Leylen Nyel

Quondam ... Der magische Schild


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Brüdern und Schwestern immer gebremst hatten, wenn diese aus lauter Langeweile auf übermütige Ideen gekommen waren. Ihre Abwesenheit erklärte, weshalb das Spiel der Götter diesmal derart außer Kontrolle geraten war. Sie waren auch die einzigen der Götter, die eine dauerhafte Verbindung eingegangen waren. Alle anderen Götter und Göttinnen pflegten untereinander lose Liebschaften, betrachteten sich gerade einmal als Gefährten für eine gewisse Zeit. Deshalb war auch nur Thore und Fraya das Glück beschieden, Kinder zu haben. Die anderen Götter wollten sich noch Zeit lassen, bevor sie den Götterberg in Amesia mit ihren eigenen Nachkommen bevölkerten. Sie hatten nicht erwartet, dass Gaya an diesem Tag die Zeit dafür auslaufen ließ.

      Mit lauter Stimme rief die Urmutter ungeduldig nach Thore. Wenige Augenblicke später erschien er. In seiner Begleitung befanden sich Fraya, Yuron und ein unbekannter junger Gott. Obwohl er erst zwei Tage alt war, kniete vor Gaya ein Kind in der Gestalt eines erwachsenen jungen Mannes. „Herrin, das ist unser Sohn Eyrin!“, stellte ihn Thore nicht ohne Stolz vor. „Erhebt euch!“, befahl Gaya. Mit einem freundlichen Lächeln musterte sie den Neuankömmling. Er war nur ein Fingerbreit kleiner, aber genauso muskulös und breitschultrig wie sein älterer Bruder. Beide hatten ihre hohe kräftige Statur als Thores Erbe erhalten. Das dunkelblonde Haar hatte Eyrin ebenfalls von seinem Vater, die türkisfarbenen Augen von seiner Mutter. Auch das breite, kantige Kinn, die starke Nase und der schön geformte Mund wiesen auf Thore hin. „Du bist, wie dein Bruder, sehr nach deinem Vater geraten. Wenn du auch noch seine stahlblauen Augen hättest, könnte man glauben, du seiest Yuron“, stellte Gaya fest und streichelt Eyrin sanft die Wange. „Das ist wahr“, bestätigte Fraya lächelnd. „Aber beim nächsten Mal wird es eine Tochter. Sie wird mir ähnlich sehen. Thore ist damit einverstanden.“ Sie warf ihrem Gemahl einen zärtlichen Blick zu. „Es wird kein nächstes Mal geben!“, sagte Gaya leise. Frayas Lächeln erstarb. „Seid ihr denn blind? Sechzehn Götter sind mehr als genug, um die Welt zu zerstören, die ich geschaffen habe. Meine Welt!“, fuhr sie mit immer lauter werdender Stimme fort, die letzten Worte schrie sie fast. Die Götter erstarrten, Thore und Fraya sahen sich betroffen um.

      „Eure Leiber sollen verdorren! Keine von euch wird je wieder ein Kind in diese Welt setzen!“, dröhnte Gayas Stimme über die Ebene. Sechs Blitze fuhren aus ihrer Hand, je einer in den Körper einer Göttin. Schmerzvoll krümmten sie sich zusammen, Aurina, Xyntina, Idalia, Bodina, Fraya und Lysina. Erschüttert hielt Thore seine Gemahlin in den Armen. „Wieso bestraft Ihr die Frauen, wieso Fraya?“, rief er entsetzt. „Schweig, Thore! Ich bin noch nicht fertig!“, fuhr ihn die alte Göttin mit zornesfunkelnden Augen an. „Von jetzt ab werdet ihr keine Liebe mehr füreinander empfinden! Auch rein körperliche Liebe miteinander wird euch zuwider sein! Ihr werdet euch von nun an nur noch mit Wesen paaren können, denen ihr bisher keine Beachtung geschenkt habt!“ Während sie diese furchtbaren Worte sprach, ging sie von einem zum anderen. Dabei hielt sie ihre Hand jedes Mal so lange an deren Herz, bis sie deren Augen stumpf und gleichgültig ansahen. Sie hatte ihre Hand gerade an Yurons Herz gelegt, da fiel Thore vor ihr auf die Knie. Verwundert unterbrach Gaya ihr Tun. „Herrin! Ich flehe Euch an! Nehmt mir nicht meine Liebe zu Fraya! Sie ist meine Frau, meine Geliebte, Gefährtin, Mutter meiner Söhne. Sie ist mein besseres Ich! Sie ist alles für mich! Nehmt mir nicht ihre Liebe! Wenn Ihr nicht anders könnt, dann verwandelt mich wieder in den Staub, aus dem Ihr mich geschaffen habt. Ich kann ohne Fraya nicht leben!“ „Sieh an! Mein aufbrausender Thore hat auch eine sanfte Seite. Wer hätte das gedacht?“, bemerkte die alte Göttin spöttisch, aber ihre Augen blickten nicht mehr ganz so hart. „Und du? Was sagst du zu den Liebesschwüren deines Mannes?“, fragte sie Fraya. „Herrin! Bitte nehmt mir nicht meinen Mann“, konnte Fraya nur leise sagen. Sie war von Thores Worten überwältigt. Zwar hatte sie immer gespürt, dass sie Thore viel bedeutete, aber dass seine Gefühle für sie so tief gingen, hatte sie nicht erwartet. „Überlege es dir gut!“, warnte Gaya. „Trotz seiner hübschen Worte wird er dich betrügen. Er wird mit einer anderen einen Sohn zeugen. Von Deiner Kraft wird es abhängen, ob dieser Bastard Fluch oder Segen für Amesia wird, ob Amesia eines Tages überleben oder zugrunde gehen wird. Bist du wirklich stark genug, das zu ertragen?“ Ohne Zögern antwortete Fraya: „Das bin ich!“ „Nun gut! Ich war ohnehin fertig. Thore, du kannst wieder aufstehen.“

      Gaya wandte sich wieder den anderen Göttern zu. „Ihr seid alle meine Kinder. Und wie Kinder habt ihr euch aufgeführt. Damit ist jetzt Schluss. Ich werde jedem von euch eine Aufgabe übertragen, die eure ganze Kraft fordern wird. Ihr werdet diese Welt wieder aufbauen und denen übergeben, für die ich sie geschaffen habe“, verkündete sie. „Für wen?“, fragte Woldan, ein Gott mit kurzem stacheligen grünem Haar, rehbraunen Augen, einem spitzen Gesicht und einer schlanken drahtigen Figur. Gaya sah ihn strafend an. „Diese dort!“, sagte sie und drehte sich um. „Kommt hervor!“, rief sie laut. Hinter einem Felsen am Rande einer Geröllhalde traten zögernd zitternde halb nackte zweibeinige Geschöpfe hervor. Hunderte, Tausende, es wurden immer mehr. Unsicher liefen sie auf die Gruppe der Götter zu. Sie waren von dem in der Luft schwebenden Staub rot überpudert, viele von ihnen husteten. Manche hatten lange Haare, anderen schien der Kopf kahl geschoren worden zu sein. Wieder andere trugen ihr Haar kurz oder zu Zöpfen geflochten. Die Götter konnten Männchen und Weibchen in der immer größer werdenden Gruppe erkennen. Einige Weibchen trugen Kinder auf ihren Armen. Sie alle waren kaum größer als Gaya. Nur einige der Männchen schienen deutlich größer als die alte Göttin zu sein. „Das ist nah genug!“, befahl Gaya. Die Menge kam etwa dreihundert Meter vor der Gruppe der Götter zum Stehen. Ängstlich schmiegten sie sich aneinander und warfen verstohlene Blicke zu den Göttern herüber.

      „Was sind das für Wesen?“, erkundigte sich Watan. Sein langes blaues Haar, das fast bis auf den Boden reichte, hüllte ihn ein wie ein Umhang. Er hatte feine ebenmäßige Gesichtszüge und eine Hakennase. Sein schmaler Mund war schön geschnitten, er hatte eine schlanke hohe Figur, sodass er sich zu Recht als einer der am besten aussehenden Götter bezeichnen konnte. Am auffälligsten waren jedoch seine Augen, die je nach Stimmungslage die Farbe wechselten, von Grün bei Trauer über helles Blau bei Freude zu tiefem Dunkelblau, wenn er wütend war. Derzeit hatte er graublaue Augen, ein Zeichen von mäßigem Interesse. „Das sind Menschen!“, erklärte Gaya feierlich. „Osiat gehört ihnen von jetzt ab allein! Götter und Menschen können nicht gemeinsam in einer Welt leben, das habt ihr mir heute gezeigt. Ihr werdet euch nach Amesia zurückziehen und nur noch als Gäste nach Osiat zurückkehren. Und ich erwarte von euch, dass ihr euch wie anständige Gäste benehmt.“ „Gaya, jetzt gehst du aber zu weit! Osiat ist doch viel zu groß für diese paar … Menschen!“, ließ sich Hato empört vernehmen. Er gehörte wie Thore zu den älteren Göttern. Er hatte ein grobes, kantiges Gesicht mit stark ausgeprägten Wangenknochen und graue Augen. Er war groß und kräftig gebaut, mit einem Hang zur Fülle. Seine Vorliebe für gute Speisen begann, erste Spuren an seinem Körper zu hinterlassen. Sein beginnendes Doppelkinn verbarg er hinter einem langen Vollbart, der sorgsam gestutzt war und bis auf seine Brust reichte. Alles in allem war er aber trotzdem noch eine beeindruckende Erscheinung. Gaya maß ihn mit einem scharfen Blick. Es war nicht das erste Mal, dass er sich ihr gegenüber im Ton vergriff. Keiner der anderen Götter hätte es gewagt, Gaya so respektlos anzusprechen. Das Wissen um sein Alter und seine Stärke hatte ihn anmaßend werden lassen. Schon lange hatte er von der alten Göttin gefordert, ihm einen besonderen Platz unter den Göttern einzuräumen. Aufsässig starrte er sie an. Spannung lag in der Luft. Jeder rechnete damit, dass Gaya Hato auf der Stelle für seine Unverschämtheit bestrafen würde. Doch Gaya seufzte nur und wendete sich wieder an die anderen Götter. „Es mögen wenige sein. Aber sie sind fruchtbar. Sie werden bald wieder ganz Osiat bevölkern und ihr werdet für sie sorgen!“ Den aufkommenden Protest der Götter erstickte Gaya im Keim mit einer herrischen Geste.

      „Ich habe euch aus Stein …“, sie blickte zu Dioran, „… Wasser …“, ein kurzer Blick zu Watan, „… dem Holz der Bäume…“, Gayas Hand lag kurz auf Woldans Schulter, „… oder den Sternen geschaffen“, und sie nahm Aurina und Lysina an die Hand. „Jeder von euch hat eine bestimmte Gabe, die er jetzt einsetzen wird, um den Menschen das Leben erträglicher zu machen. Sie werden euch dafür respektieren, verehren, anbeten, euch um eure Hilfe anflehen. Ihre schönsten Töchter werden euch gehören. Und sie werden es auch sein, die euch eure Nachkommen schenken werden, wenn ihr sie gut behandelt.“ „Das ist ungerecht! Was