Martin Scherbakov

Ein russisches Wintermärchen


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kher yego znayet! (~ was weiß der Teufel!) und ging wieder fort.

      „Was heißt das auf Deutsch?“ fragte Paula interessiert.

      „Ja, es bedeutet etwa, dass sie in ungefähr einem Monat die Maschine zum Laufen bringen werden!“ antwortete Petrov ohne Nachzudenken. Petrov bemühte sich darum, dass bei Paula nur gute Erinnerungen an ihren Russlandurlaub blieben.

      „Klang irgendwie bisschen anders!“ Paula war verunsichert.

      „Das ist so ein spezieller Moskauer Slang!“

      „Und was ist mit den 50 Rubeln, die ich in die Maschine hineingeworfen habe? Sie werden doch erstattet, oder?“

      „Wurden sie bereits!“ Petrov öffnete in dem Moment in seiner Manteltasche seine Geldbörse und griff ohne hinzuschauen nach einer 50 Rubel Münze.

      „Hier sind deine 50 Rubel!“

      Paula atmete erleichtert aus.

      Während ihrer Tour durch das Innere des Kremls sahen Petrov und Paula auch die „Zarenglocke“.

      „Interessant, wie die wohl geklungen haben mag!“

      „Paula, schau mal da hin, siehst du da denn Riss? Es war damals unmöglich, eine Glocke solcher Dimensionen zu gießen! Deshalb zerbrach die Zarenglocke direkt danach und hat somit nie geläutet!“

      „Hätte ich mir fast denken können!“ antwortete Paula.

      Die nächste Station bei ihrem Kreml Rundgang war die „Zarenkanone“.

      „Was schätzt du, wie weit konnte diese fünf Meter lange Kanone mal schießen?“ fragte Petrov seine Zuhörerin.

      „Ich schätze mal so einen guten Kilometer weit?“

      „Gar nicht!“

      „Wie jetzt?“

      „Hätte man aus einer Kanone solcher Dimensionen jemals eine Kugel abgefeuert, würde die Kanone bei dem allerersten Schuss explodieren! Wir sehen sie aber heute immer noch, und das bedeutet…?“

      „…Dass aus ihr noch nie geschossen wurde!“ meinte Paula.

      „100 Punkte!“

      „Wieso hat man dann eigentlich eine solche Kanone, die nicht mal dazu fähig war, zu schießen, gegossen?“ wollte Paula wissen.

      „Ja, das ist die Frage!“

      Anschließend, bei einem Spaziergang durch Moskaus Zentralbezirk, bemerkte Paula ein seltsames Banner, bestimmt in Billboardgröße, aufgespannt auf einer Häuserwand. Darauf abgebildet war ein Soldat mit Helm und einer Waffe in der Hand, daneben stand in großen roten Lettern:

      23. ФЕВРАЛЯ – ДЕНЬ ЗАЩИТНИКА ОТЕЧЕСТВА

      „Was ist das für ein merkwürdiger Feiertag, für den ein Soldat mit einer Waffe auf einem Werbeschild wirbt?“ wunderte sich Paula.

      „23. Februar – das ist doch der Tag des Verteidigers des Vaterlandes!“ antwortete ihr Petrov prompt.

      „Verteidiger des Vaterlandes? Ein Feiertag für die Armee?“

      „Was wundert dich denn so daran, Paula? Gefeiert werden an diesem Tag alle Männer, egal ob sie in der Armee sind oder nicht. Ein Paar Socken sind dabei ein Klassiker unter den Geschenken. Und dafür feiern am 8. März die Frauen und bekommen Blumen!“

      „Kann ich mir in Deutschland nicht vorstellen! Tag der Bundeswehr – bundesweiter deutscher Feiertag!“ spottete Paula.

      „Ihr habt doch den Muttertag, der übrigens in der NS-Zeit eingeführt worden ist, und den Vatertag, das ist doch schlussendlich ein und dasselbe! Der 23. Februar ist schließlich nicht der 9. Mai!“

      „9. Mai? Auch ein Feiertag?“ Paula begann nachzudenken, während Petrov sogar stehenblieb und seinen Kopf langsam zu Paula drehte, bevor er ihn verurteilend hin und her bewegte.

      „Wann war denn das Ende des Zweiten Weltkrieges, liebe Paula?“

      „Ehm, 1945?“

      „Und das soll eine Frage sein? Natürlich 1945, und zwar am 8. Mai mit der bedingungslosen Kapitulation des Dritten Reiches! Und deshalb feiert man in Russland am 9. Mai…“ Petrov wollte, dass Paula seinen Satz zuendeführte.

      „… den Tag der Trauer und Erinnerung an die vielen Gefallenen?“

      „Ach Paula, ich frag mich immer wieder aufs Neue, was ihr da eigentlich lernt, bei euch im Russischunterricht! Es geht doch nicht nur um die Sprache, es geht doch auch um die Kultur! – Petrov fasst sich an sein Nasenbein – 9. Mai ist natürlich der Tag des Sieges!“

      „Aber es gibt da doch nichts zu feiern, denn dieser Sieg kostete Millionen Menschen ihr Leben!“

      „Die Russen ticken da einfach etwas anders! Für sie war es, wenn auch ein sehr hart erkämpfter, Sieg über den Feind! Und darauf beruht die ganze hiesige Erinnerungskultur!“

      „Aber wie soll man sowas bloß feiern?“

      „Noch nie was von der Militärparade gehört? – Mittlerweile gingen die beiden über den Roten Platz – Am 9. Mai rollen hier vor dem Kreml die Panzer, darüber fliegen mit Donner die Luftstreitkräfte, der Himmel ist immer wolkenlos, da Wolken vorher weggesprüht werden. Veteranen tragen ihre Medaillen, oft sieht man dadurch nicht einmal ihre Kleidung und sogar Menschen in deinem Alter gehen zu diesen Menschen hin und bedanken sich bei denen!“

      „Für was?“

      „Für den Sieg natürlich! Es gibt zahlreiche Aufkleber mit der Aufschrift ‚Dank an Opa für den Sieg!‘ und Menschen singen auf der Straße Kriegslieder, auch im Radio sind sie zu hören! – Petrov legte eine kurze Pause ein – Aber jetzt ist genug gesprochen worden über die russischen Feiertage, lass uns jetzt die Mumie sehen!“

      „Vom ägyptischen Pharao? Habe ich schon! Bei der Tutanchamun-Austellung!“

      „Nein! Die Mumie von Onkel Lenin!“

      „Ach die! Die Mumie, die niemals in Ägypten war?“

      „Ja, genau die!“

      „Wer war Lenin eigentlich?“

      „Euer Geschichtslehrer ist auch nicht wirklich der beste der Welt!“

      „In der Tat nicht! Aber wer war jetzt Lenin, ich habe den Namen schon oft gehört, weiß aber immer noch nicht, wer es ist!“

      Petrov atmete schwer aus und sprach:

      „Er war ein Kommunist, ein Andersdenkender!“

      „Und weshalb ist er so berühmt?“

      „Er gilt als der Gründungsvater der Sowjetunion! Und wegen ihm wurden alle Familienmitglieder des russischen Zaren und er selbst erschossen!“

      „Das ist ja grausam!“ Paula hielt für einen kurzen Moment inne.

      „Und wieso liegt ein Verbrecher wie er eigentlich im Mausoleum?“

      „Nicht nur das! Während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bildeten sich tagtäglich wahnsinnige Warteschlangen auf dem Roten Platz. Tausende Menschen nahmen die manchmal über den ganzen Tag andauernden Wartezeiten in Kauf, um bloß einen kurzen Blick auf den großen Lenin zu erhaschen. Man könnte sagen, man verehrte ihn wie einen Gott, es war eine Art Kult!“

      „Kann ich mir in Deutschland kaum vorstellen! Wäre Hitlers Leib nicht am 30. April 1945 verbrannt, würde man sicherlich kein Mausoleum zu seinen Ehren errichten und noch wahrscheinlicher würde keiner kommen, um den großen Gründungsvater des Dritten Reiches zu verehren!“

      „In Deutschland wechselte nach 1945 die Macht, in der Sowjetunion nach Lenins Tod nicht!“ fügte Petrov abschließend hinzu. In Stille umrundeten sie die erst vor kurzem restaurierte Mumie des großen