belog oder beim Verkauf seines Autos den Unfall verschwieg. So wie andere mit Gut und Böse rangen, führte man mit ihm einen langen, inneren Dialog. War die unaufhörliche Auseinandersetzung erst einmal in Gang gesetzt, stand am Ende sein unumstößlicher Vollzug.
Die Gründe sich für ihn zu entscheiden, waren dabei vielfältig, meistens aber ziemlich banal. Dann war er da, der Tag der Begehung. Man kletterte über die Mauer und sprang geradewegs in die Unordnung. Das Risiko, für seine Überwindung bestraft zu werden, war hoch. Also musste es sich lohnen. Man wusste genau, was man vorfand, schließlich hatte man seine Augen immer intensiver für nichts anderes geschärft. Für die Dauer seines Aufenthalts waren Frust und Sorgen gleichgültig. Der Drang nach Befriedigung nahm jeden Verstand. Hatte man ihn, genussvoll oder nicht, vollzogen, war zu schweigen erste Pflicht, schon aus reinem Selbstschutz. Man kletterte zurück in die alte Ordnung und tat, als war nichts geschehen. Mitunter kam es vor, dass einige so entsetzt über ihn waren, dass sie ihn enttarnten und damit ihr Leben, wie ich fand, unnötig verkomplizierten.
Ich stellte sie mir vor, diese Mauer von unabschätzbarer Länge. Überall auf der ganzen Welt kletterten sie an ihr hinauf, entweder im Diesseits oder auf der anderen Seite, um sich unerkannt zurück in das alte Leben zu schleichen. Längst schon war eine heimliche Massenwanderung unterwegs, millionenfach hin und her, tagtäglich und vor allem lautlos, weil darüber zu reden, sich zu brüsten gar, niemandem gut tat. Es nahm einem die Möglichkeit, ihn unbemerkt zu wiederholen. War man nämlich erst einmal über die Mauer geklettert, tat man es wieder. Immer wieder.
Wann ich ihn verrichtet hatte, den ersten Betrug an Eve, wusste ich nur allzu gut. Sie war um die dreißig und besaß ein Paar prächtige Brüste, zwischen denen ich gleich zu Beginn unserer wilden Körperlichkeiten abwechselnd meinen Kopf und mein Gemächt legen durfte. Eve war an diesem Wochenende zusammen mit ihrer besten Freundin nach Berlin gefahren, während ich in einer Bar eine Begegnung gemacht hatte, die mir im Laufe ihrer Dauer wie verfügt erschien, weil die Dame zum einen sehr genaue Vorstellungen vortrug, was sie wollte und zum anderen ausgiebig zu erkunden bereit gewesen war, was sie noch nicht wusste.
Wieder fiel mein Blick auf die Frau, die ich liebte. Schuldgefühle plagten mich und Bedauern ersetzte jene Gleichgültigkeit, mit der ich mich hatte treiben lassen. Ich fragte mich, ob mich meine Märchenfee mit ihrem Entzug von Hemmungslosigkeit für die Unzulänglichkeiten bestrafte, die sie an mir ausgemacht hatte. Mit Eve zu verschmelzen war zu einem routinierten Akt verkommen. Ich dachte ihr die Wahrheit an, wenn sie schlief. War sie wach, dachte ich nicht einmal mehr an meine Lügen. Den Frauen an meiner Seite war ich noch nie treu gewesen, und wie bestellt rollte die junge Frau wieder an mir vorbei, die lässig ihr Haupt in die Kopfstütze gelegt hatte, herüberschaute und lächelte. Ich erwiderte ihren verspielt unanständigen Blick. Ohne ein Wort miteinander zu sprechen, verband uns die Vorstellung gegenseitigen Entdeckens. Wo, wie oder wann auch immer. Wer sich mit den Menschen beschäftigte, konnte ihnen ansehen, wenn sie das Abenteuer suchten. Das Augenpaar neben mir verriet ohne jeden Zweifel lustvoll das Verlangen nach einem Ausflug jenseits der Mauer.
Für die Dauer eines Menschenlebens sein privates Glück in der eigenen Dummheit zu suchen, sinnierte ich weiter, weil der Wagenlenker erneut jeden Kontakt unterbunden und sich vor uns gesetzt hatte, war wirklich meine Sache nicht. Ich hatte gelernt, mich zu arrangieren. Ich wusste, wie dumm und töricht Anarchie war. Systeme, gleichgültig ob öffentlicher oder privater Art, ließen sich nicht verändern, in dem man sie von außen bombardierte. Sie ließen sich gar nicht wandeln, selbst durch beharrliches Mitwirken in ihnen nicht, was die Alternative zu Blut und Terror war.
Ich hatte dennoch meinen Platz gefunden. Ich arbeitete als Autor und Regisseur und hatte im Laufe der Jahre einen minimalistischen Lebensstil kultiviert. Je weniger Schlüssel an meinem Bund hingen, desto freier fühlte ich mich. Mir gefiel die Vorstellung, innerhalb weniger Minuten alles Wichtige und Wertvolle zusammenraffen zu können, wollte ich mein Leben umgestalten. Ich schätzte es als Geschenk, den Menschen auf die Finger schauen zu dürfen und dafür sogar noch bezahlt zu werden. Doch es war einfach fatal. Je mehr und öfter ich zu denken in der Lage war, desto schwieriger wurde alles. Es war sinnlos. Total sinnlos. Es war absurd, in Systemen und in der Liebe gleichermaßen. Warum nur belegten die Menschen sich selbst und ihre Gefühle fortwährend mit Konventionen und Kleingeistigkeiten, die zu nichts mehr taugten, als ihnen früher oder später Glück und Freiheit zu nehmen?
Was bloß wollte ich mir gerade selbst erzählen, erkundigte sich der letzte Rest meines verbliebenen Scharfsinns. Es war so weit. Weil sich der Segen in der Liebe wieder einmal verflüchtigt hatte, stand wie selbstverständlich gleich die ganze Existenz in jämmerlicher Dramatik auf dem Prüfstand, mit dem betrüblichen Verdacht, dass ich es war, der zunächst sich selbst und dann anderen im Weg stand. Ohne mich wäre die Welt um mich herum so, wie es das Glück der anderen vorsah. Weil es mich gab, hatten andere in ihrem Leben so wenig schaffen können.
„Was denkst du gerade?“ wollte Eve plötzlich wie verfügt von mir wissen und sah zu mir herüber.
Wir hatten bereits in einem unserer ersten Gespräche vereinbart, dass der jeweils andere zügig und ehrlich zu antworten hatte, wenn einer von uns diese Frage gestellt hatte. Kein Mensch dachte tatsächlich an nichts.
„Dass neunzig Prozent der Menschheit dumm und blöd sind. Und ich nicht weiß, in welchem Anteil es sich besser lebt.“
„Mehr!“ schoss sie unverzüglich zurück. „Weitaus mehr. Und wenn ich einen schlechten Tag habe, denke ich, dass es noch mehr sind. Und dann wird er noch schlechter.“
„Das darf man aber um Himmels willen nicht laut sagen, um nicht ans Kamener Kreuz genagelt und öffentlich mit Katzenkot beworfen zu werden.”
„Kamener Kreuz?“ fragte sie nach.
„Ist der Ort, wo sich die erste und die zweite Autobahn kreuzen. Die, die Hitler bauen ließ. Mit all den Dummen und Blöden.“
Eve sah, grübelnd in sich gekehrt, aus dem Fenster. „Es ist aber wahr. Neunzig Prozent der Menschen sind Spielmasse für ein paar wenige zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen Witz und Wahnsinn. Sie sind dumm, ehrerbietig, namenlos, habgierig, zivilfeige und konsumsüchtig. Keine Revolution, kein Krieg und kein Herrschaftssystem hat daran in den letzten zweieinhalbtausend Jahren etwas ändern können, nicht einmal die Philosophen oder die anderen Großen ihrer Zeit.“
Ich dachte über die von Eve formulierte unerbittliche Gewissheit samt ihrer Schwere nach. „Stimmt! Mit ihren Büchern und Schriften könnte man im Mittelmeer eine ganze Insel aufschütten lassen, die aber niemand besuchen würde, weil sich dort auszuruhen hart und unbequem ist.“
„Ja! Es ist zum Beispiel total sinnlos, in dieser Blechlawine nach Hause zu kriechen. Alle wissen es, aber alle tun es trotzdem.“ Sie schaute prüfenden Blickes zu mir herüber. „Wir gehören ganz eindeutig zu den neunzig Prozent. Ich hab’ es vorher gesagt. Und was war? Nichts war. Wir sind trotzdem gefahren.“
„Schatz! Das nächste Mal stimme ich dir zu. Ganz gleich, was es ist, ok?“ Von allen Sinnlosigkeiten des Lebens, dachte ich, war die momentane Schleichfahrt noch einigermaßen erträglich. Man kam wenigstens voran, so viel war sicher. Ich behielt meinen Einwand für mich.
Eve gähnte und drehte Haare.
Ich wusste, wie sehr es ihr widerstrebte, wenn ich sie derart ansprach. Ich kannte ihre Körpersprache, vor allem ihre Übersprungshandlungen, wenn sie mürrisch war. Doch sie ließ sich nicht provozieren.
„Ich mag jetzt nicht mehr reden. Und denken schon gar nicht. Weck’ mich, wenn wir in Bremen sind, ja? Ich muss dann mal,“ sprach sie und drückte sich zurück in den Sitz.
„Woher willst du wissen, dass du dann mal musst?“
„Mat! Ich bin mir sicher, ok?“ Sie lehnte ihren Kopf wieder an die Scheibe und schloss die Augen.
Ich fuhr weiter. Was sonst auch hätte ich tun sollen? Abgesehen also davon, bedachte ich das grundsätzliche Dilemma der Menschheit differenzierter, dass Einer der Zehn Männer von Hundert ständig so kämpfte, wie ich es gerade tat, waren demnach auch neun von zehn Frauen dumm und blöd, genauso wie neun von zehn Männern dumm und blöd