Leylen Nyel

Quondam ... Der magische Schild


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der Menschen beschützen!“, sagte sie feierlich. „Fraya, bewahre die Menschen vor Krankheiten und helfe den Frauen, wenn sie ihre Kinder bekommen. Denke immer daran, es könnten die Kinder der Götter sein.“ Mit diesen Worten setzte sie Fraya den kleinen Stirnreif auf das Haupt. Mit großer Geste zeigte sie den anderen Göttern Thores Krone.

      „Halt ein!“, rief Hato mit dröhnender Stimme. „Thore ist zwar mein Bruder, aber ich bin älter und stärker als er. Diese Krone gehört mir!“ Gaya verhielt tatsächlich mitten in der Bewegung und schien zu überlegen. „Du hast mir jeden Spaß genommen, über diese Welt zu laufen. Gib mir wenigstens eine Krone dafür!“, setzte Hato grimmig nach. Gaya lächelte und setzte Thore den goldenen Reif auf sein Haar. „Eine Krone möchtest du?“, fragte sie Hato leise. Der nickte heftig mit finsterem Blick. „Gut, du sollst deine Krone haben“, beschied sie ihn zur Überraschung aller. In der Hand hielt sie einen Stirnreif aus Eisen. Er war grob gearbeitet und wies keinerlei Verzierungen auf. „Knie nieder!“, befahl sie streng. Hato erbleichte und wich vor der Göttin zurück. „Nein, nicht diese! Die Goldene!“, stammelte er entsetzt. Mit ihrem magischen Blick zwang ihn Gaya auf die Knie. „Hato! Du bist von nun an der Herrscher über Estosia! Deine Untertanen sind die Geschöpfe der Nacht! So lange Thore die goldene Krone trägt, darfst du Estosia nicht verlassen!“, rief sie mit lauter Stimme. „Herrin! Lasst Gnade walten! Ihr könnt ihn doch nicht allein nach Estosia schicken!“ Xyntina hatte sich vor der alten Göttin auf die Knie geworfen, wie sie es vorher bei Fraya gesehen hatte. Mit dieser Geste hoffte sie, Gaya milde zu stimmen. Eigentlich hatte sie ihren ganz eigenen Kopf und hielt jegliche Art von Ehrbezeugung für unnötigen Unsinn.

      „Xyntina!“ Gaya sprach die vor ihr kniende Göttin sanft und freundlich an, aber ihre Augen blickten kalt. „Soweit ich weiß, hast du deine Brüder und Schwestern zu diesem zerstörerischen Spiel angestiftet. Warst du es nicht, die vorgeschlagen hat, herauszufinden, wer von ihnen der Stärkste ist?“ Die dralle Göttin nickte und versuchte, beschämt dreinzuschauen, aber ihre blitzenden grünen Augen straften sie Lügen. „Du kannst nichts anderes, als Zank und Streit zu stiften! Nur das bereitet dir Freude!“, fauchte Gaya. Xyntina machte eine abwehrende Handbewegung. „Herrin, so ist das nicht! Ich wollte doch nur …“ „Halt den Mund!“, fuhr sie Gaya an. „An dir ist nichts außer Falschheit und Bosheit! Du bist die Göttin der Zwietracht!“ Xyntina öffnete den Mund, aber kein Laut drang über ihre Lippen. „Du hast für Hato gebeten, weil er dein Gefährte war. Du sollst erhört werden. Er wird nicht allein in Estosia sein. Du wirst ihn begleiten. Aber zur Strafe für dein Vergehen wirst du die Unterwelt jedes Jahr für vier Wochen verlassen und dich daran erinnern, was du verloren hast!“, rief Gaya mit zornfunkelnden Augen. „Hinfort, Ihr zwei!“, rief sie und schlug in die Hände. Xyntina und Hato waren augenblicklich verschwunden.

      Die anderen Götter schwiegen entsetzt. Niemand rührte sich. „Was habe ich getan?“, stöhnte Gaya auf einmal auf und schlug die Hände vors Gesicht. Leise erhoben sich Thore und Fraya. Unsicher blickten sich die Götter an. Die zerlumpten und verdreckten Menschen sahen zu den Göttern hinüber. Ihre Angst hatte scheinbar nachgelassen. Sie standen nicht mehr so dicht gedrängt beieinander, die mutigsten von ihnen waren sogar noch ein Stück nähergekommen und warfen ihnen neugierige Blicke zu. „Zurück!“, rief Thore in herrischem Ton. Er war eine stattliche Erscheinung, über zwei Meter groß mit breiten Schultern und starken muskulösen Armen. Der Rubin an seine Krone funkelte blutrot in der Sonne. Furchtsam wichen die Menschen zurück. Die Aussicht, dass eine Menschenfrau einmal sein Kind unter dem Herzen tragen würde, machte ihn nicht gerade zu einem Freund der Menschen. Er wollte lieber ausreichenden Abstand zu ihnen wahren.

      Gaya nahm die Hände vom Gesicht. Sie schien um Jahre gealtert und ihre Augen blickten traurig. Das war ein Ausdruck, den man selten bei ihr sah. „Herrin, was ist mit Euch“, erkundigte sich Fraya besorgt. „Wie konnte ich nur der Zwietracht erlauben, je wieder in diese Welt zu kommen“, rief sie, zornig über sich selbst, aus. „Das führt zu Unfrieden zwischen den Menschen. Und Unfrieden bedeutet Krieg! … Martan!“ Ein Gott mit einem ovalen strengen Gesicht trat vor Gaya hin. Das lange braune Haar trug er in einem kunstvoll geflochtenen Zopf. Seine freundlichen braunen Augen wurden von kräftigen Augenbrauen beschattet. Er hatte einen schmalen Mund und eine kräftige Nase. Martan war ein wahres Kraftpaket. Gedrungener gebaut als Thore, aber genauso stark und muskulös. „Du wirst zwei Gegensätze in dir vereinen“, bestimmte Gaya. „Du bist von nun an der Gott des Krieges und der Fruchtbarkeit. Stehe den Starken in ihren Kriegen bei und führe sie zum Sieg. Aber sorge anschließend dafür, dass die zerstörten Felder schnell wieder fruchtbar werden. Lasse die Frauen viele Kinder bekommen, damit es nie dazu kommt, dass sie sich gegenseitig ausrotten.“ Gaya reichte Martan ein goldenes Schwert und einen Ährenkranz aus Silber. Zögernd nahm er die Attribute seiner Aufgabe entgegen und verneigte sich.

      „Erlaubt Ihr mir eine Frage, Herrin?“ Gespannt sah er die mächtige Göttin an. Gaya hob erstaunt die Augenbrauen, dann nickte sie gnädig „Warum sind Euch die Menschen so wichtig. Warum beauftragt Ihr uns, so viel für sie zu tun? Wir sind doch Götter wie Ihr!“ „Götter wie ich?“, fuhr Gaya auf. Im nächsten Augenblick verwandelte sie sich in einen riesigen grellbunten Wirbel, der sich in rasender Geschwindigkeit um seine eigene Achse drehte und Menschen und Götter gleichermaßen mit sich fortriss. Immer schneller drehte sich der Wirbel und das Land unter ihren Füßen löste sich auf. Er zog sie immer weiter mit sich in die Höhe, bis um sie herum nichts weiter war als grenzenlose Schwärze. Schwerelos schwebten sie dahin. Es gab kein Oben und kein Unten. „Ich bin Gaya!“, hörten sie ihre dröhnende Stimme, sehen konnten sie sie nicht. „Ich bin das Nichts, aus dem alles entstand und in das alles vergeht, wenn das Ende gekommen ist!“, verkündete sie unheilvoll. „Nichts und niemand ist wie ich!“

      Urplötzlich löste sich die Spirale wieder auf und die Götter standen allein mit Gaya am Fuß des Götterberges in Amesia. Die Menschen waren verschwunden. „Meine Kinder! Ihr glaubt, ihr seid wie ich? Ihr glaubt, ihr seid unsterblich?“, fragte sie spöttisch. „Wenn du von einer Aarusschlange in den Hals gebissen wirst … dann bist du tot!“ Mit dem Zeigefinger tippte sie Dioran an. Es war nur eine kleine Bewegung, und doch ging der kräftig gebaute Gott zu Boden. „Wenn dir ein anderer Gott das Herz aus dem Leibe reißt und in einem Feuer verbrennt … dann bist du tot.“ Mit einem Plumps landete Woldan neben Dioran. „Aber wenn es keine Menschen mehr gibt, wenn sie aufhören, an euch zu glauben und euch nicht mehr anbeten … dann, meine Kinder, dann ereilt euch der wahre Tod! Nichts und niemand kann euch dann noch retten, nicht einmal ich! Also achtet gut auf sie und sorgt dafür, dass sie euch niemals vergessen!“ „Das werden wir!“, versprachen die Götter im Chor. „Gut!“ Gaya nickte zufrieden. „Dann macht euch jetzt an die Arbeit! Und beeilt euch. Die Menschen werden in Osiat, so wie es jetzt ist, nicht lange überleben können!“ Eilig liefen die Götter davon.

      „Fraya, Thore! Auf ein Wort!“, befahl sie dem neu gekrönten Herrscherpaar. „Ihr seid jetzt nicht nur die obersten Götter in Amesia, sondern auch die Beschützer der Menschen. Beschützt sie vor allem vor der Schwarzen Magie, die in Estosia wohnt. Sie sind wie Yuron und Eyrin. Sie sind jetzt eure Kinder, wie ihr die Meinen seid.“ Thore schnaubte. „Sollen sie vielleicht auch noch in Amesia wohnen dürfen, diese … Menschen?“ „Ich weiß, du magst sie nicht. Noch nicht …“, sagte Gaya nachsichtig zu Thore. „Ihr werdet Amesia weiterhin für Euch haben. Ich habe die Welt der Götter mit einem magischen Nebel umgeben, den nur ihr durchqueren könnt … oder diejenigen, denen ihr erlaubt, nach Amesia zu kommen“, fügte sie schelmisch hinzu. „Wer sollte das sein?“, knurrte Thore. „Du wirst schon sehen“, antwortete Gaya geheimnisvoll. Dann maß sie Fraya mit einem langen Blick. „Du hast eine wunderbare Gabe, Fraya. Du kannst Wunden heilen und anderen den Schmerz nehmen, nur mir kannst du nicht helfen“, sagte sie leise. „Die Wunden dieser Welt sind meine Wunden. Wenn aus Gedankenlosigkeit ganze Landstriche zerstört werden, spüre ich ihren Schmerz. … Wenn Habsucht und Gier die Welt regieren, spüre ich ihren Schmerz. … Wenn jemandem aus Grausamkeit ein Leid geschieht, spüre ich seinen Schmerz. … Das ist der Grund, weshalb ihr mich oft über so lange Zeit nicht zu Gesicht bekommt. Ich ziehe mich auf meine Insel zurück, die so weit von hier entfernt ist, dass ich den Schmerz ertragen kann. Dort kann ich schlafen und mich ausruhen, bis mich wieder irgendeine Torheit meiner Kinder hierher zurückruft.“ „Herrin,