sagte: „Du meinst, er liest philosophische Bücher?“ Cangoos' Gesicht erhellte sich. „Genau.“

      „Und was soll das sein?“, fragte ich stirnrunzelnd.

      „Irgendetwas ziemlich Kompliziertes. Frag ihn am besten selbst“, meinte Cangoo.

      „Warum heißt der Mensch Mensch?“, erklang plötzlich ein dünnes Stimmchen von dem leeren Stuhl.

      „Keine Ahnung“, gab ich zurück. „Weil ihn irgendjemand mal so genannt hat.“

      „Wann ist ein Tier ein Tier? Wieso haben wir ein Gehirn zum Nachdenken? Wieso denken wir manchmal so einen Blödsinn? Und warum kann ein Känguru hüpfen?“, fragte die Stimme wieder. „Das sind ziemlich schwierige Fragen“, erwiderte mein Vater und stellte seine Kaffeetasse, meinen Tee und einen Eimer heißen Kakao für Cangoo auf den Tisch. „Nein. Das ist Philosophie“, antwortete das Stimmchen.

      „Mir egal. Willst du auch ein Brötchen?“, fragte Cangoo die Hülle, die unruhig in der Luft hin- und herschwebte. Wieder ertönte die Stimme. „Ich habe keinen Hunger. Ich habe heute Morgen schon fünf Bücher gegessen und bin pappsatt.“

      „Kann ich mir vorstellen“, warf mein Vater trocken ein und schlug die Zeitung wieder auf. „Wie ist es, wenn man ewig lebt?“, fragte ich Albert.

      „Total langweilig“, antwortete er. „Tagaus, tagein dasselbe. Ohne Ende.“ Die Stimme klang so betrübt, dass mir vor lauter Mitgefühl fast die Tränen kamen. „Vielleicht werden Gespenster einfach nur viel älter als wir und sterben erst mit tausend oder so“, flüsterte ich Cangoo nachdenklich zu. Der blickte die Hülle fragend an. „Wann stirbst du denn so zum Beispiel?“, fragte er neugierig. „Gar nicht“, sagte das Stimmchen. „Ich bin eine Art Seele ohne Körper.“ Ich nickte. Geschichten über unsterbliche Seelen hatte ich schon in meinen Indianerbüchern gelesen, auch wenn ich nicht genau kapierte, was damit gemeint war. „Hattest du denn früher einen Körper, als du noch jung warst?“ Wieder flatterte die Hülle unruhig auf und ab. „Früher war ich Baumeister von Beruf, dann Hofnarr am Königshof, später Weber und dann Opernsängerin in Mailand. Die anderen Sachen habe ich im Lauf der Zeit vergessen.“ Cangoo, der sich nie lange auf ein Gespräch konzentrieren konnte, sprang auf, hoppelte in die Küche und kam kurz darauf mit einem Berg übereinandergestapelter und mit Erdbeermarmelade bestrichener Pfannkuchen zurück. „Ich glaube, Albert ist nicht der Freund, auf den ich gewartet habe“, wisperte er mir kauend zu. „Das kann man