Martin Scherbakov

Ein russisches Wintermärchen


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sie für kurze Zeit die grellen Sonnenstrahlen. Nach ein paar Sekunden konnte Paula wieder normal den Roten Platz und die umliegenden Gebäude sehen. Als erstes sah sie das direkt ihr gegenüberliegenden GUM, das russische Pendant zu der Galerie Lafayette, danach richtete sich ihr Blick auf die Basilius Kathedrale mit ihren vielen, bunten Kuppeln und schließlich auf den Spasskaya Turm, den bekanntesten unter den Kremltürmen. Sie wollte sich schon fast umdrehen und Petrov folgen, der gerade in die Richtung des russischen Nationalmuseums ging, doch da sah sie eine Person, die sie glaubte irgendwoher zu kennen. Sie schaute genauer hin. Das Gesicht ihrer Zielperson wurde von einem großen, aufgeklappten Zeitungsblatt überdeckt.

      „Diesen Pelzmantel kenn ich doch!“ dachte sich Paula

      „Das ist doch Opas!“

      In dem Moment begann sie sich langsam an die Kurznachricht zu erinnern, die sie an Alfred am Vorabend abschickte. Da blickte sie flüchtig auf ihre Uhr – beide Zeiger waren auf der Zahl 12. Vor kurzem erst schlugen die Kreml Glocken zwölf! Paula schmiss im nächsten Moment alle ihre Fantasien über Alfreds Dasein in Moskau zur Seite und drehte sich sogar um, sie wollte schon losrennen, um ihren Guide durch die russische Hauptstadt einzuholen, doch da siegte die Neugier in ihr. Sie drehte sich wieder um und näherte sich mit großen Schritten dem Mann mit der Zeitung. Je näher Paula an die Person im Pelzmantel kam, desto mehr und mehr ähnelten die Figur und der Mantel ihrem Opa. Sie näherte sich der Person schon auf fast fünf Schritte, da ließ diese die Zeitung runter und Paula konnte das Gesicht nun erblicken.

      „Paula! Du bist nicht pünktlich. Es ist schon drei nach zwölf. Ich steh hier schon drei Minuten und warte auf dich! Wohin ist deine deutsche Pünktlichkeit?“ schimpfte, tatsächlich Paulas Opa, spaßhaft.

      Schon zum zweiten Mal am Tag wuchs das bayerische Mädel mit dem russischen Boden fest zusammen. Sie konnte sich nicht vom Fleck bewegen und blickte Alfred nur mit solchen Augen an, sodass man Angst bekam, sie würden gleich aus Paulas Kopf herausfallen.

      „Paulachen, meine liebe Enkelin, sprich doch mit mir!“

      Paula konnte nicht einmal an das Reden denken, ihr Hals verwandelte sich in eine Wüste. Sie schaffte es nicht mal, ein einziges Wort aus sich herauszupressen, von einem zusammenhängenden und einen Sinn ergebenden Satz konnte in diesem Augenblick also absolut keine Rede sein. Erst nachdem sie sich gesammelt hatte und den sich in ihrem Mund angesammelten Speichel schluckte, konnte sie Alfred fragen:

      „Opa! Wie hast du es geschafft?“ Womöglich traute Paula in dem Moment ihren Augen immer noch nicht, deshalb schloss sie für kurze Zeit ihre Augen und schüttelte ihren Kopf hin und her. Alfred stand danach jedoch immer noch vor ihr.

      „Ganz einfach! In Stockholm stieg ich in die Boeing nach Moskau anstatt in den Airbus nach Stuttgart!“

      Ehe Paula ihrem Opa noch weitere Fragen stellen konnte, eilte auch schon Petrov nach, der schon aus der Ferne die aus den zahlreichen Erzählungen Paulas ihm gut bekannte Persönlichkeit identifizieren konnte:

      „Einen guten Tag Herr…?“ begrüßte Petrov Paulas Großvater und gab ihm seine Hand.

      „Alfred Herbstschnitzler! Und Sie sind?“

      „Herr Herbstschnitzel! Ich freue mich sehr, sie endlich kennenlernen zu dürfen! Paula hat mir schon viel über Sie erzählt! Und von ihrer einmaligen Nordamerika-Rundreise! Ich bin Detektiv Petrov, Paulas persönlicher Kriminalist!“

      „Herr Herbstschnitzler bitte!“ Alfreds Gesichtsausdruck wurde etwas strenger.

      „Entschuldigen sie mich bitte, Herr“, Petrov holte tief Luft, „Herbstschnitzler! An meiner Aussprache muss ich noch ein wenig feilen! Und gibt es einen bestimmten Grund, wieso sie Moskau besuchen? Wollten sie vielleicht ihre Enkelin sehen? Oder ist es nur ein spontaner Kurzstädtetrip?“

      „Natürlich kein spontaner Kurztrip! – Alfred spielte, als wäre er empört – Ich bin hier um Paula zu helfen, ihre große Liebe zu finden!“

      „Opa! – Paula gefiel Alfreds letzte Replik anscheinend nicht – Er ist nur mein guter Freund!“

      „Ja, ja, – grinste Alfred – dann halt nur Freund!“

      „War es ihre persönliche Initiative, ihre Enkelin zu unterstützen? Eine große Tat in ihrem Alter!“ Petrovs Stimme klang verwundert.

      „Nein, nein, ganz im Gegenteil! – Alfred klopfte Paula an den Rücken – Paulienchen bat mich darum!“

      „Opa!“ Paula klang sehr streng.

      „Ja, ja, ich weiß, ich soll dich nicht so nennen! Aber der Spitzname ist so schön!“

      In diesem Moment blickte Petrov Paula verurteilend an, sein Kopf bewegte sich hin und her. Er teilte ihr so mit, sie hätte einen großen Fehler begangen.

      „Und haben sie schon einen Plan?“ Petrov blieb optimistisch.

      „Ja klar, ich war vorhin im Gewährladen, und dort habe ich für uns eine gute Flinte reserviert!“

      „Eine Flinte? – auch Petrov begrub nun seinen Optimismus – Aber wofür?“

      „Ist doch selbstverständlich! Um Banditen abzuknallen, die Niko entführten!“

      „Er heißt Nuko!“ sprach Paula genervt.

      „Niko, Nuko, ist doch fast alles dasselbe!“ Alfred blieb in seinem Repertoire.

      Petrov wollte den absurden Dialog schnellstmöglich beenden, deshalb setzte er seinen Joker ein:

      „Herr Herbstschnitzler! Solche Gespräche lassen sich viel besser mit einem Glas russischen Nationalgetränkes in der Hand führen!“

      Alfred verstand sofort, was Petrov damit meinte.

      „Eine gute Idee!“ sprach Paulas Großvater, und der Trupp begab sich auf den Weg zur Metro.

      Komischerweise war auch um halb eins am Samstag die Moskauer U-Bahn ziemlich voll, sodass nur Alfred einen Sitzplatz bekam. Petrov stand etwas weiter weg, Paula hingegen direkt vor ihrem Opa. Sie musste ziemlich nah an sein Ohr herankommen, da sie einerseits nicht zu laut reden durfte, sonst könnte es ja Petrov hören, andererseits musste sie laut genug sprechen, um den viel zu hohen Geräuschpegel im Waggon zu übertreffen.

      „Seit wann heißt du eigentlich Herbstschnitzel irgendwas? Du hießt doch immer Hofer!“

      „Ich wollte diesen komischen Russen nur ein kleines bisschen ärgern!“

      „Nicht lustig!“ erwiderte Paula

      „Und du bist über 70, Opa, und willst Banditen abknallen?“

      „Endlich mal ein bisschen Spaß!“ antwortete Alfred.

      Paula stellte sich in dem Moment ihren Großvater in einem Schwarzenegger Film vor, wie er mit einer Kalaschnikow den einen Gauner nach dem Anderen abknalle und schließlich Nuko befreie. Sie musste kurz lächeln, wurde aber auch gleichzeitig traurig, denn sie musste wieder an Nuko denken. Emotionen überfluteten sofort ihre Gedanken, sie begann sich auszumalen, was in dem Moment jetzt mit Nuko sein könnte. Die dramatischste Szene, die sie in dem Moment als eine Art Kopfkino sah, war ein schwarzer Granitgrabstein mit der Aufschrift:

      Nuko

       * 01.02.1999

       † 05.02.2017

      Schnell wachte sie darauf aus ihrem Trance auf und schüttelte nur den Kopf, wie ihr so etwas überhaupt einfallen konnte.

      Im Eingang des märchenhaften Blockhauses blieb Alfred, sich dabei demonstrativ die Nase zuhaltend, vor dem Einstein Plakat stehen:

      „So eins hätte ich auch gern!“ kommentierte er.

      Als sich nun endlich alle um den Esstisch in der Küche von Petrovs Wohnung versammelten hatten, Petrov eine Flasche „Parlament“ aus dem Gefrierschrank holte, Alfred und sich selber das Dickflüssige aus der Flasche eingeschenkte, sie bereits anstoßen und die Gläser umkippten, begann Petrov zu erzählen, dabei schmackhaft in eine