Miriam Frankovic

Kira und das Känguru


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und kam wirklich ohne Essen und Trinken aus. Das Sprechen hatte er wieder aufgegeben. Wir bemerkten ihn nur dadurch, dass ab und zu eine Lücke in unserem Bücherregal klaffte, die später wieder geschlossen wurde. Manchmal sah man eine rosa Hülle durch die Wohnung schweben, die sich in ihrer Größe dauernd veränderte. Aber meistens zog Albert es vor, unsichtbar und auch unhörbar zu bleiben. Ab und zu spürte ich einen Windhauch am Hals und redete mir ein, dass er ganz in der Nähe war. Aber seit ein paar Tagen gab er keinen Mucks mehr von sich. Ich fragte mich, ob Gespenster auch Gefühle hatten oder ob ihnen während ihres unwahrscheinlich langen Lebens einfach alles egal wurde. Ich hätte mich gern mit Albert darüber unterhalten und ertappte mich manchmal dabei, wie ich mit der Luft sprach, wenn ich allein war. Aber ich bekam keine Antwort mehr. Dass Albert noch da war, merkte ich nur an den Lücken im Bücherregal. Vielleicht hatte er einfach keine Lust mehr zu reden. Mein Vater war davon überzeugt, dass er schlechte Erfahrungen mit Menschen gemacht hatte. In den nächsten Wochen ging alles wie gewohnt weiter. Ich ging wieder zur Schule, und mein Vater malte ein Bild nach dem anderen. Mir gefielen seine Bilder. Trotzdem wollte niemand eins kaufen. Cangoo verbrachte die Tage mit Angeln in Eislöchern und nahm ab und zu an einem Kängurutreffen im Internet teil, wo es immer eine Menge zu erzählen und zu essen gab. Seine Gedanken drehten sich hauptsächlich um den Speiseplan. „Woran denkst du?“, frage mein Vater ihn eines Morgens, als er beim Frühstück sorgenvoll seine Stirn in Falten legte. „Ans Mittagessen zum Beispiel.“

      „Aber du frühstückst doch gerade. Und hinterher wirst du satt sein.“ Cangoo warf ihm einen Blick zu, der zeigen sollte, dass mein Vater nicht die geringste Ahnung hatte „Zum Beispiel im Augenblick leben ist gut“, erwiderte er nachdrücklich. „Aber wenn ich mir nicht jetzt schon überlegen würde, was ich später esse, müsste ich mich vielleicht mit etwas zufriedengeben, was ich nicht mag. Außerdem kann ich mich dann auf etwas freuen.“ Das, was er sagte, klang logisch. Trotzdem wollte mein Vater, der manchmal ziemlich dickköpfig sein konnte, unbedingt Recht behalten. „Aber wenn du jetzt nicht übers Mittagessen nachdenken und stattdessen etwas an die frische Luft gehen würdest, könntest du die wärmenden Sonnenstrahlen genießen.“

      „Das kann ich auch, wenn ich dabei übers Mittagessen nachdenke. Dann freue ich mich nämlich doppelt“, gab er ihm prompt zur Antwort. „Und zum Beispiel hält doppelt besser.“ Er blinzelte mir fröhlich zu und verschlang zwei weitere Pfannkuchen. Meinem Vater blieb nichts anderes übrig, als sich geschlagen zu geben.

      Nach wenigen Wochen hatte Albert alle Bücher, die bei uns im Regal standen, verschlungen. Er las ungefähr vier Bücher am Tag, was meinen Vater, der selbst gern las, beeindruckte. Wenn er das seit 873 Jahren gemacht hatte, musste er sehr klug sein und genau wissen, was die Welt zusammenhielt, meinte er. Da er Albert mochte, bat er Cangoo, ein paar neue philosophische Bücher aus dem Internet zu holen. Denn die Frage, woher die Menschen, Tiere und Pflanzen wohl kommen, warum sie auf der Welt sind und wohin sie gehen, wenn sie die Welt wieder verlassen, schien Alberts Lieblingsgebiet zu sein. Aber immer noch hatte er seit dem Tag seines Eintreffens kein Wort mehr mit uns gesprochen.

      Anfang Februar wurde Cangoo unruhig, weil er immer noch keinen richtigen Freund hatte. Mit Alberts Liebe zu Büchern konnte er nicht viel anfangen. Außerdem war Albert auch ihm gegenüber inzwischen völlig verstummt. Mein Vater glaubte, dass er in seinen früheren Leben zu viel geredet hatte, sodass ihm die Freude daran ein für alle Mal vergangen war. Nachts faltete er sich zusammen und schlief in unserer Dattelpalme auf der Fensterbank, wenn er nicht gerade wieder mit einer unsichtbaren Taschenlampe ein Buch verschlang. Viel Schlaf brauchte er anscheinend nicht. Meinem Vater kam es so vor, als wenn die Nächte in seinem Schlafzimmer seit Alberts Einzug heller geworden wären. Ganz sicher war er aber nicht. „Glaubst du, Albert liest auch nachts?“, fragte ich Cangoo. Er schüttelte den Kopf. „Er hat mir mal erzählt, dass er nachts mit seinem Engel chattet.“

      „Engel? Gibt es denn welche?“

      „Albert meint, Ja. Jeder hat einen Engel, manche zum Beispiel auch zwei.“ Na schön, wenn es einen lieben Gott gab, wie meine Mutter mir beigebracht hatte, bevor sie uns verlassen hatte, sprach schließlich nichts dagegen, dass es auch Engel gab. „Und Menschen? Haben die auch einen Engel?“ Cangoo sah fragend die Hülle an, die gerade oben am Fenster entlangschwebte. „Jetzt sag doch endlich mal wieder etwas“, murrte er. „Nur die, die ihn haben möchten“, erklang Alberts dünnes Stimmchen plötzlich wieder, denn das Thema schien ihn zu interessieren. „Aber nur diejenigen, die an Engel glauben, können sie auch sehen.“ Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich schon einmal einen gesehen hatte. Aber geträumt hatte ich bereits von einem. „Manchmal nehmen sie auch Menschengestalt an, wenn es nötig ist“, fuhr Albert fort. „Aber jeder, der ihr Gesicht als Mensch gesehen hat, vergisst es sofort wieder. Das muss so sein.“

      „Warum?“, fragte ich neugierig.

      „Die Menschen dürfen das wahre Gesicht des Engels nicht sehen“, antwortete Albert. „Wenn sie es erblicken, müssen sie sterben.“

      „Mir egal. Ich geh jetzt Schlittschuh laufen. Aber vorher brauche ich noch eine Stärkung“, sagte Cangoo und hoppelte mit zwei großen Sprüngen in die Küche. Kurz darauf duftete es in der ganzen Wohnung nach geschmolzener Butter.

      Watahulu und die Dichterlesung

      Seinen ersten richtigen Freund, einen Elefanten, fand Cangoo, als er eines Abends Anfang März durchs Internet kurvte. Er war auf der Suche nach tropischen Früchten und landete dabei in Südafrika. Watahulu erzählte Cangoo, dass er unbedingt eine klimatische Veränderung bräuchte. Als die beiden auf meiner Homepage ankamen, die ich inzwischen eingerichtet hatte, verkleinerte Albert ihn und Cangoo mit einem Zauberspruch, sodass beide ganz leicht aus dem Bildschirm herauskriechen konnten. „Vergrößere mich wieder“, bat Watahulu ihn, als er in Miniaturformat auf meinem Schreibtisch herumspazierte. „Mich auch!“, rief Cangoo. „Kehrt schnell zurück in eure Gestalt. Nach dem langen Gewirr im Kabelwald“, rief Alberts dünnes Stimmchen und zauberte beide wieder auf ihre normale Größe zurück. Obwohl mein Vater Elefanten mag, war er am Anfang dagegen, Watahulu bei uns aufzunehmen. Aber Cangoo drängelte so sehr, dass er sich erweichen ließ. Bedrückt überlegte mein Vater, dass wir Watahulu unmöglich zumuten konnten, in unserem winzig kleinen Haus zu übernachten. Außerdem fragte er sich besorgt, ob der Boden nicht durchbrechen würde bei den 600 Kilo, die er ungefähr wog. „Kein Problem“, beruhigte Cangoo ihn, als hätte er seine Gedanken erraten. „Albert kann ihn ja ab und zu verkleinern. Und im Garten ist auch Platz.“

      „Und was soll er fressen?“ Soviel ich wusste, fraßen afrikanische Elefanten mindestens hundert Kilo am Tag. Und mein Vater dachte mit Schrecken an unsere Wasserrechnung, falls Watahulu mal keine Lust hatte, Wasser aus dem Internet zu trinken. „Am liebsten mag er Traubenzuckerbonbons“, sagte Cangoo versonnen. „Und Bananen.“ Bald zeigte sich, dass Watahulu nicht nur Bananen mochte, sondern auch klassische Musik. Jedes Mal, wenn mein Vater ein Geigen- oder Klavierkonzert auflegte, spitzte er seine großen Ohren und hob seinen Rüssel anerkennend ein Stück hoch. Wenn er gut gelaunt war, trompetete er zum Leidwesen von Cangoo alle Melodien mit, denn er hatte ein phänomenales Gedächtnis und erinnerte sich an jede Note, die er gehört hatte. Aber er war ziemlich schüchtern, und es musste schon viel passieren, bis er mal einen Satz zusammenbrachte. Wir nahmen ihn bei unseren Spaziergängen immer mit zum See. Für Watahulu gab es kein größeres Vergnügen, als sich in die Fluten zu stürzen und fröhlich schnaubend eine Weile im Wasser zu plantschen. Als er ein wenig Vertrauen zu uns gefasst hatte, erzählte er uns, dass er südlich der Sahara aufgewachsen war. Landwildjäger hatten seine Eltern wegen ihrer Stoßzähne getötet. Jedes Mal, wenn er daran dachte, dass Teile seiner Eltern zu Schmuckstücken und Elfenbeinschnitzereien verarbeitet worden waren, schauderte es ihn und Krokodilstränen flossen aus seinen Augen. Dann hatten wir die größte Mühe, ihn wieder aufzumuntern. Nur der Gedanke an ein echtes Schlammbad versetzte ihn in bessere Laune.

      Bei unseren täglichen Parkspaziergängen zogen wir es vor, ihm eine Tarnkappe aufzusetzen, die Albert erfunden und ihm geschenkt hatte. Denn er fraß mit Vorliebe Wiesen kahl und zerkleinerte alle Äste, an die er herankam. Sogar unser Gemüse und Brot mussten wir vor ihm in Sicherheit bringen, weil er beides fast noch