gesagt. Der Mensch ist einfach. Und es ist einfach zu einfach, wie er sich lebt. Ist er verstandesgemäß in der Lage sein Dasein zu reflektieren, fängt sein Elend erst richtig an, was so viel heißt wie – wer zu viel denkt, steht sich selbst im Weg.“ In mir stieg der Wunsch, dass ihr die Reflexion dieser Weisheit gelang.
„Wofür brauchst du es? Für eine Filmfigur in deinem Drehbuch?“ fragte sie nach einer Weile und schloss das Heft, nachdem sie sich ab und an leise darüber amüsiert hatte, wie simpel unser Englischunterricht gewesen war.
„Weiß noch nicht, möglicherweise,“ antwortete ich neuerlich ernüchtert, denn ich wusste, dass sie wusste, wie sehr diese verkopfte Lebensart auf sie zutraf.
Eve dachte die Liebe. Und sie lebte ihren großen Geist. Sie legte ihr Haupt wieder an der Fensterscheibe ab. Das tat sie immer, wenn wir Auto fuhren, ihr langweilig oder sie müde war, oder die Migräne sie besuchte. Wir hatten uns wieder einmal gestritten, so wie wir am letzten Wochenende uneins gewesen waren und uns in den Wochen zuvor mehrfach gegenseitig erzürnt hatten, ohne dass es jedes Mals wirklich wichtig gewesen wäre. Sie war angeblich zu erschöpft gewesen, um die Tour ins Münsterland zu unternehmen. Während ich mir vorgenommen hatte, mit ihr einigermaßen gehaltvolle Gespräche zu führen, weil wir ein paar Stunden lang dem anderen nicht entfliehen konnten, hatte Eve schon auf der Hinfahrt ihr schlaues Köpfchen zur Seite gelegt und geschlafen. Dabei. Meine Wahrheiten hätten sie tief verletzt. Mehr noch empört. Eve hingegen war sich, so meine Einschätzung, in wesentlichen Dingen ihrer Gefühlswelten noch unklarer geworden, als sie es grundsätzlich schon dauerhaft war. Also schwiegen wir. Es war zu diesem Zeitpunkt das Beste, was wir sagen konnten.
Eine halbe Stunde später, ich hatte uns drei Kilometer weitergebracht, war sie tatsächlich eingenickt. Ich hatte den zähen Fluss fortwährend mit ein paar anderen Gedanken an meine Schulzeit verbracht. Relikte wie Bücher und Zeugniskladde, die mir neben jenem Heft auf dem Dachboden in die Hände gefallen waren, ließen mich nicht mehr los.
Jedes Mal, wenn ich die Gebäude der Lehranstalten gewechselt hatte, dachte ich damals, musste es jetzt doch bestimmt endlich losgehen, musste ich doch endlich viele Menschen treffen, schlaue Menschen, die mir etwas beibrachten, über die Welt, wie sie funktionierte, über das Leben und was man dafür brauchte, Lehrer oder Gebildete eben oder einen Mentor sogar, wie ich ihn aus dem Kinderprogramm des Fernsehens kannte. Ich hatte wieder die Räume getauscht, das Abitur bestanden und studiert. Stets hatte ich gedacht, dass es jetzt doch endlich losgehen musste. Ich hatte als Journalist fürs Fernsehen gearbeitet und war ein paar Jahre im Ausland gewesen. Nie aber ging auch nur irgendetwas los. Mit meinen Fragen blieb ich immer allein zurück. Im Gegenteil.
Je älter ich wurde, desto mehr Fragen mit immer weniger Antworten türmten sich auf. Immerzu hatte ich gelernt, mich in einem System zu arrangieren, Bestandteil dieser Ordnungsrahmen zu sein, ohne dass jemand da gewesen wäre, zu dem ich hätte aufschauen können. Manchmal war ich ausgebrochen. Ich hatte Frösche mit einem Strohhalm aufgeblasen, Mofas frisiert, im Hallenbad uraufgeführt erigiert und erstmalig ein Mädchen ins Eiscafé eingeladen, nämlich zum Trotz die Freundin derjenigen, die sich mich ausgeguckt hatte, aus dem einfachen Grund, weil ich fasziniert davon gewesen war, dass die Brüste der Kameradin mit jedem Tag größer zu geraten schienen. Ich hatte für den Erzfeind Bundeswehr wochenlang Säcke voller Reis und Mehl geschleppt, um mit siebzehn bei einer Zweiundzwanzigjährigen zu glänzen, mit der ich ein verlängertes Wochenende in Paris verbrachte, weil ich sie davon überzeugen wollte, wie dämlich ihr verflossener Macker war. Ich hatte ein Urlaubssemester eingelegt und monatelang nur das gelesen, was ich auch verstand, Comics nämlich.
Ich las in vielen Büchern über Politik und Geschichte, mich interessierten das Theater und die Literatur. Ohne auch nur die geringste Ordnung in meinem Leben errichtet zu haben, konnte ich mit Recht sagen, dass ich um alle Dramen der Weltgeschichte wusste. Durch meine naive Berufung, denen Sprachrohr zu sein, die eine Menge zu sagen hatten, aber so selten zu Wort kamen, lernte ich, wie heuchlerisch Journalisten waren, vor allem die, die in den Schützengräben öffentlicher Anstalten lagen. Seitdem wusste ich um all die Manipulationen und glaubte keiner Nachrichtenmeldung mehr. Ich hätte wirklich Kinderarzt werden sollen.
Was ich konnte, was ich wusste und wer ich war – für alles im Leben musste ich mich unentwegt anstrengen, musste ich aus den Erfahrungen lernen, die man gemeinhin als Fehler bezeichnete. In der Liebe sowieso. Niemand war da gewesen, der es mir auch nur ein kleines bisschen einfacher gemacht hatte.
„Ich fühle mich so oft so hilflos,” hatte ich Eve gegenüber einmal eingestanden, als wir eine Woche lang alle Krisengebiete der Welt aus fünf verschiedenen Zeitungen und mehreren Wochenmagazinen gesammelt hatten und nicht weniger als zwei Dutzend Konflikte von Bedeutung vor uns lagen. „Die Welt ist ein Saustall. Und Politiker wie Wirtschaftsbosse sind die größten Schweine. Sie tragen keine Moral in sich. Sie sind korrupt und raffgierig,” erinnerte ich mich an mein Fazit.
„Vergiss’ die Banken nicht. Diese Heuchler haben die Welt an den Abgrund geführt. Und sie werden es wieder tun,“ hatte Eve mir zugestimmt und dann eine Frage formuliert, die ich nie mehr würde vergessen können. „Ich kenne das Gefühl von Ohnmacht sehr genau. Möchtest du vielleicht beten?“
„Beten?“ Viel lieber hätte ich sie hemmungslos geliebt.
Ich blickte zurück auf die Frau an meiner Seite. Wir waren seit mehr als zwei Jahren ein Paar und nur ein paar Kilometer vorangekommen. Aus einem anderen Grund wäre es vielleicht besser gewesen, ich wäre dumm geblieben. Bei allem Elend, das die Welt prägte, hatte ich in der Vergangenheit auch stets die Liebe verloren und damit einen Teil dessen, was das Leben überhaupt noch sinnvoll geraten ließ. Ich liebte Eve, doch wieder spürte ich den drohenden Verlust, der über uns schwebte wie ein böser Geist, entsendet aus dem Reich der Emotionen, der sich anschlich, Liebe aus dem Herzen riss und noch erbärmlicher stank als diese vergiftete Sommernacht.
Ich hatte Eve in den letzten Wochen bereits mehrfach betrogen. Noch vor ein paar Tagen lag eine dieser verlorenen Töchter aus meiner Stadt, die Beine gespreizt und mit den Fäusten auf die Tischplatte schlagend, rücklings auf meinem Küchentisch. Ich schämte mich dafür. Mich quälte mein schlechtes Gewissen und ich war im Grunde erleichtert, dass Eve nicht über uns reden wollte, als mir, wie von einem Programm gestartet, immer mehr Bilder dieser und anderer Penetrationen im Kopf kreisten, die mitunter ordinärer waren als die virtuellen Selbstbefriedigungsportale im Internet, mit deren Hilfe Tom bisweilen dem Wahnsinn zwischen beiden Geschlechtern zu entfliehen versuchte.
Schon mit der Rückkehr von seinem ersten Ausflug ins Jenseits dieser Mauer, die die Menschen vor Lug und Betrug beschützen sollte, so hätte ich Eve gerne und ausführlich meinen Seelenkummer offenbart, führte man fortan ein anderes Leben. In der herkömmlichen Welt hatte sich nichts verändert. Alles war so, wie man es kannte, doch danach lebte man mit ihm wie mit einem unsichtbaren Makel, der an einem haftete wie ein Schmierenpelz unter der Haut. Waschen half nicht, eher schon permanentes Verdrängen. Man trug ihn als Geheimnis nicht in sich wie einen kostbaren Schatz, denn das Gewissen hielt einen nicht davon ab, ihn zu begehen, wohl aber, ihn zu genießen. Um ihn zu vollziehen, musste man abgebrüht sein. Er kannte weder Warnung noch Rücksicht. Und nicht einmal, wenn man sich verschleudert hatte, konnte man sein Beschämen mitteilen. In den meisten Fällen folgte seiner Überwindung keine Berechnung. Ort und Zeit waren nicht bestimmbar. Es passierte einfach, wenngleich die Sinne in einem längst schon nach ihm gegiert hatten.
Man schlich entlang, an diesem Mauerwerk, schlenderte wieder davon und fragte sich, wie es dahinter wohl aussah. Beim nächsten Mal erklomm man die wenigen Vorsprünge und kletterte ein Stück hinauf, doch der Mut war noch nicht groß genug seine Skrupel zu bezwingen. Bereits hier aber zeichnete er sich ab, denn wer diese Mauer suchte, wollte auch über sie. Man suchte die Befreiung, die keine war, und man wusste darum. Der Alltag zwang einen die Sehnsucht nach diesen Ausflügen kontrollieren zu müssen, doch je länger man sein Leben im Diesseits lebte, desto magischer zog er einen an. Weggefährten offenbarten sich und sie berichteten einem von ihren Kletterkünsten auf den Sims, von ihrem Absprung und von ihrer Landung. Der Ausflug dauerte in der Regel nur ein paar Stunden und es war klug, sich den Weg für seine Rückkehr ebenso zu merken wie eine Erklärung für seine kurzzeitige Abwesenheit.