den vollen breiten Lippen unter der schmalen, wenn auch etwas zu langen Nase, waren sie und ihre Zwillingsschwester Aurina die unumstritten schönsten Göttinnen. „Nein, meine Schöne! Die Göttinnen bleiben ohne Nachkommen!“, antwortete Gaya mit einem bösen Lächeln. „Aber ich verspreche dir, es werden sich genug stattliche Männer für deinen Spaß finden. Du wirst nicht leer ausgehen.“ Lysina lag eine heftige Erwiderung auf der Zunge. Aurina hielt ihre sterngeborene Schwester zurück. „Lysina, glaubst du etwa, dass Gaya nicht weiß, dass wir niemals Kinder haben wollten?“ Betroffen schwieg Lysina. Mit ihren goldenen Augen bat Aurina Gaya um Vergebung für ihre Schwester. Gaya nickte gnädig und wandte sich an den blauhaarigen Gott.
„Watan, du bist von nun an der Gott des Wassers, der Meere, Seen und Flüsse! Sorge dafür, dass das Wasser schnell wieder klar wird, damit Mensch und Tier ihren Durst stillen können und bald wieder Fische in den Seen, Meeren und Flüssen leben können!“ Mit diesen Worten überreichte sie ihm einen bläulich-grünen Stein in der Größe eines Kinderkopfes, aus dem klares Wasser lief. Watan verneigte sich vor Gaya und versprach, sich sofort an die Arbeit zu machen.
„Woldan, du wirst der Gott des Waldes und der Jagd“, bestimmte sie. „Lasse Wälder entstehen, wo es jetzt nur Ödnis gibt und fülle sie mit Wild. Sei den Menschen bei der Jagd hold, auf dass sie nie wieder Hunger leiden müssen.“ „Das verspreche ich!“, antwortete Woldan ernst und griff nach dem goldenen Bogen, dem Köcher mit den Pfeilen und dem silbernen Jagdhorn, die Gaya für ihn bereithielt. „Dioran! Du bist der Gott der Felsen, der Steinmetze und der Bildhauerkunst! Bringe den Menschen bei, wie sie den Stein bearbeiten müssen, um sich Häuser bauen zu können. Dann müssen sie nicht mehr nach Höhlen suchen, in denen sie hausen können. Später kannst du die Fähigsten von ihnen in der Bildhauerkunst unterweisen, damit auch sie ihre Bauwerke nach ihrem Geschmack verschönern können.“ Damit übergab sie Dioran einen gewaltigen Hammer und einen Meißel.
„Aurina und Lysina! Ihr werdet die Göttinnen der Morgenröte und der Abendröte. Mit den Farben, die ihr an den Himmel malt, werdet ihr die Menschen zu Beginn ihres Tagwerkes erfreuen und am Abend für ihren Fleiß belohnen!“ Als Attribut für ihre Aufgabe übergab sie jeder der Schwestern einen goldenen Pinsel. Der Griff des Pinsels von Aurina war mit einer Sonne verziert, der von Lysinas Pinsel mit einer Mondsichel.
Gaya wandte sich an einen stillen Gott mit einer kräftigen breiten Brust, muskulösen Armen und kurzen Beinen. Er hatte eine olivfarbene Haut und ein grobes Gesicht. Sein kurzes schwarzes kräftiges Haar stand wirr von seinem Kopf ab. Sein Mund mit den wulstigen Lippen war fast immer geschlossen, er lächelte sehr selten, ein Lachen hatte noch niemand bei ihm gesehen. Seine aufmerksamen schwarzen Augen wurden von zwei geraden buschigen Augenbrauen beschattet. Sein ohnehin nicht sehr ansehnliches Gesicht zierte eine breite Knollennase. „Burno! Du bist ab heute der Gott des Feuers und der Schmiedekunst! Lehre die Menschen, das Feuer zu beherrschen und bringe ihnen die Wärme in ihre Häuser! Zeige ihnen, wie sie Eisen, Stahl, Kupfer, Gold und Silber bearbeiten müssen, damit sie es zu ihrem Nutzen verwenden können. Wirst du das für mich tun?“, fragte Gaya, der Burno in seiner Hässlichkeit leidtat. Sie wusste, wie oft er Ziel des Spotts der anderen Götter gewesen war. Sie hatte ihre Aufgabe an ihn als Frage formuliert, weil sie gesehen hatte, dass er als einziger der Beteiligten tiefes Bedauern über die Zerstörung Osiats empfand. „Herrin! Ihr ehrt mich!“, antwortete Burno mit tiefer kehliger Stimme. Gaya lächelte und übergab ihm eine brennende Fackel und einen schweren Schmiedehammer.
„Bodina, Tochter des Windes!“ Eine flachbrüstige Göttin, mit ihrem kurzen weißblonden Haar und der schlanken Gestalt einem Knaben viel ähnlicher als einer Frau, verneigte sich vor der Urmutter. „Du wirst die Götterbotin. Es gibt niemanden, der schneller als du die Nachrichten der Götter überbringen kann.“ Als Zeichen der ihr zugedachten Aufgabe erhielt Bodina ein Paar Schwanenflügel. „Du wirst der Gott der Weisheit und Schriftkunst“, sagte sie zu Witan, dem Gott mit dem langen blauschwarzen Haar. „Schenke den Menschen das geschriebene Wort, damit sie an ihre Nachfahren weitergeben können, was sie gelernt haben. Gib ihnen die Weisheit zu erkennen, was richtig und falsch ist!“ Mit diesen Worten reichte ihm Gaya eine Rolle Pergament und eine goldene Schreibfeder. Witans schwarze Augen leuchteten vor Freude und Stolz, als er sich vor ihr dankbar verneigte.
„Idalia!“ Nachdenklich blieb Gaya vor einer zierlichen Göttin stehen. Idalia lächelte verlegen. Sie lächelte immer, war immer lustig, Trauer schien sie nicht zu kennen. Am liebsten sang sie mit einer engelsgleichen Stimme oder malte ein Bild in den Sand, um es sofort wieder zu zerstören, damit sie ein Neues malen konnte. „Du kannst nichts anderes sein, als die Göttin der schönen Künste. Singe, male, tanze für die Menschen. Nimm dir so viele Schülerinnen und Schüler von ihnen, wie du magst. Bringe die Freude an schönen Dingen in ihre Herzen.“ „Das werde ich!“, versicherte Idalia und nahm eine goldene Leier aus den Händen Gayas entgegen.
In Thore machten sich zunehmend Sorge und Unmut breit. Seine Blicke, die er den verschüchterten Menschen zuwarf, wurden immer finsterer. Gaya hatte bei allen Aufgaben, die sie an die Götter verteilt hatte, die Menschen in den Vordergrund gestellt. Die Götter hatten ihnen den Lebensraum zu bereiten, ihre Lehrer zu sein oder sie zu erfreuen. Die Vorstellung, dass er, seine Frau und seine Söhne auch in den Dienst der Menschen gestellt werden sollten, missfiel ihm unübersehbar. Fraya versuchte, ihn mit einem Händedruck zu beruhigen, was ihr diesmal nicht besonders gut gelang. Sie spürte, dass Thore mühsam um Beherrschung rang, als sich Gaya an Eyrin wandte. „Eyrin! So jung … So unschuldig …“, sagte sie sanft zu ihm. Eyrin sah sie trotzig an. Er war zwar erst vor zwei Tagen geboren worden, doch war er schon vollkommen erwachsen. Bereits zwei Stunden nach seiner Geburt glich er einem zehnjährigen Knaben, konnte sprechen, laufen und reiten. Nach weiteren sechs Stunden war er so groß wie sein Bruder und konnte genauso gut lesen und schreiben wie er. An seinem zweiten Lebenstag hatten ihn Eltern und Bruder in Amesia herumgeführt und ihm alles über die Geschichte dieses einzigartigen Ortes und seine Bewohner erzählt, bis sie von Gaya gerufen worden waren. Yuron trat einen Schritt auf seinen jüngeren Bruder zu und legte ihm schützend die Hand auf die Schulter. Eine Geste, die Gaya sehr wohl wahrnahm und mit einem Lächeln bedachte. „Nimm dieses Schwert!“, sagte sie und reichte Eyrin ein flammendes Schwert. Vorsichtig griff er danach. „Mit diesem Schwert wirst du alle verteidigen, die so sind wie du. Die Unschuldigen, die Ungeküssten, die Jungfrauen! Eile zu ihnen, wann immer sie dich um deine Hilfe anflehen.“ Staunend betrachtet Eyrin die golden schimmernde, gezackte und von kleinen Flammen umgebene Schneide des Schwertes. „Du musst noch lernen, wie man ein Schwert führt!“, fuhr sie fort. „Yuron, das ist deine Aufgabe! Lehre ihn die Kunst des Schwertkampfes! Du wirst von nun an seiner Seite bleiben. Du wirst die Unschuldigen schützen und die Schuldigen verurteilen. Als oberster Richter der Götter wirst du blind sein …“ „Nein!“ riefen Thore und Fraya wie aus einem Mund. Fraya fiel vor der Urmutter auf die Knie. „Herrin, bitte nicht das! Nehmt meinem Sohn nicht sein Augenlicht!“, flehte sie mit Tränen in den Augen. „Haltet ihr mich etwa für grausam?“, fragte Gaya scharf. Jeder der anwesenden Götter hätte diese Frage bedenkenlos mit „Ja“ beantwortet. Doch keiner hielt es für ratsam, einen Ton zu sagen. Yuron stand bleich vor Gaya und wagte kaum zu atmen. „Du musst keine Angst haben“, richtete sie sich wieder an Thores Sohn. „Du wirst nur während der Verhandlung blind sein. Du wirst Kläger und Beklagten anhören, die Worte ohne Ansehen der Person abwägen und danach dein Urteil fällen. Doch es wird nur wenige Verbrechen geben, die schwerwiegend genug sein werden, um von dir gerichtet zu werden. Hast du dein Urteil gesprochen, erhältst du dein Augenlicht wieder. Aber sei gewarnt! Fällst du ein ungerechtes Urteil, wirst du für immer blind bleiben!“ In Thores Gesicht arbeitete es heftig und Fraya lief eine Träne über die Wange, als Yuron die Augenbinde aus schneeweißer Seide von Gaya entgegennahm. Noch bevor er etwas sagen konnte, befahl die alte Göttin streng: „Thore, knie nieder!“ Widerstrebend beugte er das Knie vor ihr. Fraya, die immer noch vor Gaya kniete, warf Thore einen erschrockenen Blick zu. „Thore, du bist stark, mutig und ehrlich. In den letzten fünftausend Jahren hast du bewiesen, dass dein Wort von deinen Brüdern und Schwestern gehört wird“, sagte Gaya, während sie Thore die Hand auf sein volles dunkelblondes Haar legte. Der sah sie fragend mit seinen stahlblauen Augen an. „Fraya! Du bist sanft, klug und gerecht. Du bist bewandert in den Heilkünsten und kannst damit viel Gutes bewirken“, fuhr sie fort, ohne auf