Mo. Moser

Schattenkind


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nicht das da noch jemand reinfällt.“ „Wer soll da denn reinfallen?“ Wunderte sich Henry. Schließlich war das Loch nicht mitten am Boden, sondern eher an der Felswand. „Na ja, was weiß ich, vielleicht kleine Kinder, die hier raufkommen zum Spielen.“ „Na von mir aus“, gab Henry schließlich widerwillig nach. Vorsichtig stellte Jim seinen Rucksack neben dem Baum, und nachdem sie das Seil gelöst und aufgewickelt hatten, wuchteten sie den abgespaltenen Felsblock wieder vor den Höhleneingang. Seltsamerweise kam er ihnen jetzt gar nicht mehr so schwer vor. So behutsam wie möglich packte Jim das Seil wieder in den Rucksack, wobei er Henry leicht den Rücken zudrehte, damit dieser nicht hineinsehen konnte. Am liebsten hätte er das Seil in der Hand getragen, doch das wäre Henry aufgefallen, denn er war alles andere als dumm. Als Henry ihn beim zurücklaufen tröstete, weil sie nichts gefunden hatten, konnte er ihm kaum in die Augen schauen. Andererseits sagte er sich, dass er jeden Schatz der Welt mit Henry teilen würde, nur dass da eben keiner war. Zumindest keiner, wie ihn sich Henry vorstellte und eines Tages (eines fernen Tages) würde er es ihm erzählen. Ja, ganz sicher. Aber er konnte ihn drehen wie er wollte, der Bonbon schmeckte bitter.

      Den restlichen Nachmittag mit Henry zu verbringen, während sein Rucksack, wenn auch gut versteckt, in einer hohlen Wurzel in der Nähe ihres Hauses lag, war für Jim die reinste Geduldsprobe, und selbst als er gegangen war, musste er noch warten bis sein Vater sein zweites Bier intus hatte und seine Mutter ein neues Kleidchen für eine ihrer Töchter anfertigte, bevor er unbemerkt nach draußen konnte. Als er sich dem Rucksack näherte, hatte er ein eigenartiges Gefühl, als ob ihn ein Schatten verfolgt und als er ihn herausnahm, fegte ein kurzer Windstoß durch seine Haare, der ihn frösteln ließ. Was war nur mit ihm los. Kaum das Henry fort war, fingen seine Nerven an La Paloma zu spielen. Nur ein Windstoß, wie er ihn schon tausendmal erlebt hatte, und schon bekam er eine Gänsehaut. Andererseits hatte er ja auch nicht irgendetwas in seinem Rucksack. Vorsichtig schlüpfte er in den Riemen und hängte ihn sich über die Schulter. Als erstes brachte er das Seil zurück in ihren angebauten Holzschuppen. Dann ging er zurück ins Haus, schlich sich auf sein Zimmer und verschloss die Tür. Das war der Moment, auf den er den ganzen Tag gewartet hatte. Er war mit ihm allein. Gefühlvoll wie ein Archäologe, der eine zweitausend Jahre alte Tonscherbe gefunden hat, stellte er ihn auf seinen Schreibtisch. Der Größe nach schätzte er, war es eindeutig ein Kind gewesen das jünger als er war, auch wenn sich das nicht mit Sicherheit sagen ließ. Der Schädel an sich war in einem erstaunlich gutem Zustand, nur auf der rechten hinteren Seite, hatte er einen deutlich erkennbaren Riss. Feine Linien, wie die Naht eines Hemdes, zogen sich an der Schädeldecke entlang und sogar die Zähne waren vollständig erhalten. Beinahe zärtlich streichelte er über den Totenkopf und fuhr mit dem Finger die feinen Linien nach. Das war nicht irgendein altes Fossil, so wie ein Dinosaurierknochen, oder eine versteinerte Muschel, - das war einmal ein Mensch. Jim wurde von einer tiefen Ehrfurcht ergriffen. Er fragte sich, wie er wohl gelebt hat, was er wohl gespielt hat, wie er in echt aussah und wie er letztendlich dort hinkam, wo er ihn gefunden hatte. Er beschloss ihn zukünftig in einem Schuhkarton, oder zumindest so etwas ähnlichen, weit oben auf seinem Kleiderschrank zu verstecken, wo seine Mutter eh nicht nachschauen würde, doch in dieser Nacht wollte er ihn in seiner Nähe haben. Er wollte ihn anschauen können. Wissen das er da war. Er räumte seinen Nachttischschrank ab, legte ein sauberes T Shirt darüber und platzierte ihn genau in der Mitte. Als er sich schlafen legte, schaute er ihn noch lange an, während das fahle Mondlicht darauf fiel und der feine Sand darauf glitzerte wie Sternenstaub.

      5. Nächtlicher Besuch.

      Als ihm vor Müdigkeit die Augen zufielen, wünschte er ihm noch eine gute Nacht, bevor er endgültig einschlief. Jim wollte wieder in den Rosengarten zurück, wo er mit dem Jungen gespielt hat, doch sein Vorhaben wollte nicht so recht gelingen. Stattdessen irrte er durch dunkle Gänge und suchte nach einem Ausgang. Irgendwann landete er in einem gräulich gemauerten Raum und als er sich umdrehte, stellte er fest, dass er komplett von Mauern umgeben war. Er hämmerte gegen die Steine, bekam Panik und schrie man solle ihn rauslassen. Er schwitzte und bekam immer weniger Luft. Er konnte schon die blutigen Abdrücke seiner zur Faust geballten Hände an der Wand erkennen und dennoch schlug er immer stärker darauf ein, bis der erste Stein krachend nachgab und die ganze Mauer vor ihm einstürzte. Er lief nach draußen, wo wie in einem Kriegsfilm alles rauchte und durch eine nach verbrannter Erde riechende Trümmerlandschaft. Er lief an eingestürzten Ruinen vorbei und landete schließlich an einer großen, verwitterten Mauer, die er seitlich entlang lief, bis er an ein schmiedeeisernes Tor kam. Durch seine Gitterstäbe hindurch erkannte er dahinter den Rosengarten. Er war in einem schrecklichen Zustand. Die Rosen waren schwarz und ihre Köpfe hingen zu Boden. Das Gras war kaum noch grün, und die Engel grau und verwittert. Er stolperte mehr hinein als das er lief. Ganz nebenbei stellte er fest, dass es stark regnete, als er überall nach dem Jungen suchte, um den er sich mittlerweile große Sorgen machte. Er kam sich vor wie in einem Labyrinth aus Büschen und Rosen und als er auf eine etwas freiere Fläche kam, fing auf einmal die Erde an zu beben. Er fiel der Länge nach hin und plötzlich kippte der ganze Boden in einem neunzig Grad Winkel nach unten. Er krallte sich mit seinen Händen ins feuchte Gras, um nicht abzurutschen, doch der Regen, der immer stärker wurde, ließ das Wasser nur so an ihm vorbei fließen, bis es ihn wie ein reißender Fluss umspülte und er schließlich den Halt verlor. Er schlitterte die glitschige Wiese hinab und an verschiedenen Rosenbüschen vorbei. Als er dabei nach unten sah, bemerkte er, dass er auf einen schwarzen, bodenlosen Abgrund zuraste. Als hätte man die Welt wie einen Keks auseinander gebrochen, endete die Wiese im Nichts. Er konnte sich gerade noch an einem Ast festhalten, als seine Beine bereits ins Leere schossen. Ein explodierender Schmerz machte sich in seinen Armen breit und durchzog seine Schultergelenke, während seine Beine hilflos über dem Abgrund baumelten, wo sich das Wasser in die Unendlichkeit ergoss. Er spürte immer mehr, wie er am glitschigen Ast an Halt verlor, rutschte schließlich ganz ab, und krallte sich noch einmal panisch am Rand fest, an dem sich senkrecht unter ihm, nur getrennt durch eine dünne Schicht Erde das Weltall befand, mit seinen unzähligen Sternen. Er hätte schreien können, als er sich nicht mehr halten konnte und los ließ, doch wer sollte ihn hier schon hören. Niemand hört dich. Vernahm Jim eine traurige Stimme. Niemand…Röslein, Röslein, Röslein rot, Röslein auf der Heide.

      Als Jim aufwachte, hatte er immer noch diese traurige Stimme im Kopf, aber immerhin war er sicher in seinem Bett gelandet. Er rieb sich die Schläfen und starrte verwundert an die Decke. Wie hell sie leuchtete. Er schaute aus dem Fenster, doch es war immer noch dunkel. Sein Blick wanderte hinüber zu seinem Nachttisch mit dem Totenkopf und weiter nach unten zu seinem Schreibtisch, wo er mit erstaunlicher Ruhe zur Kenntnis nahm, dass dort ein Geist saß. Der Zustand dauerte ungefähr eine Sekunde, dann saß er kerzengerade im Bett. In einem Film hätte jetzt irgendjemand laut geschrien, doch Jim hätte noch nicht einmal ein Keuchen herausgebracht. Starr und gebannt starrte er auf den kleinen Jungen der am Schreibtisch saß. Er bestand eher aus weißlich, bläulichem Licht, und dennoch waren seine Konturen so deutlich zu erkennen, als würde ein echter Junge dort sitzen. Er trug ein dünnes T Shirt, kurze Hosen und einfache, schlichte Schuhe. Jim fand, er hatte das Gesicht eines Engels. Er lag etwas Trauriges darin, doch auch gleichzeitig etwas schwer zu beschreibendes, überirdisch Schönes. Selbst wenn Jim jetzt etwas hätte sagen wollen, seine Kehle war wie zugeschnürt. Mit einer auffallend langsamen Bewegung, zeigte der Junge auf den Totenkopf und dann wieder auf sich. Jims feine Nackenhärchen richteten sich auf und gleichzeitig hatte er das Gefühl, ein riesiger Eiswürfel würde seinem Rücken hinunter gleiten. Es kam ihm Ewig vor, bevor er etwas sagen konnte. „Bist das du?“ Kaum hatte er es ausgesprochen, kam ihm seine Frage auch schon unglaublich dämlich vor, aber irgendetwas musste er ja sagen. Erneut hatte Jim den Eindruck, als würde sich der Junge in Zeitlupe bewegen und die Zeit für ihn langsamer ablaufen als für den Rest der Welt, als er nickte. Als würde er sich in einem anderen Universum befinden, in dem die Gesetze unserer Natur nichts gelten, oder er sich erst langsam wieder daran anpassen müsste. Jim versuchte einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen, doch seine überschäumenden Gefühle, blockierten nahezu jede rationale Überlegung seines Geistes. Als würde er das Ende eines Regenbogens suchen und es wäre verschwunden, sobald er dort ankam. Schließlich, als würde es nicht reichen, gesellte sich auch noch ein immenses Schuldgefühl hinzu, als hätte er einen heiligen Tempel entweiht und noch schlimmer; beraubt, und das führte schließlich zu seiner nächsten Frage.