Miriam Frankovic

Kira und das Känguru


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er hatte in seinen jungen Jahren schon vieles erlebt und war froh, dass er nun einiges davon verstand. Cangoo ärgerte diese Zuneigung zwischen den beiden. Eifersüchtig versteckte er eines Tages die Tarnkappe, sodass Watahulu auf seinen täglichen Parkspaziergang verzichten und sich stattdessen Wälder im Internet heraussuchen musste, in denen er spazierengehen konnte. Ein Känguru ging ja gerade noch so. Aber ein Känguru und ein Elefant ... Wahrscheinlich hätten uns die meisten Leute ziemlich blöd angesehen, wenn sie uns mit beiden zusammen im Park gesehen hätten. Jedenfalls fühlte Watahulu sich von Tag zu Tag wohler bei uns. Um ihn wieder auf seine Seite zu ziehen, brachte Cangoo ihm eines Morgens im April zehn rohe Fische aus dem Internet mit. Weil er nicht undankbar erscheinen wollte, verkleinerte Watahulu sie und würgte sie herunter. Aber eigentlich war er Vegetarier und aß aus Prinzip nichts, was ein Gesicht hatte. Obwohl wir ihm einen großen Traubenzuckerbonbon zum Schlafen besorgt hatten, übernachtete er lieber im Kleiderschrank. Zwischen all den Hemden, Kleidern und Pullovern fühlte er sich pudelwohl und nahm dafür sogar in Kauf, dass Albert ihn nachts verkleinerte. Eines Morgens vergaß Albert vor lauter Zerstreutheit die Zauberformel, mit der er Watahulu wieder vergrößern konnte. So kam es, dass Watahulu die Welt einen ganzen Tag lang aus einer anderen Perspektive erlebte. Zum Glück fiel Albert die Zauberformel später wieder ein und er beamte Watahulu, der schon ungeduldig wurde, eilig auf seine ursprüngliche Größe zurück. Streit und Diskussionen mochte Albert nämlich überhaupt nicht. Im Gegensatz zu Cangoo der immer auf der Jagd nach etwas Essbarem war, war Albert schon zufrieden, wenn er ruhig am Fenster entlangschweben und dabei ungestört ein Buch lesen konnte. Eines Nachmittags im März, als Albert und Watahulu sich gerade wieder über die Frage unterhielten, warum man auf der Welt ist, warf Cangoo wütend einen Atlas an die Wand. „Wieso redet ihr immer so einen totalen Quatsch, der niemanden interessiert?“, stieß er wütend zwischen zwei Bissen Forelle hervor. Watahulu, der solche Ausbrüche von Cangoo nicht gewohnt war, zog eingeschüchtert seinen Schwanz ein, während Albert sich auf der Stelle unsichtbar machte, sodass nicht mal mehr seine Hülle zu sehen war. Angriffslustig funkelte Cangoo Watahulu an und boxte mit den Vorderpfoten. „Sag schon. Was soll der Blödsinn?“ Ein langes Schweigen entstand. Dann klapperte Watahulu mit den Ohren. „Wir denken, also sind wir“, erwiderte er leise, aber mit Nachdruck. „Totaler Quatsch!“, schrie Cangoo. „Wer denkt? Wer ist? Was soll das? Habt ihr nichts Besseres zu tun?“ Da Cangoo immer wütender wurde, mischte mein Vater sich ein. „Jedem das seine“, versuchte er, Cangoo zu beruhigen. „Wenn Watahulu und Albert denken wollen, dann lass sie denken.“

      „Ich will aber nicht, dass sie die ganze Zeit denken!“, rief Cangoo, immer noch aufgebracht. „Zu viel Denken macht doof.“ „Warum setzt du dich nicht einfach zu uns und unterhältst dich mit uns über Bücher?“, fragte Watahulu, der wieder etwas Mut gefasst hatte. „Dein Beitrag könnte sehr wertvoll für uns sein.“ So kam es, dass Cangoo kurze Zeit darauf seine erste Dichterlesung im Internet plante. Um sich auf seine große Lesung vorzubereiten, aß er vier dicke Bücher. Eins davon war in Leder gebunden und ziemlich ungenießbar. Aber er dachte, was Albert kann, kann ich schon lange. Anfang März verschickte er jede Menge E-Mails an verschiedene Tierorganisationen, in denen er auf seine erste Dichterlesung aufmerksam machte. Denn er fand, es war an der Zeit, seine Gedichte nun endlich vor einem großen Publikum vorzutragen. Außer Watahulu, Albert und einigen Buschkängurus waren auch noch ein paar Pferde, Eichhörnchen, Esel, Zebras und Giraffen unter den Zuschauern. Cangoo hatte sich extra für diesen Anlass einen roten Anzug mit schwarz-weiß gepunkteter Fliege gekauft und trat nun so ans Podium in dem großen Internettheater, das er für seine Lesung gemietet hatte. Schlagartig wurde es still im Saal. Cangoo rückte seine Fliege zurecht und trat ans Mikrophon. „Ich bin Cangoo“, stellte er sich vor. Das Publikum wartete gespannt ab. Eine Giraffendame beugte sich zu ihrem Zebra-Nachbarn vor und flüsterte: „Ich bin schon sehr gespannt auf die Lesung. Wie man hört, hat Cangoo enorm viel Talent.“ Andächtig nickte das Zebra. Mit wichtigem Gesichtsausdruck schlug Cangoo ein rotes Buch aus Leder auf und rückte seine Lesebrille zurecht, die er extra gekauft hatte, obwohl er eigentlich auch ohne Brille gut sehen konnte. Im Saal herrschte atemlose Stille. Cangoo blickte auf das voll geschriebene Blatt vor sich, das Albert in Schönschrift für ihn notiert hatte. Mit einem Mal merkte er, dass er trotz der vier Bücher, die er mit Müh und Not heruntergewürgt hatte, nicht lesen konnte. Die Zuschauer sahen ihn voller Erwartung an und schwiegen andächtig. Nur ein Pferd mit langer, brauner Mähne räusperte sich und blickte dann entschuldigend um sich. Cangoo sah ins Publikum. „Ich bin Cangoo“, sagte er noch einmal bedeutungsvoll. Watahulu flatterte unruhig mit den Ohren und quietschte leise. Ein weiteres, langes Schweigen folgte. Ein braun-weiß gestreiftes Gnu flüsterte einem Eichhörnchen neben ihm zu: „Was hat das zu bedeuten?“ „Keine Ahnung“, erwiderte das Eichhörnchen, das an einer Haselnuss knabberte. „Vielleicht ist das moderne Kunst?“ Als eine weitere Viertelstunde vergangen war, ohne dass jemand ein Wort sagte, rückte Cangoo seine Fliege zurecht und verbeugte sich. „Das war’s“, verkündete er. Einen Augenblick lang war die Stille im Saal fast unheimlich. Dann folgte tosender Applaus. Die Pferde, Esel und Zebras trommelten anerkennend mit ihren Vorderpfoten auf dem Parkett und wollten gar nicht mehr aufhören. Die Eichhörnchen warfen wohlwollend Nüsse auf die Bühne, und die Tauben stimmten eine Lobeshymne an. Nur Watahulu wischte sich mit seinem Rüssel verstohlen ein paar Schweißtropfen von der Stirn, als Cangoo mit stolzgeschwellter Brust die Bühne verließ.

      „Wie wär’s, wenn du in die Schule gingest und Lesen und Schreiben lerntest?“, schlug mein Vater Cangoo zwei Tage nach diesem denkwürdigen Ereignis vor. Denn die anderen hatten uns von seiner Dichterlesung erzählt. „Bücher zu essen reicht nicht, wenn man klug werden will. Außerdem sind sie schlecht bekömmlich“, sagte mein Vater. „Schule ist zum Beispiel total langweilig“, antwortete Cangoo und stopfte sich ein Schinkenbrot ins Maul. Mit Schaudern dachte er an den dicken Ledereinband, den er gegessen hatte, um schnell lesen zu lernen. Ihm war noch tagelang danach speiübel gewesen. „Aber du könntest dann bei deiner nächsten Lesung ein richtiges Gedicht vortragen. Ein etwas längeres“, mischte ich mich ein. Cangoo runzelte gedankenvoll die Stirn. Dann winkte er ab. „Ich bin doch schon weltberühmt. Meine Lesung war ein totaler Erfolg.“ Wie ein Gorilla klopfte er sich mehrere Male auf die Brust „Das war doch gar keine richtige Lesung“, wandte Watahulu etwas ängstlich ein, denn er wollte Cangoo nicht verstimmen. Cangoo stopfte sich zwei Bananen ins Maul. „Hat doch keiner gemerkt.“ Alberts Hülle schwebte tadelnd durchs Zimmer. Obwohl er nichts sagte, war er scheinbar auch der Meinung, dass Cangoo lesen lernen sollte. „Jetzt ist Schluss mit der Faulenzerei“, beendete mein Vater die Diskussion. „Ab nächsten Monat wird in die Schule gegangen.“ Seine Stimme klang so energisch, dass niemand, nicht einmal Cangoo, zu widersprechen wagte.

      Ein neuer Freund

      Sein Talent zum Malen entdeckte Watahulu durch Zufall. Eines Nachts, als schon alle im Bett waren und er als Einziger nicht schlafen konnte, schlich er sich im Dunkeln in das Atelier meines Vaters. Dort blieb er vor der halb mit Farben bedeckten Leinwand stehen, tunkte dann seinen Rüssel in die Farbpalette und trug etwas Rot und Blau auf. Das Ergebnis gefiel ihm so gut, dass er gleich darauf noch einen gelben Kreis und ein grünes Quadrat dazu malte. Schließlich vergaß er die Zeit und all seine Sorgen und malte die ganze Nacht wie im Rausch. Erst als die frühe Morgensonne ihre ersten Strahlen ins Atelier warf, legte Watahulu gähnend den Pinsel beiseite und torkelte hundemüde und in seiner vollen Größe in den Kleiderschrank, wo er noch im Stehen einschlief. Am nächsten Vormittag, als ausnahmsweise alle ordentlich am Frühstückstisch saßen, sogar Alberts Hülle, kam mein Vater wutschnaubend in die Küche. Unterm Arm trug er ein fertiges Ölbild, das leuchtete, als wäre ein Stern auf die Erde gefallen und hätte dort alles in Licht getaucht. „Wer von euch war das?“, rief er wütend. Cangoo warf einen kurzen Blick auf das Werk, widmete sich dann aber wieder konzentriert seinem elften Brötchen, das er dick mit Himbeermarmelade bestrichen hatte. „Wer von euch war das?“, wiederholte mein Vater noch einmal drohend. Watahulu, der nach dieser anstrengenden Nacht immer noch sehr müde war, sich aber extra den Wecker gestellt hatte, damit niemand ihm auf die Schliche kam, zog kleinlaut seinen Rüssel ein und hielt den Atem an. Ich sah mir das fertige Bild genauer an und legte mein Brötchen auf den Teller zurück. „Das sind sehr schöne Farben.“ Verdutzt musterte nun auch mein Vater das Bild genauer. „Du hast Recht“, stimmte