Miriam Frankovic

Kira und das Känguru


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hat die ganze Nacht rumtrompetet und total genervt.“ Alberts Hülle hüpfte bestätigend auf und ab. „Ist das wahr?“, fragte mein Vater und sah Watahulu forschend an. Dieser hob kleinlaut den Rüssel und gab ein leises Quietschen von sich. Mein Vater klopfte ihm anerkennend auf den Rücken. „Du hast Talent, mein Junge. Eine Menge Talent.“

      „Wenn hier jemand Talent hat“, rief Cangoo dazwischen, „dann ja wohl zum Beispiel ich.“ Mein Vater sah ihn tadelnd an und wandte sich wieder an Watahulu, der sein Glück immer noch nicht fassen konnte. Eine Woche später wurde das Bild, das mein Vater inzwischen gerahmt hatte, teuer an den Chef einer großen Autofirma verkauft. In den nächsten Wochen bekam mein Vater einen Auftrag nach dem anderen. Inzwischen malte Watahulu alle Bilder, und mein Vater kümmerte sich darum, dass immer genügend große Leinwände im Haus waren. Denn Watahulu brauchte viel Platz, wenn er seinen Rüssel in die Farben tauchte und diese dann auf die Leinwand klatschte. Sobald wieder ein Bild fertig war, rahmte mein Vater es und kümmerte sich um den Verkauf. Fast jede Nacht saßen die beiden zusammen im Atelier. Mitte April hatte mein Vater schon zwanzig Bilder verkauft und überlegte, ob wir uns nicht eine größere Bleibe suchen sollten. Eines Tages las er in der Zeitung, dass die alte Villa am Seerosenteich abgerissen werden sollte, da sich immer noch kein Mieter dafür gefunden hatte. Ich wurde ganz aufgeregt. „Wenn wir die kaufen und renovieren, wäre doch Platz genug für uns alle dort.“ Mein Vater nickte. „Ich lasse es mir durch den Kopf gehen.“ Da Watahulu immer mehr Zeit im Atelier verbrachte, wenn er nicht gerade badete oder im Internet Noten lernte, denn er wollte unbedingt mit seinem Rüssel Trompete spielen lernen, langweilte Cangoo sich von Tag zu Tag mehr. Er überlegte, wo er auf die Schnelle einen neuen Freund herkriegen konnte. Einen richtigen Freund. Nicht so einen, der die ganze Zeit nur las oder Bilder malte. Einen Freund nur für sich allein, den er nicht mit den anderen teilen musste und den ihm keiner wegnehmen konnte. Am besten wäre jemand, der so hässlich ist, überlegte er, dass niemand etwas mit ihm zu tun haben will. Oder jemand, vor dem alle Angst hatten, weil er so gefährlich ist. Vielleicht ein wilder Löwe, ein weißer Hai, eine bissige Hyäne oder eine Giftschlange? Plötzlich hatte er einen Geistesblitz: Ein Krokodil musste her! Das war’s. Noch am selben Abend wartete Cangoo ab, bis Watahulu und mein Vater im Atelier verschwunden und alle anderen schlafen gegangen waren. Dann tappte er auf leisen Pfoten ins Arbeitszimmer, schaltete den Computer ein und suchte sich im Internet das hässlichste Krokodil heraus, das er finden konnte. „Total verrückt“, murmelte er vor sich hin. „Du bist zum Beispiel so unansehnlich, dass alle vor Schreck die Flucht ergreifen, wenn sie dich zu Gesicht bekommen.“ Keine fünf Minuten später hatte er das Krokodil aus dem Internet befreit. Ihm war selbst etwas mulmig zumute, als er es jetzt plötzlich vor sich auf dem Boden entlangrobben sah. Dann entschloss er sich, seine Angst über Bord zu werfen, kramte einen Zollstock heraus und maß das Krokodil der Länge nach ab. „Vier und ein halber Meter“, stellte er zufrieden fest. „Wetten, dass alle vor Angst schlottern, wenn sie dich morgen früh sehen?“ Das Krokodil, das noch kein Deutsch konnte, sah ihn völlig durcheinander an und riss sein Maul auf. Eine Unmenge spitzer Zähne, die in mehreren Reihen nebeneinander standen, war zu sehen. „Du hast wohl Hunger?“, fragte Cangoo, zog, weil er selbst nicht gefressen werden wollte, schnell fünfzehn rohe Fische aus seinem Beutel und warf sie dem Krokodil ins Maul. Das Krokodil schluckte sie herunter ohne ein einziges Mal zu kauen. Dann sah es Cangoo so an, als warte es auf Nachschub. „Total verrückt“, murmelte Cangoo wieder. „Mehr kriegst du aber erst, wenn wir Freunde sind.“ Mit diesen Worten überließ er das Krokodil einfach sich selbst und hüpfte ins Nebenzimmer auf seinen Himbeerbonbon, wo er auf der Stelle einschlief. Als er aufwachte, war es schon zwölf Uhr mittags. Nachdem er noch einmal herzhaft gegähnt hatte, traute er kaum seinen Augen. Alle, sogar Alberts Hülle, standen um das Krokodil herum und tätschelten ihm den gepanzerten Rücken. „Es ist traurig“, erklärte Watahulu bedauernd. „Wer ist zum Beispiel traurig?“, fragte Cangoo und hüpfte mit einem Satz mitten in die Runde. Ich deutete auf das Krokodil. „Da. Es weint.“

      „Blödes Vieh“, murmelte Cangoo in sich hinein und zischte dem Krokodil leise zu. „Hab ich dir nicht extra eingebläut, dass du gefährlich gucken sollst?“ Beim Anblick des Kängurus begann das Krokodil jedoch noch heftiger zu schluchzen, bis es schließlich am ganzen Körper zitterte. Watahulu hatte keine andere Wahl, als es so lange mit seinem farbbeklecksten Rüssel zu kitzeln, bis die Tränen versiegt waren. „Weiß jemand, wer das arme Tier in diesen Zustand versetzt hat?“, fragte mein Vater. Cangoo, der sich für seine Mitternachtsaktion inzwischen doch ein bisschen schämte, schüttelte betreten den Kopf. „Vielleicht hat es Hunger“, quietschte Watahulu. „Was mögen Krokodile denn am liebsten?“

      „Löwen, Zebras, Kühe und manchmal auch Kängurubraten“, sagte mein Vater mit einem Seitenblick zu Cangoo. Denn ihm war schon von Anfang an klar gewesen, dass Cangoo lange nicht so unschuldig war, wie er tat. „Totaler Quatsch“, begehrte Cangoo etwas kleinlaut auf. Denn ihm wurde die Sache jetzt doch ein bisschen unheimlich. „Der Typ frisst bestimmt nur Wurzeln und Gras.“

      „Ja, solange sie aus Fleisch sind“, sagte mein Vater, ging in die Küche und kam mit einer Platte roher Steaks zurück. Dankbar schnappte das Krokodil danach und vergaß sogar seinen Kummer über diesem unerwarteten Genuss.

      In den kommenden Wochen versuchten wir geduldig, dem Krokodil, das bisher nur eine Mischung aus Suaheli und Arabisch gesprochen hatte, Deutsch beizubringen. Wegen seiner Abstammung hatten wir es auf den Namen Orinoko getauft. Aber alle nannten es nur Noko. Mitte April beherrschte Noko unsere Sprache schon so gut, dass wir uns ohne Probleme unterhalten konnten. Wie sich herausstellte, war es am Nil aufgewachsen, nachdem seine Eltern wegen einer Hochwasserkatastrophe aus Indonesien ausgewandert waren. Danach hatte man sie zu Taschen und Schuhen aus Krokodilleder verarbeitet. Im Gegensatz zu Watahulu konnte Noko Wasser nicht leiden und fing schon an, am ganzen Körper zu zittern, wenn jemand nur Badewasser einlaufen ließ. Albert erklärte Cangoo und Watahulu, dass Noko wahrscheinlich traumatisiert sei. „Traumati... Was?“, fragte Cangoo stirnrunzelnd nach. „Es hat wahrscheinlich mal etwas Schlimmes im Wasser erlebt“, klärte Watahulu Cangoo auf. „Vielleicht haben seine Eltern ihn gegen seinen Willen reingeworfen, als er noch nicht schwimmen konnte.“

      „Totaler Quatsch“, erwiderte Cangoo überzeugt. „Ein Krokodil, das Angst vor Wasser hat. So was gibt’s zum Beispiel überhaupt nicht.“

      „Und wenn doch?“, fragte Watahulu.

      „Dann muss es eben schwimmen lernen“, rief Cangoo. „Denn wovor man zum Beispiel Angst hat, das muss man extra tun. Sonst wird die Angst immer schlimmer.“

      Krokodilstränen

      Seine ersten Schwimmstunden bekam Noko am See. Da wir ihn beim besten Willen nicht dazu bewegen konnten, auch nur in Ufernähe zu gehen, holte Watahulu ihm aus dem Internet einen knallroten Taucheranzug, in dem er sich sicherer fühlte. „In einem Taucheranzug zum Beispiel kannst du nicht untergehen“, schärfte Cangoo Noko so lange ein, bis er schließlich selbst dran glaubte. „Besonders nicht, wenn er rot ist.“

      „Woher weißt du das?“, fragte Noko, dem die Zweifel ins Gesicht geschrieben standen.

      „Lebenserfahrung“, prahlte Cangoo. Zögernd robbte das Krokodil etwas näher ans Ufer heran. „Na los, spring rein, du Angsthase!“, rief Cangoo ungeduldig und fing sich damit einen tadelnden Blick von Watahulu ein. Denn Watahulu war der Meinung, dass man jedem bei allem so viel Zeit lassen sollte, wie er dafür brauchte. Besonders, wenn jemand etwas zum ersten Mal in seinem Leben tat ... wie zum Beispiel Schwimmen. Ängstlich kroch das Krokodil noch einen Schritt näher ans Ufer, wo die Wellen leise an Land plätscherten. Plötzlich begann es wieder zu weinen. „Ein Taschentuch“, rief Watahulu aufgeregt. „Hat jemand ein Taschentuch?“ Missbilligend zog Cangoo eins aus der Tasche seiner grün-rot gepunkteten Latzhose und reichte es Watahulu. Der tupfte behutsam die Tränen aus Nokos Augen und trompetete ihm leise eine Melodie vor. Als Noko sich wieder halbwegs beruhigt hatte, beschlossen wir, seinen ersten Schwimmunterricht zu verschieben und uns stattdessen abends alle gemeinsam einen schönen Film im Kino anzusehen. Denn auch wenn er nicht ins Wasser gegangen war, war es schon sehr mutig von Noko gewesen, sich überhaupt in Ufernähe zu trauen. Wieder zu Hause diskutierten